Eine Wildgans im Wipfel von Bäumen

von Qiong Yao

 

1. Episode


Arthur Wang steht am Fenster. Sein Kopf lehnt bewegungslos an der Fensterscheibe.

Er hat keine Ahnung wie lange er dort schon steht. Sein Blick starrt geistesabwesend durch das Fenster hindurch in die Wolken am Himmel. Die Wolkendecke hängt tief und schwer. Ein Winterhimmel. Immer diese öde Stimmung, dieses verschwommene Grau. Aber: der Winter, diese Wolkendecke und dieser verhangene Himmel, spiegeln die seine Stimmung?

Ja! Schon morgens, kaum angekommen im Büro, nachdem ihm Julia Holt, seine Sekretärin, lapidar diesen Brief übergeben hatte, war seine Stimmung sofort durcheinander gewesen. Er fühlte sich wie ein Insekt im Winterschlaf, das plötzlich vom Stich einer spitzen Nadel brutal aufgeweckt wird und, noch schlafend, die tiefe Verletzung spürt und das tiefer, als es selbst gedacht hätte, sich krümmend und sich in sich selbst zurückziehend.

Dieser Brief, weißer Briefumschlag, blütenweißes Briefpapier mit goldenem Rand. In der Ecke des Briefpapieres gedruckt ein kleiner schwarzer Engel. Er hat noch nie einen solch eleganten Briefkopf gesehen. Im Brief nur wenige getippte Wörter:

„Arthur, ich bin in Taipeh, möchte dich 10.1. vormittags 11 Uhr sehen. Sybil“

10. Januar, vormittags 11 Uhr! Heute ist genau der 10. Januar. Dass dieser Brief genau heute Morgen ankommt, scheint gut geplant.

Er sieht auf die Uhr, was für ein Morgen, er kann sich nicht mehr erinnern das wievielte Mal er auf die Uhr schaut. 8 Minuten und 25 Sekunden nach 10 Uhr! Wartezeit – Wartezeit - Erwartungszeit. Immer schleppend und stagnierend! Erwartungsvoll? Ist er wirklich voll Erwartung? Hat er nicht viel mehr Lust wegzulaufen? Soll er weglaufen? Hat er dazu noch Zeit? Aber warum sollte er weglaufen? Gibt es da einen Grund vor ihr wegzulaufen? „Bitte wählen Sie das Gewünschte.“ Das hat er schon hundert Mal gehört, tausend Mal, zwanzig Tausend Mal ---- aber ein Mensch, der einfach überrumpelt wird. „Bitte wählen sie nach Wunsch.“

Er hatte geglaubt, sie in seinem Leben nie zu sehen, nie wieder Kontakt zu ihr zu haben, es gab keinen Anlass sie zu sehen. Aber jetzt, sang- und klanglos taucht sie auf.

Er hatte nicht nur keine Ahnung, dass sie kommt, er hatte auch nie ihre Adresse. „Bin in Taipeh“, einfach so. Wann ist sie in Taipeh angekommen? Der Abstand zwischen England und Taiwan ist endlos lang. Wenn das Flugzeug einen ganzen Tag braucht, ist das eine Reise  mit einem langen Weg. Sie kommt! Kommt sie allein? Aber ob sie nun allein kommt oder nicht, sie kommt auf jeden Fall.

Gleich sofort wird er ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen – „Bitte wählen Sie das Gewünschte“ – ein Mädchen, das ihm fremd geworden ist. Fremd? Fremd? Ist sie wirklich eine Fremde für ihn? Er starrt durch das Fenster auf den Nebelschleier aus Wolkenbergen.

Er weiß selbst schon nicht mehr, nach wie langer Zeit er aus diesen düsteren Gewässern wieder an der Oberfläche auftaucht. Plötzlich unterbricht jäh das Geräusch von Klopfen an der Tür die tiefe die Stille. Wie vom Donner gerührt wacht er auf. Sein Herz fängt an zu rasen, am ganzen Körper spannen sich seine Muskeln. Er hört seine eigene Stimme wie sie mit heiserem aber festen Klang sagt: „Herein!“

Die Tür öffnet sich. Er ist sicher und ihm ist klar, was er jetzt sehen wird. Seine Stimmung ist gut, seine angespannten Muskeln haben sich entspannt. Aber in der Tür steht keine fremde Frau, keine Sybil Ming, nicht ein aus Meerestiefen auferstandene Geist - - - sondern da steht lächelnd und aufgeräumt Julia Holt, die vor jugendlichem Schwung außer Atem ist. Sie ist für die Abteilung erst vor mehr als einem halben Jahr, gleich nach ihrem Universitätsabschluss, als Sekretärin eingestellt worden.

Sie hält einen großen Stapel Akten in der Hand. Nicht auf den Mund gefallen berichtet sie gleich: „Die Redaktion hat neue Bücherlisten für die in diesem Monat neu erschienen Bücher herausgebracht. Die Design-Abteilung hat für die beiden Bücher „Fang den Mond“ und „Der falsche Weg“ die Entwürfe für die Titelseiten fertig. Bitte sehen Sie sich das einmal an. Die Vertriebsabteilung sagt, dieses „Bergstadt Tagebuch“ war erst nach zwei Jahren ausverkauft. Sie fragen sich, ob es noch einmal erscheinen soll? Die Buchhaltung hat schon die Umsatzstatistik fertig. Der Verkaufsschlager für nächsten Monat ist dieses „Die Mimose ist nicht scheu “. In einem Monat sind davon vierzigtausend Exemplare verkauft worden! Die Werbeabteilung ...“

Hört man die Aufzählungen ihres Berichtes, scheint es, dass sie noch ein paar Hundert weitere Sachen hat, die sie nur noch nicht erzählt hat. Aber heute ist sein Kopf nicht frei für Buchtitel, auch nicht für Titelseiten und Einbände oder Erscheinungstermine! Er kann sich ihr Geplapper nicht merken, kann ihrem Bericht nicht folgen. Er stoppt sie mit erhobener Hand und sagt freundlich: „Danke! Die Sachen können Sie auf den Tisch legen. Ich werde sie mir nach und nach ansehen!“

Julia Holt legt die Akten auf den Tisch, sie wirft ihm einen tiefen Blick zu, wendet ihn schnell wieder weg und sagt verantwortungsbewusst mahnend: „Jede Abteilung drängelt, es ist brandeilig!!“

Brandeilig? Wie kann das alles so brandeilig sein? Unwillkürlich runzelt er die Stirn. Julia Holt dreht sich taktvoll um und geht zu Tür. Als sie an der geöffneten Tür steht, dreht sie plötzlich den Kopf zurück. Sehr schnell sagt sie:
„Da ist noch eine besonders wichtige Sache, Sie haben doch das Manuskript von „Der Schwarze Engel“ zu ende gelesen? Die Autorin hat heute angerufen und gedrängelt. Wenn Sie es nicht haben wollen, hofft sie, es ganz schnell zurück zu bekommen. Sie sagt, andere Autoren sind erschienen und sie hofft, dass Sie es nicht in den Papierkorb geworfen haben!“

Der Schwarze Engel! Ihm ist, als ob ein elektrisch geladener Blitz in seinen Kopf einschlägt. Der Schwarze Engel! Für dieses Manuskript, das ihm vom Verlag zugesandt worden war, hat er noch nicht einmal die Zeit gefunden, es durchzublättern. Jeder Schriftsteller hält sein Werk für das wichtigste. Er will nicht wissen, dass es eins unter Zigtausenden ist. Ein Rückstand von über einem halben Jahr von Manuskripten, die er noch nicht angerührt hat. Es gibt einfach zu viele. Nur, „Der Schwarze Engel“, ist dieser Titel wirklich so besonders? Warum ist ihm dieser Titel so vertraut? Plö

tzlich kommt ihm eine Ahnung: war da nicht was? Blitzschnell eilt er zum Tisch. Gehetzt blättert er eilig durch die Akten auf dem Tisch, Manuskripte, Entwürfe --- ängstlich fragt er: „Dieser „Schwarze Engel“ wo liegt der bloß?“

„Sie haben die Manuskripte in den Schrank gelegt“, sagt Julia Holt und geht zum Schrank. Sehr schnell hat sie das Manuskript herausgefunden und bringt es ihm. Er setzt sich auf den Stuhl vor dem Tisch. In höchster Eile zieht er das Manuskript aus der Hülle und sieht es an. Julia Holt ist leise hinausgegangen und genauso leise wieder ins Zimmer gekommen. Er hat sie überhaupt nicht bemerkt. Er hofft, dass er in dem Stapel Manuskripte einen Hinweis findet. Sehr durchschnittliches Manuskriptpapier. Jedes Fachgeschäft für Schreibwaren in Taiwan verkauft es. Auf dem Manuskript ist der Bewertungsbogen der Redaktion. Erst nachdem es drei unterschiedliche Personen beurteilt haben, bekommt er das Manuskript zur Entscheidung. Auf diesem Bewertungsbogen sind äußerst dicht die Eindrücke der drei Personen geschrieben. Er hat die Seite übersprungen. Er schaut auf den Titel, auf den Namen des Schriftstellers - - - Deep Dagger.

Deep Dagger – ein männlicher Schriftstellername oder ein Pseudonym? Ein ziemlich kämpferisch klingender Name, ein Name, den er noch nie gehört hat. Deep Dagger hat aber den Schwarzen Engel eingereicht, er schickt den Menschen gleich alles auf einmal: Pest, Krieg und Tod. Jetzt hat er die Seite gefunden. Auf dem Titelblatt liest er einige Sätze:

Wenn der Abendwind durch die Fenstergitter streicht Wenn der nächtliche Nebel die Erde umhüllt
Wenn der Mann verlassen einsam aufwacht
Steht der Schwarze Engel vorm Fenster und lächelt ihm zu.

Sein Blick bleibt an den Sätzen hängen, ohne zu wissen warum. Ein kalter Hauch kriecht seinen Rücken hoch. Für einige Sekunden ist er erschrocken. Diese Handschrift ist ihm so vertraut! So vertraut, dass es ihm Furcht einjagt. Schnell holt er den heute Morgen erhaltenen Brief heraus. Noch einmal zieht er den weißen goldumrandeten Briefkopf heraus. Er prüft jetzt bewusst den Briefkopf und die Handschrift auf dem Papier; sie ist es! Das ist die Handschrift von ein und demselben Menschen. Genauso wohlgeformt und klar, genauso elegant und ungezwungen natürlich.

Genau so, vor langer, langer Zeit hat er diese Handschrift schon einmal gesehen! Es ist sogar dieselbe schwarze Tinte! Heutzutage gebrauchen die Leute Kugelschreiber. Gibt es noch welche, die mit Tinte schreiben? Er ist wie betäubt. In seinem Kopf ist ein Chaos, ein Durcheinander wie auf einem Schlachtfeld und dann --- Panik. Ganz schön lange, eine ganze Weile. In seinem Kopf ist alles blank. Da liegt er, vor seinen Augen, auf dem weißen Briefpapier: der kleine Schwarze Engel. Er sieht fast wie ein lebendiges Wesen aus, das sich dreht und auf dem Sprung ist.

Er hört und sieht nichts und darum hat nicht bemerkt, dass sie unbemerkt ins Zimmer gekommen ist. Er hat weder das Öffnen der Tür gehört, noch die Stimmen, die von außen hereindrängen. Doch nun hebt er den Kopf und sieht, wie sie vor dem Tisch steht. Mit weit geöffneten Augen fixiert er sie. Ungläubig blickt er auf die schlanke Silhouette, er muss sich nicht vorstellen. Jeder Satz ist überflüssig. Er weiß wer sie ist – Sybil Ming. Oder aber: nicht Sybil Ming sondern Deep Dagger.

Da steht sie, mit sehr geradem Rücken, Schulter und Taille schlank und schön gebogen. Sie trägt einen schwarzen gestrickten Pullover, schwarze lange Cordhosen, in der Hand hält sie einen langen schwarzen Umhang. Ihr Hals ist außergewöhnlich lang und schmal und das unterstreicht ihren edlen Kopf. Edel, ja. Er hat bei noch keinem Menschen einen so natürlichen, angeborenen Adel gesehen. Ihre schwarzen Haare sind locker zerzaust in einer Hochsteckfrisur auf dem Kopf zusammengehalten und unterstreichen vorteilhaft ihre große schlanke außergewöhnliche Erscheinung. Ihre hellen Wangen, die gerade Nase, ihre Augenbrauen und Schläfen! Und ihr Blick leuchtet. Ihre Mundwinkel zeigen ein reserviertes Lächeln, das er aus der Vergangenheit kennt. Außer einer sehr langen Perlenkette um den Hals trägt sie keinen anderen Schmuck. Sie wirkt leicht erschöpft, aber trotzdem hat sie eine solche Ausstrahlung, etwas so Begeisterndes, so etwas Außergewöhnliches, das sie sein Büro zum Strahlen bringt. Alles andere erscheint auf einmal engstirnig und ungehobelt.

Er holt tief Luft, zwinkert und schaut sie noch einmal an. Plötzlich bemerkt er, dass seine Kehle ganz trocken ist, so trocken, dass er nicht sprechen kann. Dieses wunderschöne Gesicht, dieses geschmeidige Kinn, diese Augenbrauen ---- als gehörten sie zu einer anderen Frau. Ja, andere Frauen sind nicht so edel, nicht so wunderschön, nicht so besonders und abgestumpft. Andere Frauen lachen, weinen, schreien laut vor Lust. Andere Frauen sind leidenschaftlich wie ein loderndes Feuer, zerbrechlich wie dünnes Eis. Nein, nein, so ist diese Frau nicht. Sie ist Sybil Ming, das ist Deep Dagger, sie ist --- der Schwarze Engel.

„Du ---„ sie öffnet plötzlich den Mund, ihre Stimme klingt tief und weich, sanft und einnehmend. „Ist das deine Vorbereitung, mich ununterbrochen anzustarren und mir keinen Platz anzubieten?“

Er erwacht aus seiner Erstarrung. Als er aus diesem konfusen, tranceartigen Traum aufwacht, schüttelt er den Kopf, gibt er sich einen Ruck, macht er sich Mut. Er will alles in seiner Macht Stehende tun, den Druck abzuschütteln, der seit heute früh an auf seinen Schultern liegt. Er zwinkert wieder mit den Augen, sieht sie aufmerksam an. Er bemüht sich zu lächeln --- und merkt dabei selber, dass dieses Lächeln widerwillig und gequält ist.

„Du musst mir verzeihen. Du hast mich erschreckt.“ Er spricht, und seine Kehle ist weiterhin nicht nur trocken, sondern er ist auch verärgert. Er findet seine Ausdrucksweise unbeholfen, als wiederhole er Auswendiggelerntes.

„Wieso habe ich dich erschreckt?“, fragt sie. Ganz leicht zieht sie die Augenbrauen hoch, ihre Augen sind tief-dunkel wie der Nachthimmel, man weiß nicht, wie tief der ist und was er
noch alles mit sich trägt. „Ich habe an die Tür geklopft, wahrscheinlich hast du es nicht gehört, deine Sekretärin, Frau Holt, hat gesagt, dass du mich erwartest.“ Er steht auf, steht genau ihr gegenüber. Sie sehen sich eine Weile an. Schließlich stellt er sich mutig der „das-was-ist- Realität.

„Ich weiß nicht, ob ich dich erwartet habe“, sagt er. Die lächelnden Mundwinkel sind verschwunden, er mustert sie aufmerksam. „Eigentlich habe ich Sybil erwartet. Die von England kommt, aber, unerwarteter Weise hat sich Sybil Ming in einen anderen Menschen verwandelt, in einen Autor, der sich Deep Dagger nennt.“

Ihr Blick wandert zum Schreibtisch, dem dort ausgebreiteten Manuskript und dem Briefpapier. Sie zögert eine Weile, hebt dann den Blick wieder, ihre Augen schimmern wässrig, doppeldeutig lächelt sie sanft. Aber dieses Lächeln hat keine Wärme, sondern es ist spröde, fast melancholisch. Sie seufzt tief.

„Das ist es, worüber du so erschrocken warst?“
„Das kann sein.“
Sie sieht ihn zurückhaltend an. „Du bist ein bedeutender Verleger, nicht wahr? Viele Schriftsteller schicken ihre Werke, nicht wahr? Das ist doch wohl nichts Besonderes. Aber, offensichtlich ------„ sie senkt ihren Blick. „Wenn ich dich nicht daran erinnert hätte, dass Deep Dagger mit Sybil Ming identisch ist, hättest du den Schwarzen Engel nicht angesehen. Sagen wir von einem John Smith beispielsweise, hättest du das Manuskript nie aus dem Schrank geholt. Wie viele Menschen setzen alle ihre Hoffnung in dich, wie jener John Smith. Er sieht sie lange an. Dieser bohrende und kritische Blick, diese Stirn, dieser nicht zu übersehende verletzte Stolz, diese zusammengepressten Lippen. Dennoch, empfindsam und sanft in ihrer Verletzlichkeit. Dieses Zarte erreicht ihn plötzlich fast schmerzlich tief im Innersten seines Herzens. Das ist unglaublich!

„Es tut mir sehr leid.“ Wie gebannt schaut er sie an. Diese Stirn, diese Augen, dieser Nasenrücken, dieses Kinn, diese Lippen --- ach du lieber Himmel! Wird das eine Zweitauflage! Mit Mühe zwingt er sich, wieder klar zu denken. „Ich darf anderer Leute Hoffnungen nicht einfach umwerfen, sie versetzen. Meine Mitarbeiter erinnern mich immer wieder ---“

„Ich habe verstanden“, sie unterbricht ihn schnell. „Du hast eine sehr gute Sekretärin, hübsch und klug.“ Als sei das die Antwort auf ihre Bemerkung, geht die Tür auf und Julia Holt kommt herein. In der Hand hält sie ein Tablett mit zwei Tassen mit kochend heißem Tee. Mit lächelndem Gesicht blickt sie Arthur Wang und Sybil Ming an. Fröhlich lächelnd sagt sie: „Anna hat heute um Urlaub gebetenIch nehme ihre Rechte wahr.“ Sie merkt, dass beide neben dem Schreibtisch stehen. Sie blickt Arthur Wang prüfend an. „Sie haben Frau Ming nicht gebeten auf dem Sofa da Platz zu nehmen?“

Der Satz hat Arthur wieder in die Wirklichkeit geholt. Also, diese Fauxpas heute! Ja, seit dem Erhalt von Sybils Brief heute Morgen ist er nicht mehr „normal“ gewesen. Zu viel Unvorhergesehenes, zu viele Überraschungen, zu viele Verwechslungen, zu viele Erinnerungen. Das hat ihn konfus gemacht. Betroffen geht er zum Sofa. Das ist sein persönlicher Raum in seinem Büro. Außer einem großen Bücherregal, einem großen Schreibtisch und einem großen Bücherschrank dazwischen, steht da auch ein ledernes Sofa nahe vor dem Fenster. Er sagt zu Sybil: “Setz dich doch!“

Sie geht leichtfüßig und anmutig zum Sofa. Jede ihrer Bewegungen durch und durch natürlich. Sie setzt sich, legt den schwarzen Umhang über die Rückenlehne des Sofas. Julia stellt den Tee hin und lächelt Sybil Ming offen und freundlich an. Sybil dankt ihr mit einem Nicken, dann dreht sich das lebhafte Mädchen um und verlässt den Raum.

Sybil sieht sich um und seufzt leise: „Ich stelle fest, du hast ein Königreich ganz für dich.“ „Jeder Mensch hat ein Königreich ganz für sich.“ Ihm fällt keine andere Antwort ein. „Ob das Königreich klein oder groß ist, das liegt nicht an der Umwelt, sondern entspringt dem Edelmut der eigenen Gedanken.“

In ihren Augen blitzt ein seltsames Leuchten auf, das sich auf seinem Gesicht fest macht. In dieser betonten Weise angesehen zu werden, stört ihn, es gibt ihm das Gefühl, als sähe sie durch ihn hindurch, ja, als würde sie über ihn richten. Dieses Augenpaar ist gründlich, schwer einzuschätzen und durchdringend scharf. Wie alt ist sie? Er rechnet in Gedanken nach, erinnert sich, zweiundzwanzig? Dreiundzwanzig? Sie sieht reifer aus als ihr tatsächliches Alter ist. Im Ausland aufgewachsene Kinder sind im Vergleich zu denen im Inland aufgewachsenen immer frühreif. Und erst recht ist man dann mit Zwei- oder Dreiundzwanzig vollkommen erwachsenen.

„Worüber denkst du nach?“ fragt sie.

„Über dein Alter“, gesteht er als Antwort, versunken in seine Erinnerungen. „Wenn ich mich nicht irre, bist du jetzt zweiundzwanzig und ein halbes Jahr alt. Im Oktober wirst du erst dreiundzwanzig. Ja ---.“ Er beißt die Zähne zusammen, in seiner Brust fühlt er einen dumpfen Schmerz. „Damals, jeden Oktober haben wir für dich Geburtstagsgeschenke vorbereitet. Dein Geburtstag ist -----“ Seine Augen glänzen: „der einundzwanzigste Oktober!“

Ihre Augen leuchten auch, aber sehr schnell senkt sie den Blick wieder, verbirgt das Aufflackern. Nach einer langen Zeit hebt sie den Blick. Der Ausdruck ist wieder bedrohlich und unberechenbar.

„Komisch, dass du das nicht vergessen hast!“ sagt sie. Ihre Stimme zittert leicht. Ich denke, heute Morgen, als du meinen Brief bekommen hast, hast du vielleicht gedacht, Sybil Ming, wer ist denn das?“

„Du ------“, er ist gespannt, wie es weitergeht, sein Gesicht ist wie eine Maske, er starrt sie an, hitzig sagt er mit tiefer Stimme: „Sybil, warum bist du eigentlich so gefühllos? So grausam?
So ruhig? Wieso hast du mich deinen Flug nicht wissen lassen? Warum hast du mich nicht
eine Unterkunft für dich suchen lassen? Warum bist du hier so sang- und klanglos aufgetaucht? Du ---- ausgerechnet, ein schwarzer Engel ist gekommen und hat mich hereingelegt! Sybil, du bist so mysteriös, so komisch, so kalt --- du ---du --- bist du wirklich unsere geliebte kleine Schwester? Die in die Fremde verbannte kleine Schwester? Die, über die wir jeden Tag

geredet und gelesen haben? Die kleine Schwester?“

Tränen schießen ihr in die Augen. Ihre Augen sind ganz feucht. Auf dem reinen glatten Teint ihrer Wangen entstehen sofort zwei rote Flecken der Schamröte. Sie dreht den Kopf weg, schaut aus dem Fenster, unbewusst hebt sie die Hand und zeichnet mit dem Finger auf die Fensterscheibe. Aufgrund des großen Unterschiedes von Innen- und Außentemperatur ist das Fenster beschlagen. Absichtslos schreibt sie auf diesen Fensternebel Wörter, verschwommen flüstert sie: „Ich bin nicht mysteriös, ich bin schon vor drei Monaten nach Taipeh zurückgekehrt -----“

„Drei Monate!“ schreit er aufgebracht, überrascht und wütend. „Erst nach drei Monaten informierst du mich darüber! Wo wohnst du?“

„Ich habe eine kleine möblierte Wohnung gemietet, sehr geschmackvoll und gemütlich.“ Sie malt immer noch auf das beschlagene Fensterglas. „Jeden Tag habe ich gedacht, soll ich oder soll ich dich nicht besuchen. Wenn ich dich besuchen will und anrufe, wie soll ich dich nennen? Sage ich zu dir ---- Arthur? Oder sage ich zu dir ---- Schwiegerbruder?!

Er hält die Teetasse in der Hand. Als sie das Wort „Schwiegerbruder“ ausspricht, zittert seine Hand, Wasser schwappt über den Tassenrand und spritzt auf seine Kleidung. Er zittert so sehr, dass er die Teetasse abstellen muss. Die Tasse stößt an den Tisch und macht einen glockenreinen Klang.

Er richtet sich stocksteif auf, es ist, als wehte schleichend ein kalter Wind durch das Zimmer um ihn herum. Er holt eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche, nimmt eine Zigarette. Dreimal muss er das Feuerzeug anreißen, dann erst kann er die Zigarette anzünden. Er stößt eine große Menge Zigarettenrauch aus und sieht ihm nach. Ihr Kopf ist immer noch weggedreht. Sie zeichnet immer noch aufs Fenster und dreht den Kopf nicht zu ihm zurück.

In sich versunken flüstert sie weiter:
„Ich habe meine große Schwester auf dem Friedhof besucht. Du hast ein schönes Grab
anlegen lassen, aber auf dem Grabstein steht geschrieben: ’Grab von Amanda Wang’. Ich
weiß aber, dass sie nicht das Glück hatte, von dir geheiratet zu werden. Deswegen kann ich dich nur Arthur Wang nennen und nicht Schwiegerbruder.“ Sie dreht den Kopf zu ihm und sieht ihn an. Ihre Augen sind so klar wie schwarze Kristallkugeln und spiegeln in kaltem Glanz alle Arten von Fremdsein. „Arthur Wang“, sagt sie leise, „ich bin sehr froh, dich zu sehen.“
Er sieht sie einige Sekunden lang an. „Gut“, er seufzt, Rauch kommt aus seinen Nasenlöchern, unsicher hält er die Zigarette, er starrt dem aufsteigenden Rauch nach. „Sybil“, widerstrebend, betrübt, unklar sagt er: „Was deine große Schwester betrifft, uns verband sehr viel, das würdest du alles überhaupt nicht verstehen! ----“

„Ich weiß“, sie unterbricht ihn. „Ich habe gehört, meine Schwester war sehr nachgiebig, warum solltest du ihr da leid tun?“

Er ist schockiert, auf den Schreibtisch fällt ein Stück Zigarettenasche, er fixiert es wortlos. „Natürlich, „sagt er ernst, „ich habe ihr nie leid getan, sie war zu nett, um einer Ameise etwas anzutun, wie könnte sie da etwas tun, das sie bedauern müsste!“

Sie zieht die Augenbrauen leicht hoch. Die schwarzen Kristallkugeln funkeln.
„Gut“, sagt sie, „wir müssen nicht als Erstes über meine Schwester reden. Die ist ja bereits gestorben. Was vorbei ist, ist vorbei ---.“ Sie schaut auf die Zigarette in seiner Hand. „Kann ich vielleicht eine Zigarette haben?“

„Du rauchst?“ Er ist überrascht, in seinem Ton schwingt leichter Tadel mit.
„In London rauchen schon vierzehnjährige Mädchen“, sagt sie leichthin, nimmt die Zigarette aus seiner Hand und zündet sie geschickt an. Er sieht ihr zu. Sie macht einen Zug, sie raucht gekonnt und elegant.
„Hat meine Schwester geraucht?“, fragt sie plötzlich.
„Ja.“
„Ja?“ sie ist überrascht. „Ich hätte gedacht --- sie würde auf keinen Fall rauchen.“
„Warum?“
„Weil, das ist doch klar, du willst doch nicht, dass Mädchen rauchen. Du willst so etwas nicht und darum hat sie es nicht gemacht.“
Er ist verwundert. „Woher weißt du, dass ich nicht gut finde, wenn Mädchen rauchen?“, fragt er.
„Stimmst du mir zu?“ fragt sie zurück.
„Nein. Aber du hast eine beeindruckende Beobachtungsgabe. Ich mag tatsächlich nicht, dass Mädchen rauchen, weil ich an ihren Fingern die gelben Stellen vom Rauchen nicht
mag.“ Ohne sich dessen bewusst zu sein, beobachtet er weiter, wie sie die Zigarette hält. An ihren schlanken weißen Fingern sind keine Rauchflecken. Sie riecht auch nicht nach Rauch.

„Ist meine Schwester gegangen?“ fragt sie.

Er runzelt die Stirn. Dann ist es, als würde er plötzlich aufwachen. Sie sitzt aufrecht, hebt das schöne Kinn, spricht wieder und sagt mit Nachdruck:

„Entschuldige mal, gerade haben wir gesagt, dass wir nicht über meine Schwester reden wollen. Ich bin heute überhaupt nicht als Amandas kleine Schwester gekommen. Ich habe mit dem Bücher-Schreiben begonnen, aber ----“. Sie seufzt leise: „Aber du hast mein Werk, mein Buch, mein Manuskript offensichtlich nicht einmal eines Blickes gewürdigt!“

„Ich werde es ansehen!“ sagt er schnell: „Gib mir ein bisschen Zeit!“ „Du hast alle Zeit der Welt. Ich werde weiter in Taiwan bleiben.“

Er sieht sie irritiert an. „Ich dachte, du studierst Schauspiel. Ich dachte, du trittst in London auf der Bühne auf.“
„Ich bin bereits aufgetreten“, sagt sie und fährt fort „Ich bin in der „Mausefalle“ aufgetreten und auch in „Superstar“. Alles Spitzenrollen und Stücke, die in London phantastisch laufen. Ich hatte es satt, darum bin ich nach Taiwan zurückgekommen. Ich wollte eine Lebensveränderung.“

„Bist du allein zurückgekommen?“
„Ja.“
„Warum hast mich nicht vorher informiert?“
„Ich bin es gewohnt, allein zu sein.“ Sie sieht auf die glühende Zigarettenspitze. „Auch in diesen Jahren in London war ich allein. Meine Mutter - - - .“ Sie überlegt eine Weile und drückt dann die Zigarette aus. „Sie und ihr Mann und ihre Kinder haben immer in Manchester gewohnt.“ Sie hebt den Kopf und sieht ihn an. Plötzlich wechselt sie das Thema. „Störe ich dich eigentlich sehr? Ich weiß, du bist ein sehr beschäftigter Mann! Ich glaube: wenn ich rücksichtsvoll sein wollte, dann sollte ich mich jetzt verabschieden.“ Sie steht auf und greift nach ihrem Umhang.

Blitzschnell stellt er sich ihr in den Weg. „Wage es, zu gehen!“ ruft er aufgebracht.
„Wie?“ Sie hebt den Kopf und sieht ihn verblüfft an.
„Wenn du jetzt nicht mit mir zum Lunch gehst, wenn du mir nicht dein Leben während all dieser Jahre erzählst, wenn du mich nicht dahin mitnimmst, wo du jetzt lebst, wenn du mich dich jetzt nicht besser kennen lernen lässt - - -.“ Er hat laut und ohne Unterbrechung gesprochen. „Schlag dir aus dem Kopf, dass ich dich gehen lasse!“

Ihre Augen sind weit geöffnet und strahlen hell, einen Moment bleiben ihre Blicke auf ihn gerichtet, ihre Mundwinkel sind leicht nach oben gezogen, ein eher trauriges Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Ihre Augenlider zucken, wie von einem Schleier scheinen sie plötzlich getrübt. Ihr Mund ist halb geöffnet, es dauert eine ganze Weile bis ein Ton heraus kommt: „Du siehst eigentlich nicht aus wie ein kaltherziger Heuchler, ich habe nachgedacht. Bist du ein Gott oder ein Teufel? Warum hast du dich von meiner Schwester in dieser Weise lieben lassen? Jetzt habe ich es ein ganz klein bisschen begriffen - - - .“ Der Nebel in ihren Augen wird schlimmer. „Arthur Wang“, sagt sie klar und leise „Wie hast du sie sterben lassen können?“

Er dreht sich schnell weg, so dass sie sein Gesicht nicht sehen kann. Er atmet in kurzen abgehackten Atemzügen, seine Muskeln scheinen sich zu spannen und der ganze Körper bebt von Gefühlen überschwemmt. Da fühlt er eine zarte warme Hand, die ihn leicht berührt. Er zuckt unwillkürlich zusammen. Ist diese Hand elektrisch geladen? Kurz danach klingt ihre Stimme wie eine sanfte Brise neben seinem Ohr als sie ruhig sagt: „Ich habe gehört, Taiwans Szechuan Küche ist die beste. Lade mich ein, in einem Szechuan Restaurant essen zu gehen, ok?“

Er wendet ihr wieder den Blick zu. Sie hat ihren langen seidenen schwarzen Mantel schon angezogen. Sie ist ganz in Schwarz getaucht, aber das weiße Gesicht ist gerötet, die kleinen Lippen sind rot. Das erinnert ihn an Worte aus dem Altertum: „Lippen betonen nichts und
sind doch rot, Augenbrauen zeichnen nicht und sind doch schwarz! Dies und dazu diese Augen, die über das ganze Gesicht hin strahlen, fast wie ein heiliges Lächeln.... Meine Güte! Wie sehr sie ihrer Schwester gleicht! Wie sehr sie doch ihrer Schwester gleicht! Sie ist so elegant wie eine Götterstatue und ihr Lächeln gleich dem eines Engels! Du liebe Güte! Er denkt schockiert: der Schwarze Engel! Was bedeutet der Schwarze Engel? Freude oder Sorge? Das Gute oder das Böse? Glück oder Unglück? Er schüttelt den Kopf, über diese Fragen will

er jetzt nicht nachdenken.
Er streckt seine Hand aus und legt sie ihr leicht auf die Schulter. „Los, gehen wir!“ sagt er.

 

 

2. Episode

 

Das Café ist klein und erlesen, es ist neu eröffnet und liegt in der Oststraße. Die Einrichtung ist elegant und gepflegt, weiß umrandete Holzbalken, Kerzenständer aus Holz, Tische und Stühle aus antikem Holz. Man fühlt sich wie ein Inselbewohner einer griechischen Insel. Arthur und Sybil sitzen in einer Ecke des Cafés. Da sitzen sie schon sehr, sehr lange. Durch das Fenster haben sie einen Blick auf die Straße. Sie haben bereits gegessen und sitzen immer noch zusammen dort im “Artimesia.“ Ein sehr griechisches Café, das auch den Namen einer griechischen Göttin hat.

Über der Straße liegt ein erster Schatten der Dämmerung. Ein Wintertag ist immer besonders kurz, heute scheint er noch kürzer als gewöhnlich. Sybil lehnt sich gegen das dicke Stuhlkissen und schaut gedankenverloren aus dem Fenster auf die vorbeifahrenden Autos. Einige haben bereits die Scheinwerfer angeschaltet, die Lichter huschen vorüber und werfen einen Heiligenschein um ihr Gesicht. Ihre Finger schnippen an einem silbernen Feuerzeug mit schwarzen Rändern, es stößt gegen die Holztischpatte und macht Tuk Tuk Tuk, ein Geräusch scheinbar im Rhythmus ihrer Erzählung. Sie spricht leise und ruhig, unbeirrt und selbstverständlich, aber am Grund dieses ruhigen Tones mit all seiner Selbstverständlichkeit liegen eine unerklärliche Traurigkeit und ein Hauch von Hilflosigkeit.

„Ich denke oft, vielleicht hätte ich damals in Taiwan bleiben und mit meiner Schwester zusammen leben sollen. Aber das ist eben nicht passiert. Wie auch immer, in dem Jahr studierte Amanda bereits und ich war erst 14 Jahre alt. Das Schicksal wollte es, dass sich meine verwitwete Mutter in einen Engländer verliebte; das Schicksal wollte die Trennung von Mutter und Töchtern. Das wurde nicht diskutiert. Ich glaube, Mama und Amanda haben beide darunter gelitten. Amanda war uneinsichtig und verliebt, sie konnte Mama nicht verzeihen, dass sie einen Ausländer geheiratet hatte. Oder sie hatte Papa noch intensiver in Erinnerung oder sie hatte vielleicht auch noch diese konservative chinesische Sichtweise, dass das Leben einer Frau nach dem Tod des Ehemannes vorbei ist. Kurz gesagt, mein Eindruck ist, meine Schwester war äußerlich nachgiebig und weich, aber innerlich rigide und konventionell.“ Sie sieht zu ihm hoch und fragt leichthin: „Kann das sein?“

Er stößt eine Rauchwolke aus, denkt nach, aber antwortet nicht. Sie wartet auch auf keine Antwort und redet weiter: „Mit einem Wort, wir kamen in England an, alles war schwieriger als erwartet, mein Stiefvater war nicht wohlhabend, er war oft arbeitslos, meine Mutter schenkte ihm in vier Jahren drei Kinder. Das war echt super. Zwei Jahre waren sie ganz klein, danach veränderte sich alles in eine typisch britische Familie und ich wurde zum einzigen Missklang in der Familie. Nur Gott weiß, wie traurig das damals war. Die jüngeren Geschwister nahmen die ganze Energie meiner Mutter in Anspruch. Ich war wie eine verlassene einsame Wildgans. Mir blieb nur Amanda und sie schrieb mir immer, tröstete mich, machte mir Mut; sie war meine moralische Stütze.“

Sie hält inne, trinkt einen Schluck Kaffee und schaut ihn an. Leise sagt sie: „Warum sage ich dir das, du weißt doch alles, oder?“
Er nickt und sagt: „Ich weiß es, aber ich möchte es aus deinem Mund hören.“

Sie denkt nach, nimmt eine Zigarette heraus, er gibt ihr Feuer. Sie raucht anmutig, ihre sanften Bewegungen machen aus dem Rauchen eine Kunst. Er betrachtet sie intensiv; diese lässige europäische Eleganz, diese unergründlich tiefen Augen, diese detaillierte Art zu erzählen - - - nein, sie ist nicht wie Amanda! Er fixiert sie von neuem, dieses leicht Sorgenvolle in ihren Augen, diese Hilflosigkeit um ihren Mund, diese gerunzelte Stirn - - - nein, das ist Amanda!

„Nein, ich werde jetzt nicht mehr mit dir über Sachen reden, die du bereits weißt.“ Sie schüttelt den Kopf und sagt dann: „Und dann, eines Tages fängt das an, Amandas Briefe sind voll mit deinem Namen, deiner Körpergröße, deinem Alter, deinem Gewicht, wie viele Haare du auf dem Kopf hast, wie erlesene Zellen du hast, deinem Humor, deinen Talenten, deiner harten Arbeit, deinen Absichten, deinem Wissen, deinem guten Aussehen, deinem Chic - - - , deinem - - - alles, alles von dir! Du bist der größte unter den Menschen, du bist der Gott des Pantheons!“

Sie hat in einem Atemzug gesprochen, so flüssig, so ohne jede Pause, ihre Serie von Sätzen klangen wie von einem Kanonenboot abgefeuert und tun jedem Nerv in ihm weh. Unwillkürlich lehnt er sich tief zurück ins Sofa als wollte er sich dort verstecken. Aber er kann dem Schmerz nicht entkommen, er runzelt die Stirn und schließt die Augen. Tief in seinem Herzen ist eine zarte Stimme, die flüstert: Amanda! Amanda!

„Weißt du eigentlich dass du damals nicht allein Amanda gehört hast, sondern auch mir?“

Sie hat aufrichtig gesprochen. Er öffnet die Augen und sofort berührt ihn ihr strahlender Blick. „Obwohl ich erst Sechzehn war, war ich in Gedanken erfüllt von deinem Bild. Jeden Abend, während des Abendgebets mit meiner Mutter und meinem Stiefvater, waren nur du und meine Schwester in meinem Gebet! Dann ist mein Leben schwieriger geworden. Ich musste ein Studium oder eine weiterführende Ausbildung wählen, und wieder waren es Amanda und du, die mich retteten. Ihr habt mich gerettet und mir für eine meine weitere Ausbildung Geld geschickt. Immer wieder habt ihr mir Geld geschickt. Taiwan Dollars umgerechnet in

britische Pfunde, mein Studiengeld war luxuriös!

Ich lebte in London und studierte Schauspiel. In jedem Brief schreibt mir Amanda, dass eure Karrieren erfolgreicher werden, dass die geringen Studiengebühren keine Rolle spielen. Keine Rolle spielen! Wie können die keine Rolle spielen?“ Sie mustert ihn kritisch. „Ich habe mir selber immer gesagt, dass dieses Geld nur geliehen ist, dass ich es zurückzahlen muss. Ich habe mit ganzem Einsatz studiert, tagsüber, und meinen Abschluss geschafft. Abends war dann immer der heftige Kampf um mein Chinesisch. So habe ich mein Chinesisch nie verloren.“

Er denkt an das Buch, das immer noch auf seinem Schreibtisch liegt, den “Schwarzen Engel“. Er denkt an die Inschrift auf der Titelseite und nickt. Dein Chinesisch ’nie verloren’?

Erheblich mehr als ’nicht verloren’, sagt er: „du hast geradezu chinesische Literatur studiert, oder?“ „Ja, ich habe den „Traum der Roten Kammer“ gelesen, ich habe Lao She gelesen, Xu Zhimo und auch „Seltsame Geschichten“ von Liao Zhai. Ich habe sehr viele chinesische Bücher gelesen.“

Er schweigt. Bewundernd sieht er sie an.

„Dann plötzlich wurden Amandas Briefe seltener, nach und nach immer seltener. Nicht nur seltener, sondern auch kürzer. Aber sie schickte immer noch Geld, jeden Monat schickte sie es. Sie möchte unbedingt, dass ich hart arbeite. Könnte man sich auf der ganzen Welt eine bessere große Schwester vorstellen? Und dann, das nächste Mal, bekomme ich keinen Brief von meiner Schwester, sondern nur den monatlichen Scheck. Ich denke, Amanda heiratet bald, sie ist sicher damit beschäftigt, ein neues Haus einzurichten. Sie ist damit beschäftigt, meinem zukünftigen Schwiegerbruder zu helfen seine Karriere voranzubringen, sie hat nicht mehr so viel Zeit, ihrer kleinen Schwester Briefe zu schreiben - - - . Ganz zu schweigen, dass ich zu

der Zeit auch sehr beschäftigt bin. In Anspruch genommen von der Prüfung, den Proben, davon, einen Partner zu finden, tanzen zu gehen, in den Mode-Geschäften herumzustreifen - - - “.

Sie drückt die Zigarette aus und stützt ihre Stirn in die Hand, die Traurigkeit in ihren Augen wird größer. Als ich die Prüfung bestanden hatte, habe ich an dich und meine Schwester ein Telegramm geschickt. Danach erst habe ich einen Antwortbrief erhalten, deinen Antwortbrief ---“

Sie hebt den Blick und sieht ihn an, ernst und feierlich. „Da erst erfahre ich, dass meine Schwester schon ein halbes Jahr tot ist. Diesen Brief werde ich immer behalten, weil er so schön ist, so gut, so verzweifelt.“

Er sieht ihren betroffener Blick, die feinen Lippen, er sieht diesen unterdrückten Schmerz - - - Plötzlich richtet er sich auf und sagt laut: „Sprich nicht über diesen Brief! Sprich nicht über deine Schwester! Sprich über dich! Warum hast du mir hinterher keine Nachricht zukommen lassen?“

„Über mich sprechen?“ Sie zieht die Augenbrauen hoch und spielt mit dem Feuerzeug. Über mich gibt es nichts zu sagen. Während vieler Jahre, von meinem vierzehnten bis zu meinem einundzwanzigsten Lebensjahr, egal, in meinen Gedanken und Vorstellungen oder bei allem, was wirklich passierte, alles hing von meiner großen Schwester ab. Obwohl wir getrennt waren durch Berge und Meere. Nachdem ich wusste, dass Amanda tot ist, war die tragende Säule meines Lebens weggebrochen. Ich weiß auch, dass es Zeit für mich ist, allein klar zu kommen, selbständig zu sein. Danach habe ich eineinhalb Jahre fleißig geübt, unabhängig zu sein.“

„Etwas genauer bitte.“

„Im Detail klingt es so einfach.“ Sie lächelt dünn und es ist auch Traurigkeit in ihrem Lächeln. „Ich bin Schauspielerin, ich habe gespielt, auf der Bühnen gespielt, kleine Rollen. Ich habe Geld verdient, verzweifelt Geld verdient. Ich habe hart gearbeitet, sehr hart, um Geld zu verdienen. Das war mein einziges Ziel, ausreichend Geld zu verdienen, um nach Taiwan zurückkommen zu können. Damit ich meine Schwester auf dem Friedhof besuchen kann und um meinen Schwiegerbruder persönlich kennen zu lernen!“ Ihre Augen sind wie Wasser. „Nein, ich kann dich nicht Schwiegerbruder nennen. Ich kann dich nur Arthur Wang nennen.

Arthur Wang - - - “ Ihre Stimme ist leise wie im Traum. „ Du Narr, warum hast du sie nicht geheiratet, bevor sie gestorben ist? Dann hätte ich in Taiwan einen Verwandten besuchen können!“
Er zittert leicht und ist berührt von ihren stillen, traurigen Augen. Seine Stimme ist plötzlich heiser: „Ich erinnere mich, dass ich dir das in dem Brief gesagt habe, sie ist gestorben an...“

„einer Herzkrankheit!“ beendet sie seinen Satz. „Gott hat in vielen Unglücksfällen etwas Gutes versteckt, er hat sie nicht länger leiden lassen. Sie ist sehr schnell gestorben.“

Seine Gesichtsmuskeln sind starr, er senkt den Kopf, er schaut auf die Kaffeetasse in seiner Hand. Der Kaffee ist schon kalt. Braune Flüssigkeit liegt auf dem Tassengrund wie auf einem weißen Magnet. Nicht die geringste Wärme. Plötzlich erinnert er Amandas letztes Gesicht, weiß, so weiß wie dieser weiße Magnet und auch so kalt wie diese Tasse. Es schaudert ihn.

„Wirklich schlecht!“ Sie seufzt. „Der Kern unseres Gespräches lässt sich nicht vom Tod trennen.“ Gleichzeitig sieht sie ihn voll an. Mit gerunzelter Stirn, mitfühlend. „Ich verstehe, dass dieses Thema für dich nicht gut ist und auch nicht für mich.“ Sie dreht sich zum Fenster und beginnt wieder automatisch auf das Glasfenster zu malen. „Lass uns über mich sprechen, ein paar ganz alltägliche Sätze. Ich bin wieder zurückgekommen, einfach so konnte ich dich das nicht wissen lassen, weil Amanda bereits vor zwei Jahren gestorben ist. Ich habe auch gedacht, du hättest inzwischen wahrscheinlich ein neues Glück gefunden - - - “ Sie macht eine Pause und fragt plötzlich: „Du hast es doch gefunden, oder?“

Er sieht sie an, er versteht sie, sie hat voller Mitgefühl gefragt.

„Zuerst musste ich durch ein Meer von Tränen, aber dann wusste ich auch, dass dieses schreckliche Unglück keine Regenwolke ist.“ Seine traurigen Gedanken sind so leise gesprochen, dass er sie nur selber hören konnte.

„Ich habe nicht verstanden, was du gemurmelt hast.“ Sagt sie „ Aber ich bin schon vor Monaten gekommen, Ich habe mich viel nach dir umgehört, in den vergangenen zwei Jahren hast du eine enorme Karriere gemacht. Du bist einer der Großen im Verlagswesen geworden. Alle Schriftsteller werden von dir weggeschnappt, du hast ein unabhängiges großes Verlagsgebäude, eine Druckerei, ein eigenes Vertriebsnetz, eine schöne Wohnung, einen Chevrolet- - - - nur eins hast du nicht, eine Ehefrau! Also, “ Ihre Stimme ist so weich wie ein Traum. „Hast du meine Schwester immer noch nicht vergessen, ist es das?“

Er beißt die Zähne zusammen und sagt nichts. Er hat sich gesammelt und sieht sie an. Drei Monate, sie ist vor drei Monaten gekommen und hat sich viel nach ihm erkundigt. Eine vage Angst hüllt ihn ein, Kälte steigt seinen Rücken hoch. Aber sie sitzt da, ruhig, elegant, edel, gepflegt und sanft. Er kann sich nicht vorstellen, was für eine ihr entsprechende Wohnung sie gefunden hat.

„Wenn du wieder verheiratet bist, werde ich dein friedliches Leben nicht weiter stören.“ Sie fährt fort: „Ich habe eine Wohnung gemietet, angefangen etwas zu schreiben, dann habe ich gedacht, ich sollte dich besuchen - - - und so bin ich heute in deinem Büro aufgetaucht.“ Sie nimmt einen Schluck Kaffee, zwei saubere Reihen weißer Zähne sind leicht freigelegt, wie zwei Reihen Perlen. „Das ist alles über mich. Weder mysteriös noch seltsam. Arthur, ist dir mein Auftauchen unangenehm?

Er sieht sie an. „Ja“, gesteht er ohne Umschweife.

„Warum?“
„Du hast viel Vergangenes wieder lebendig gemacht. Du hast eine Wunde wieder geöffnet, die schon verheilt war, meine Anstrengungen der letzten zwei Jahre haben sich in Nichts aufgelöst.“ Er starrt sie an und schüttelt den Kopf.

„Hat dir schon jemals jemand gesagt, dass du Amanda sehr ähnlich geworden bist?“

Sie nickt. „Ich weiß, Amanda hat mir oft Fotos geschickt und Mutter hat gesagt, dass ich mehr und mehr Ähnlichkeit mit Amanda bekomme und grundsätzlich ja auch nach dem gleichen Muster geschaffen wurde!“

Er mustert wieder ihre breite Stirn, diesen Mund, diese Lippen. Er macht einen tiefen Atemzug, irgendwo tut ihm etwas weh. Sie dreht sich wieder zum Fenster.
„Es ist schon dunkel“, sagt sie „das habe ich gar nicht bemerkt. Ich sollte jetzt gehen.“

„Ich möchte dich zum Abendessen einladen“, sagt er sehr schnell.

„Es scheint immer ums Essen zu gehen.“ Sie lächelt. Dieses Lächeln ist lebhaft und zart. Zum Lunch hast mich zu Sechuan Küche eingeladen. Dann sind wir hierher gekommen und du hast mich zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Nein, ich werde nicht mit dir zu Abend essen und so viel reden. Ich werde nichts mehr essen. Ich gehe nach Hause.“

„Nach Hause?“ Er ist etwas fassungslos.

„Falsch, falsch!“ Sie verbessert sich sofort. „Die Bedeutung von zu Hause ist nicht nur ein Platz zum Schlafen. Ich hatte all diese Jahre kein Zuhause. Ich bin eine einsame wandernde Gans. Jetzt möchte ich in diesen temporären Lebensraum zurückkehren. Kennst du das englische Lied? Es heißt: The Wild Goose on the Wing – Die Wildgans im Fluge?“

„Die Schwalbe im Wald?“
„Nein, nicht die Schwalbe, die Wildgans.“ „Nein, das kenne ich nicht.“

„Weißt du? Die Wildgans ist eine Art Zugvogel, ihr Körper ist sehr groß, normalerweise kann sie nur auf dem Gras neben einem Fluss leben oder im Sumpf. Aber es gibt auch Einzelgänger unter ihnen, die sich auf den Wipfeln des Waldes niederlassen. Das ist unglaublich, da können sie nur für kurze Zeit bleiben und es ist unmöglich, dort ein Nest zu bauen.“ Sie machte eine nachdenkliche Pause.

„Oh“, er sieht sie fragend an.

„In dem Text des Liedes sind diese Sätze.“ Sie legte den Kopf schief und hat sie deutlich in ihren Gedanken als sie bewegt sagt:

„Die Wildgans, die Wildgans möchte nicht fliegen, aber die weißen Wolken, die vor ihr schweben,
die Wolken kann sie nicht halten,
ein Nest kann sie nicht bauen.

Die Wildgans, die Wildgans möchte nicht fliegen, wie einsam, wie einsam ist es tief in den Wolken!“

Sie hält an, der sorgenvolle Ausdruck auf ihrem Gesicht ist bekümmerter geworden. Sie sieht ihn nicht an. Ihr Blick geht wieder aus dem Fenster und bleibt irgendwo hängen.

„Das hört sich gar nicht nach einem englischen Lied an“, er ist bewegt und sagt: „Das klingt mehr wie ein altes chinesisches Gedicht.“

„Ich habe auch eine ganze Weile gebraucht, um sie zu übersetzen!“

Ihre Augen sind wieder zurück gewandert, ihr Kinn liegt auf ihren Händen und sie sieht ihn eine Weile an. Dann holt sie tief Atem, gibt sich einen Ruck heiter zu sein, setzt sich gerade hin, nimmt das Feuerzeug und die Zigarettenschachtel vom Tisch und wirft sie in ihre Tasche und gibt sich den Anschein zu lächeln.

„Die Wildgans muss ihren Zweig für heute Abend finden!“

Er streckt plötzlich die Hand aus, um seinen Gefühlsausbruch zu kontrollieren, kann er nicht anders, als die Sachen, die sie gerade weggesteckt hat, was ihn schockiert hat, sanft, als habe diese Hand keine Knochen, fest zu umklammern.

„Also, dann lade du mich zum Abendessen ein“, sagt er.

Sie sieht ihn zärtlich an. „Du meinst, du willst mein temporäres Wildgans-Nest sehen?“ Er sagt nichts.
„Dann komm!“ sagt sie und steht auf.

Als sie aus dem „Artimesia“ heraustreten, ist es windig, das Wetter ist düster und regnerisch, Nachtwindbrisen wehen feuchten Regen in Stirn und Nacken. Er legt ihr den schwarzen Umhang um und spürt ihren Körper, beweglich und schlank. Ein intensives Prickeln überkommt ihn, wellenförmig, er ist vollkommen hingerissen.

Er sagt: „Du kommst mir nicht wie eine einsame Wildgans vor.“
„Und das heißt?“
„Du gleichst einem Paradiesvogel!“ Er macht eine Pause. „Du weißt was ein Paradiesvogel ist?“
„Sag’s mir!“
„Ein Paradiesvogel ist eine Art kostbarer Vogel, der auf der Welt selten vorkommt. Er ist wunderschön, mit smaragdgrünen Federn, der Schweif leuchtet wie in Flammen und der Kopf glitzert wie mit einer Krone. Er wächst an Orten auf, die für Menschen unzugänglich sind. Ihn anzutreffen ist ein Geschenkt, das man nicht erbitten kann.“

Sie wirft ihm einen kurzen Blick zu. „Danke für deinen Lobgesang“, sagt sie „Und meine Schwester? Wem glich sie? War sie auch ein Paradiesvogel?“

„Sie?“ Er denkt nach und weiß nicht, was er antworten soll. Sein Chevrolet steht am Straßenrand. Er öffnet die Autotür. „Steig ein!“ Die Regenschauer scheinen das eben angerissene Thema zu beenden.

Wenige Minuten später sind sie bereits in ihrem kleinen, kleinen Wildgans-Nest angekommen. Kaum eingetreten, fühlt er sich gleich erfrischt. Die Wohnung ist einfach und großzügig. Sie hat ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine Küchenzeile und ein Badezimmer. Der beige Teppich, das orangefarbene Sofa und die Vorhänge sind offensichtlich vom Vormieter übernommen. Eigentlich sind nur auf dem Bücherregal aus Holz sehr feine persönliche Objekte. Zum Beispiel eine dänische Ballerina aus Porzellan, eine Bronzeskulptur von einem Paar, einige tollpatschige, lustige Tonpuppen und ein Wurf großer und kleiner Turteltauben.

Er sieht sich alle diese Dinge an, sie sagt: „Ich habe viele kleine Kostbarkeiten, aber leider konnte ich nicht alle mitbringen. Aber das ist nicht schlimm, denn wohin sie auch kommen, es ist immer nur vorübergehend. Ich mache keine langfristigen Pläne. Sie zeigt auf das Sofa: „Setz dich doch, ich werde mir schnell etwas Bequemeres anziehen.“

Sie geht ins Schlafzimmer. Er steht im kleinen Zimmer. Er sieht sich um. Da ist ein Schrank mit Wein, ein Kühlschrank und ein kleiner Schreibtisch - - - es scheint eine Art Apartment zu sein, das besonders für Touristen eingerichtet ist, ehrlich gesagt, eine Art Hotel mit Küche.
Er geht zum Schreibtisch. Instinktiv dreht er das Manuskript auf dem Tisch um. Eine halbe Seite ist beschrieben. Sie liegt unter einem dicken chinesischen Wörterbuch. Er zieht das Blatt hervor. Professionell wirft er einen Blick auf die Schrift und entdeckt ein sehr altes Gedicht:

„Der Frühlingswind träumt von Wald und Wipfeln Elstern bauen auch Nester, der Pirol ist besorgt Kurz, eifrig und laut und lärmend

Der Wind flattert, der Regen flötet

Meine Stimmung ist so langweilig
Schuld sind mein Herz und die japanische Faserbanane Beschwere dich über die Frühlingsnacht

Der Wind flattert, der Regen flötet!“

Er liest diese Sätze und eine Weile fühlt er sich wie entrückt. Die chinesische Literatur ist so erstaunlich: nur wenige Worte genügen, um hervorzurufen, was Menschen tief in ihren Herzen verstecken. Er hält das Papier in der Hand und ist benommen. Er meditiert, er steckt in einem Zustand fest, der fast hypnotisch ist. Solange, bis eine sanfte Stimme hinter ihm die Stille im Raum bricht:„Vor einigen Tagen habe ich von Jiang Jie gelesen “Wie man Pflaumen schneidet.“ Ich kann nicht anders als zu kopieren. Ich verstehe Gedichte nicht, ich verstehe keine Phonologie, ich schreibe nur aus Spaß. Du bist ein Experte. Lach mich bitte nicht aus.“

Er dreht sich um und spürt, wie seine Augen plötzlich aufleuchten. Sie hat ihr Outfit von Kopf bis Fuß verändert. Die Haare auf ihrem Kopf sind gelöst und fallen über ihre Schultern mit natürlichen Locken wie schillerndes Wasser. Sie trägt ein weißes weiches Satinkleid, das bis zum Boden reicht. Um die Taille ist ein Seidengürtel geschlungen, weite, breite Ärmel fallen über ihre nackten Arme. Da steht sie, wie eine weiße Wolke, die schwebt, wie ein weißer Schwan, der aufrecht am See steht. Wie eine Fee, die auf die Erde hinunter schwebt und deren Körper vollkommen makellos ist. Er ist verblüfft, vollkommen verblüfft und starrt sie an, wie verhext, vollkommen bewegungslos.

„Was ist?“ fragt sie. Ihre lächelnden schwarzen Augen sind wie schwarze Trauben, die in ein Kristallglas getaucht sind. „Stimmt irgendwas nicht?“

„Oh!“ Er kommt wieder zu sich. Er kann nicht anders, als einen langen Atemzug auszustoßen. „Du hast mich wieder erschreckt!“

„Wieso kann man dich so leicht erschrecken?“

„Von ganz Schwarz wechselst du zu ganz Weiß. vom europäisierten schwarzen Engel zum rein chinesischen Stil. Der Wind flattert und der Regen flötet! Wie ein Fee in einem Märchen mit vielen Verwandlungen und jede Verwandlung ist umwerfend!“

Sie schüttelt leicht den Kopf in seine Richtung, geht zum Schrank mit dem Wein, nimmt zwei Kristallweingläser heraus, nimmt eine Flasche Brandy und geht damit zum Sofa. Während sie die Flasche öffnet, sagt sie: „Kein Wunder, dass meine Schwester gesagt hat, dass du zu reden verstehst. Den ganzen Tag habe ich viel geredet und du wenig. Ich habe vermutet, du bist schweigsam, aber du gefällst den Leuten sobald du sprichst!“

Sie fixiert ihn: „Gibt es Frauen, die, wie meine große Schwester, total verrückt nach dir geworden sind?“

Er zittert ein wenig und schüttelt den Kopf: „Nein.“
„Nein?“ Sie hebt die Wimpern und gießt etwas Wein ins Glas. Plötzlich hört sie auf und fragt: „Ich habe vergessen dich zu fragen, trinkst du überhaupt Wein? Willst du überhaupt Alkohol trinken? Vielleicht möchtest du ja Kaffee?“

„Das muss alles nicht sein. Gib mir einen Tee, das reicht schon.“

„Tee - - -“ Sie dehnt das Wort und lacht. Sie stellt Weinglas und Weinflasche hin, dreht sich um und geht in die Küche. „Ok, ich koche Wasser. Ich glaube, meine „chinesischen Gepflogenheiten“ sind noch nicht ganz da, aber ich kann das ja noch lernen.“

Er zieht sie kurz an sich. „Mach dir keine Sorgen!“, sagt er besorgt „ich trinke hin und wieder auch ein Glas Wein, jedoch muss es nicht immer Wein sein, aber ich habe nichts gegen Wein.“
„Tatsächlich?“ Sie zögert.

„Wirklich.“ Sehr sicher sagt er: „Ich wiederhole, heute sollte Alkohol getrunken werden, Chinesen haben eine Angewohnheit, wann immer es einen festlichen Tag gibt, trinken und feiern sie.
„So machen es Ausländer auch“ sagt sie, setzt sich hin und füllt sein Glas. „Aber, was ist denn heute für ein Festtag?“

„Dich zu sehen, das ist doch der beste Festtag,“ sagt er ernst, nimmt das Glas und stößt an ihr Glas. Ein zarter Klang, weich, klar, bewegend. Aufrichtig fügt er den Satz hinzu: „Herzlich willkommen zurück, Sybil!“

Sofort sind Tränen in ihren Augen. Sie hält das Weinglas an die Lippen, nimmt einen Schluck, lehnt sich langsam tief ins Sofa, die Ärmel des weißen Gewandes rutschen hoch, ihre Arme sind weiß und zart. Ihre Wimpern hängen nach unten, ihre klaren Augen sind halb verdeckt. Leichte Röte färbt ihre Wangen, ihre Lippen flattern, wie zwei Blütenblätter in der ersten Blüte. In ihrer Stimme liegt unkontrollierte Erregung:

„Vor drei Monaten wollte ich dich gleich besuchen! Ich habe tatsächlich drei Monate Zeit verschwendet! Das kann ich mir nicht verzeihen!“
Sie setzt das Weinglas zwischen ihren Rockfalten ab, beide Beine sind auf dem Sofa zusammengerollt, der Kopf ist an die Rückenlehne des Sofas zurückgelehnt. Das lange 
schwarze Haar breitet sich von dort aus wie eine Schicht aus schwarzem Samt. Ihre Wimpern sind vollständig verdeckt, dann senkt sie die Wimpern und deren Schatten fließt über ihre Wangen. Dann sagt sie leise seufzend: „Ich möchte nicht mehr fliegen. Ich bin so müde, so müde. Mann meiner Schwester, Schwiegerbruder, bitte, kümmere du dich um mich.“

Abrupt kommt er zur Besinnung. Er springt hoch. Sein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, er ist entgeistert. Sein größter Traum ist ihm genommen.

(Dies ist der Moment, in dem sein Herz geht, ein Gott es ihm genommen hat.)

 

 

3. Episode

 

Nach der Unterrichtsstunde hält Robert Wang einen gewaltigen Stapel englischer Literatur und Shakespeare im Arm. Er verlässt das Schulgebäude und begibt sich zu seinem privat gemieteten „Studenten-Wohnheim“. Das Institut „Englisch - Kunst und Wissenschaft“ liegt in einem Außenbezirk am Ufer des Flusses Tamsui an der Westgrenze der Stadt Taipeh. Berg und Meer, ruhige Umgebung, es ist ein ausgezeichneter Ort zum Lernen. Leider ist er zu weit von Taipeh entfernt und die Schlafplätze im Wohnheim sind begrenzt. Deswegen wohnen viele Studenten in einer gemieteten Wohnung im Stadtbezirk Tamsui. Es gibt viele Vermieter, die sich auf das Vermieten an Studenten spezialisiert haben: sie haben ihr Haus aufgeteilt in kleine Taubenkäfige und die vermieten sie an Studenten.

Robert Wang hat auch so ein „Studentenheim“-Zimmer, seins liegt in einer noblen Gegend, die Mieten sind entsprechend hoch. Es befindet sich am äußeren Rand der Stadt in einer Reihe von roten Backsteinhäusern. Ursprünglich wurden diese roten Backsteinhäuser gebaut, um als Hotel genutzt zu werden. Nach dem die Hälfte der Gebäude fertig gebaut war, hatte der Eigentümer kein Geld mehr um weiter zu bauen, Tamsui hat schließlich keinen Vergnügungsbezirk. Nun werden diese Häuser nur an Studenten vermietet.

Von dem Zimmer, in dem Robert Wang wohnt, kann man die Fischerfeuer im Hafen sehen. und auch das Grün des Golfplatzes. Aber wie alle Räume in denen Jungen in den Zwanzigern leben, ist das Zimmer immer unordentlich, viel zu voll und schmutzig - - - überall sind Bücher und Aufzeichnungen verstreut. Jedes Mal wenn er hineinkommt, hat er Schwierigkeiten, einen Platz für sich selbst zu finden. Er hat an diesen Schwierigkeiten nichts auszusetzen. Er denkt, alles ist gut, solange er frei und bequem leben kann. Es ist egal, ob es chaotisch ist – dies ist sein „Schneckenhaus“.

An diesem Nachmittag hält er die Bücher im Arm und ist auf dem Weg zu seinem „Schneckenhaus“. Die Schule ist gerade beendet, die Frühlingssonne ist warm, macht trunken und umhüllt ihn warm und weich. Vom Märtyrerschrein weht es nach Harz und Erde. Alles ist ihm wohlbekannt, genau wie die Tempelglocken, die ihm immer wieder von neuem dieses warme Gefühl eines mitfühlenden Herzens geben, das Ruhe und Frieden mit sich bringt.

Heute Nachmittag ist er sehr zufrieden.
Heute Nachmittag ist er sehr glücklich.
Heute Nachmittag glaubt er, dass Sonnenschein und Wind seine Freunde sind. Ohne jeden Grund könnte er lachen, singen, pfeifen und ein nettes Mädchen treffen. Seifenblasen!

Er umarmt seine Bücher, er geht auf dem Feldweg, der zum Märtyrer Schrein, zum Kiefernwald und zum prächtigen Tempel führt. Er pfeift vor sich hin, einfach so, ohne Erwartungen, sorglos. Da sieht er plötzlich einen ganz kleinen weißen Pekinesen-Hund mit einem Band um den Hals. Glöckchen klingeln daran und wie ein Schneeball springt der ihm vor die Füße. Er bleibt stehen. Wie komisch, dieses kleine Ding hier zu sehen. Er erinnert sich, dass er diesen Welpen in den letzten Tagen öfter gesehen hat. Ein Nachbar hat ihm erzählt,

der werde von einer neuen Familie aufgezogen. Er kniet sich nieder, um den Welpen zu fangen.
Das kleine Ding ist überraschend angstfrei, es hebt seine spritzigen Äuglein frech und freundlich und dreht sich behände zu ihm um. Er muss lachen, bückt sich, drückt es in seine Arme und kann nicht anders als ihm zuzuflüstern:

„Hallo, mein Kleiner, wo kommst du denn her? Hi, Kleiner, was ist denn mit deiner Nase passiert? Süßer, hast du dich verirrt? Oh!“ Plötzlich lacht er wieder, weil der Kleine die Zunge ausstreckt und sein Gesicht abzulecken beginnt. „Nein, das nicht! Hör auf mich abzuschlecken. Ich bin kitzlig. Oh, Oh, Gnade, Gnade! Oh, Oh! Ich spiele nicht mit dir Menschen ...“

„Hallo? Schneeball, Schneeball! Hallo! Kleiner Schneeball! Wo bist du?“

Eine wohlklingende Stimme klingt aus den dichten Bäumen hervor, ein eindeutiges Rufen. Der kleine Hund spitzt sofort die Ohren und grunzende Laute kommen aus seiner Kehle, vier kleine Pfoten stoßen und treten, um auf die Erde zu kommen. Robert mag ihn noch nicht auf die Erde setzen.

Plötzlich springt ein Mädchen aus dem Wald. Bevor Robert sie noch deutlich sehen kann, rast sie aus dem Wald heraus und wie der Wind um ihn herum und versucht, mit der Hand den Hund zu greifen, den er auf dem Arm hat und geht, wie bei einer Plünderung, wild auf ihn los:

„Warum nimmst du mir meinen kleinen Schneeball weg? Er hat ein Herrchen, kannst du dir das nicht vorstellen? Was willst du mit ihm machen? Ihn stehlen, stimmt’s? Mein letzter kleiner Hund, mein kleiner „Kohlebrikett“ wurde auch gestohlen. So gut wie gestohlen! Du bist ein Student, stimmt’s, du bist bestimmt nicht besonders intelligent, einfach stehlen ...“

„Hey, hey,“ er wird hier unglaublich beschimpft. Sein Zorn schießt ihm in den Kopf und er unterbricht sie laut. „Warum redest du so einen Quatsch? Wer hat deinen Hund gestohlen? Ich habe ihn mir nur aus Spaß angesehen, hab’ ihn nur aus Spaß hochgenommen. Wer kennt schon deinen Holzkohleball, deinen Tennisball, deinen Gummiball?“

Das Mädchen bleibt stehen und sieht ihn mit großen Augen an, auf ihrem Gesicht nur echte Verblüffung.

„Ich habe nur Kohleball und Schneeball, ich habe niemals einen Tennisball oder Gummiball gehabt. „Auch nie einen Holzkohleball.“

Als er sie so ernsthaft sprechen hört, ist seine Wut gleich verschwunden. Er möchte lachen. Jetzt erst richtet er seinen Blick auf das Mädchen vor ihm. Kurzes Haar mit einem Pony, das die Augenbrauen unter dem Pony verdeckt. Ein paar charaktervolle, zurückliegende, unruhige, runde Augen. Schwarze Augen, rund und groß, ein bisschen wie dieser „Schneeball“, rote Wangen, rote Lippen, kleine und leicht nach oben weisende Nase. Ein ziemlich schönes Gesicht, ein ziemlich junges Gesicht. Er guckt, wie sie angezogen ist. Ein weitfallender knallroter Pullover, ein hochgeschlagener Kaninchenfell Kragen, ein Paar Röhren- Jeans, die bis zu den Knien hochgerollt sind, an den Füßen ein Paar Reitstiefel. Um den Hals und an der Brust hängen viele kleine Schmuckstücke - eine getrocknete rote Chilischote, ein Feuerstein und eine Klinge! Sehr modisch! Sehr stilvoll! Sehr wild! Hübsch! Er holt tief Luft und

beginnt zu lächeln, ohne sich dessen bewusst zu sein. „Wie heißt du?“, fragt er geradeheraus.

„Das sagt ich dir nicht!“ sagt sie, hält ihren Schneeball fest im Arm und geht in Richtung Wald.

Er lehnt sich gegen eine Kiefer und sieht sie an, lächelt und sagt nichts. Der Sonnenschein heute ist so schön, die Wolken heute sind wunderschön, der Wind ist heute schön, der Wald ist heute auch schön - - - Was für ein schöner NachmittagBei so viel schönen Sachen, macht ein einziger Widerspenstiger gar nichts! Er starrt auf den roten Rücken, der schnell im Kiefernwald verschwindet. Plötzlich bleibt sie stehen, dreht den Kopf zu ihm zurück und sieht ihn an. Sie hat ein sehr schelmisches, charmantes und berührendes Lächeln auf den Lippen.

„Ich heiße Flora“, flüstert sie leise.

„Ach?“ Damit hat er nicht mehr gerechnet. Hastig, er würde gern noch länger mit ihr reden und muss irgendetwas sagen, damit sie ihm nicht entkommt. So sagt er den erstbesten Satz, der ihm einfällt: „Im Wald ist die Flora?“

Plötzlich lacht sie. Sie lacht fröhlich, klar, so frisch und sie dreht sich wieder zu ihm um und fragt noch immer lachend: „Gibt es außer Bäumen im Wald auch Flora? Oder vielleicht ein Mädchen Flora? Das möchtest du doch wissen?“

„Natürlich ist das alles dort zu finden“, er versucht sich zu verteidigen und sagt: „Es gibt ja auch das Flora Herbarium auf dem Hügel, die Flora in der Flora, die Flora Geheimnisse ...“ Er lacht: „Ach, hör nicht auf mein Gerede! Wie heißt du weiter? Flora...?“

„Oh, du kannst einen wahnsinnig machen! Das sage ich dir nicht!“ Sie stampft mit dem Fuß auf und dabei rutscht ihr der kleine Hund aus dem Arm. Blitzschnell verschwindet der im Wald. Er rennt hinter Tannenzapfen her, stöbert durch Blätter und jagt kleine Spatzen und ist sichtbar glücklich. Nun hat sie es eilig und will hinter ihrem „Schneeball“ herlaufen. Er stellt sich ihr in den Weg.

„Lass ihn laufen! Er kann nicht verloren gehen!“ „Wie kannst du das wissen“, fragt sie.
„Alle Hunde kennen ihr Herrchen.“

„Und wieso ist er dann dir in die Arme gelaufen?“
„Weil...“ er überlegt, wie er es sagen sollte: „er in mir sein Herrchen erkannt hat.“

„Du ...“ sie rollt mit den Augen und plustert ihre Wangen auf, dann kann sie mit einen „Hach“ ihr Lachen nicht zurückhalten.

„Du bist gut im Unsinn reden“, sagt sie „wie heißt du?“
Er äfft sie in Ton und Haltung nach und sagt: „Sag’ ich dir nicht!“

Sie schiebt ihr Kinn vor. „Nicht nur im Kinderbuch, heute bin ich ihm wieder begegnet: der Affe lebt!“ murmelt sie deutlich hörbar und dreht den Kopf, um nach „Schneeball“ zu suchen. Das kleine Ding ist so rund und fett, hat so kurze kleine Füße, er ist bereits auf dem Weg zu ihr. Die Zunge herausgestreckt und keuchend. Es ist nur eine Runde gelaufen und schon außer Atem.

Er steht zu Füßen seiner Herrin, legt sich ins Gras neben ihre Füße, streckt die Zunge aus und schnappt nach Luft. Voller Mitgefühl hockt sie sich nieder, setzt sich achtlos auf den Boden und reibt seinen kleinen Kopf mit beiden Händen und säuselt ihm zu:

„Schneeball, Schneeball, wohin gehst du? Beißt du mal diesen kleinen Bösewicht da?“

Ohne zu überlegen setzt sich Robert Wang mit gebeugten Knien neben sie nieder, er sieht ihre roten Wangen, ihre glänzenden Augen, dieses junge kindliche Gesicht und fühlt sich in seinem Herzen berührt. Er nimmt einen toten Ast vom Boden und schreibt in den Matsch die zwei Wörter „Robert Wang“ ( Jiang = Fluss, Hao = mächtig, gewaltig, gigantisch) und sieht sie an. Sie lächelt ihn an. Sie nimmt den toten Ast und neben die zwei Wörter Robert Wang schreibt sie die zwei Wörter „Flora Shu“.

Sie sehen sich eine Weile an. Ein Lächeln erfüllt die Augen von zwei Menschen. Er pfeift leise.

„Flora Shu“ – dein Name ist sehr schön.“
Sie schürzt die Lippen.
„Die Bedeutung deines Namens dagegen ist nicht so besonders.“ „Was?“ Er lacht.

„Ihr Mädchen seid doch alle gleich. Ihr seid darauf spezialisiert, die kleinste Kleinigkeit zu bemerken, im Ei noch nach Knochen zu suchen. Ich hatte früher eine Freundin, die war auch so.“

Sie rollt mit den Augen. „Deine frühere Freundin? Wo ist sie hingegangen?“ „Wer weiß?“

Er zuckt mit den Schultern. „Alle spielen nur miteinander, keiner nimmt mehr etwas ernst, nur Tanzen und Filme gucken. So ist das. Und jetzt? Achtzig Prozent sind jetzt die Freundin eines anderen“

Das Lächeln auf ihrem Gesicht ist verschwunden und ihr Gesicht zeigt nun Neugier, Sympathie und Mitleid.

„Du bist gebrochen?“ fragt sie gerade heraus. „Gebrochene Liebe?“
Er erschreckt, dann ist er überrascht und lacht nur.

„Ein Witz! Ich gebrochen vor Liebe? Nun rede mal keinen Unsinn! Robert Wang gebrochen vor Liebe? Du erkundigst dich nicht mal erst! Ich jage keinen Mädchen hinterher. Wenn ich hinter einem Mädchen her bin, um was für eine Art von Mädchen soll ich mich denn bemühen? Ich ‚aus Liebe gebrochen?’ Ich bin gar nicht verliebt! Welche Liebe kann ich da verlieren?“

Sie sieht ihn von der Seite an. Ihre Lippen sind noch mehr geschürzt. Sie beugt den Kopf runter, umarmt ihren kleinen Hund, mit der Hand streichelt sie seinen Kopf und murmelt:

„Schneeball, Schneeball, lass uns gehen und nicht mehr zuhören wie dieser Typ prahlt!“

Er sieht ihr kindliches Gesicht, hört den Vorwurf und findet das sehr interessant. Er streckt seine Hand aus und zieht an ihrer Kleidung.

„Geh’ nicht! Wo wohnst du?“ „In der Nähe des Waldes

„Bist du erst vor kurzem hierher gezogen?“ Sie nickt.

„Wie alt bist du?“
„Neunzehn:“
„Leuten was vormachen, das kannst du!“
Lachend fragt er:“ Bist du unterentwickelt? Also, du bist höchstens Sechzehn!“ „Quatsch!“

Sie springt unerwartet behände vom Boden auf, hält ihren Mantel mit beiden Händen fest um die Taille, was deutlich die Konturen ihrer Figur erkennen lässt. Ihr Gesicht ist errötet. Sie dreht sich. Sie hat eine schöne Haltung.

Sie sagt: „Siehst du? Ich bin schon ausgereift. Ich bin Neunzehn, ich belüge dich nicht.“

Er starrt sie an.
„Dann hast du also die Oberstufe schon abgeschlossen? Dein Abitur?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Nächstes Jahr werde ich meine Prüfung machen. Wenn ich vorher nicht gefeuert werde.“ „Gefeuert?“ Er ist geschockt. „Wieso könntest du gefeuert werden?“

Sie verzieht die Lippen zu einem gleichgültigen Gesichtsausdruck.
„Ich bin in Englisch sehr schlecht und in Mathematik kann ich auch nichts. Dann hat mir jemand einen Liebesbrief geschrieben und eine Nonne hat ihn gefunden.“

„Eine Nonne?“ Er runzelt die Stirn.

„Ich gehe in eine kirchliche Schule, zu diesen alten Nonnen! Sie selbst können nicht heiraten und hoffen nun, dass sich alle Mädchen in kleine Nonnen verwandeln! Das sind Psychopathen!“ sagt sie anklagend. Sie sieht verbittert hoch und ist überrascht über seinen besorgten Blick. Sofort lässt sie ihre Augenlider fallen.

Beunruhigt und auch ein bisschen verletzt verändern sich ihre Mundwinkel, ihr Gesicht. Sie nimmt ihren kleinen Hund wieder vom Boden auf den Arm und flüstert ihm zu: „ Schneeball, Schneeball, wir müssen gehen! Die Leute schauen auf uns runter.“

Sie dreht sich um und will losgehen. „Ich gehe. Mein Mund ist ganz trocken!“

Und wieder hält er sie fest. „Ich habe einen Vorschlag“, sagt er, „wir gehen zu meinem Schneckenhaus und da setzen wir uns hin, ok? Da habe ich Tee und Coca Cola und Äpfel.“

„Schneckenhaus? Was ist das denn?“ fragt sie: „Ist es Salat? Eine Art Essen? Bambussprossenpflanzen?“

Er lacht, „Nein, nein, mein Schneckenhaus kann man nicht essen. Schneckenhaus bedeutet, dass meine Wohnung das Haus einer Schnecke ist.“
Sie guckt ihn verwundert an. Ihre Augen sind groß, strahlend und schwarz weiß.

„Gibt es viele Schnecken in deinem Haus? Nein, nein, nein! Es tut mir leid, da gehe ich nicht hin. Dieses gnädige Fräulein hier fürchtet weder Himmel noch Erde, nur Insekten im Fleisch. Und was Schneckenarmeisenraupen betrifft, wenn ich nur daran denke, kribbelt es auf meinem Rücken.“

„Hör auf davon zu sprechen!“ Er lacht und schüttelt sich. „Was redest du? „Schneckenhaus“ beschreibt mein Haus als klein, schäbig und alt – eben wie ein Schneckenhaus.“

„Das muss es sein!“ sagt sie mit fester Stimme.
„Woher weißt du das so sicher?“
„Du nennst es „Schneckenhaus“, folglich bist du eine Schnecke!“

Er erschreckt, starrt sie an und sieht sie lächeln. „OK, du nennst mich eine Schnecke! Er streckt beide Hände über dem Kopf aus, wie die Hörner einer Schnecke, dreht sich und eilt auf sie zu und flüstert hörbar; „Die Schnecken kommen! Die Schnecken kommen!“

Sie rennt weg und schreit lachend: „Mach keinen Ärger! Mach keinen Ärger! Wo bist du denn wie eine Schnecke, du bist ein Nashorn!“

Er ist fassungslos und bricht in lautes Lachen aus. Sie fängt auch laut zu lachen an, ihr kurzes Haar flattert im Wind hoch, so dass man die zwei dunklen Augenbrauen sehen kann. Der kleine Hund in ihrer Hand ist von ihrem Laufen, Hüpfen, Lachen unglaublich aufgeregt. Er steht auf den Hinterbeinen, spitzt die Ohren und hört nicht auf laut „Wau, Wau“ zu bellen.

Freundschaft ist zwischen jungen Leuten sehr leicht aufzubauen. Es braucht nur einen kurzen Moment und sie sind so vertraut miteinander, als wären sie seit Jahren enge Freunde.

Nicht lange danach sitzt sie in diesem unaufgeräumten, unmöglichen Schneckenhaus und hört Musik. Er hat gute Audio-Anlagen. Obwohl er nicht alle vier Sender hat, hat er doch zwei Lautsprecher mit dreidimensionalen Effekten, sehr gute Geräte, einen Plattenspieler und akzeptable Musikaufzeichnungen auf Kassetten. Sie hat ihre Stiefel ausgezogen, barfüßig sitzt sie auf dem Boden mitten in diesem Stapel Bücher, Schallplattenhüllen, Kissen, Ziegelholzbrettern (Früher hatte er mit Ziegeln und Brettern ein Bücherregal gebaut, dann war das zusammengebrochen, er war zu faul gewesen, um es zu reparieren, danach sind die Bretter, Bücher und Ziegel schnell durcheinander gewürfelt liegen geblieben.) Nun sind in der einen Kiste die eine Hälfte der Bänder und in der anderen Kiste die andere Hälfte. Ein schönes Durcheinander! Das kleine Zimmer hat einen Schreibtisch, ein Bett, einen Stuhl, aber auf dem Schreibtisch ist kein bisschen Platz. Auf dem Stuhl liegt ein Haufen Kleider, auf dem Bett liegt eine kaputte Steppdecke.

Nirgends ist es so gemütlich wie auf dem Fußboden. Sie lehnt sich an die Wand vor der sie sitzt, nicht im geringsten bemerkt sie die Unordnung in dem kleinen Zimmer, stattdessen ist sie begeistert und neidisch: „Beeindruckend! Du bist so frei! Dieses kleine Zimmer ist großartig! Deine Eltern mischen sich in dein Leben nicht ein? Sie erlauben dir so ein Leben zu führen? Sie sind Heilige!“

„Sie sind nicht Heilige“, sagt er lachend und zieht aus einer Box unter dem Tisch eine Coca Cola hervor, öffnet die Flasche und gibt sie ihr. „Die wohnen in Tainan und können mich nicht kontrollieren! Und wie ist das bei dir so? Wohnst du bei deinen Eltern?“

„Bei meiner Großmutter, meine Eltern sind beide gestorben.“ Sie nimmt eine Schallplatte in die Hand, legt sie auf den Schallplattenspieler, der auf der Erde neben ihr steht und stellt sie an. „Oh!“ ruft sie fröhlich aus: „Diese Musik ist toll!“

Das ist „Disco“ Musik, der Beat ist schnell und wild. Sofort ist das ganze Zimmer vom Lärm der Musik erfüllt. Sie fängt an zu tanzen, barfuß, ganz im Rhythmus der Musik. Gekonnt führt sie den „Hasso-Sprung“ aus. Überrascht beobachtet er sie dabei mit gemischten Gefühlen. Sie scheint zum Tanzen geboren zu sein. Sie ist voller Rhythmus, voller Vitalität, eine Flamme, die brennt, wie eine tanzende Fackel.

„Komm!“ Sie klatscht in die Hände. „Wir tanzen!“

Er tritt gegen die Flaschen und Gläser und Buchkisten und beginnt gleich mit ihr zu tanzen. Sie lacht ihn ermunternd und er sie bewundernd an. Sie dreht sich wunderschön, dreht sich, schmeißt die Füße, berührt die Knie. Er ahmt sie unwillkürlich nach. Sehr schnell schon tanzen sie gut zusammen. Tanzen beschleunigt das Atmen, füllt den Raum mit Hitzewellen, lässt ihre Wangen rot werden und bringt die Augen zum Strahlen.

Der kleine Schneeball ist sehr aufgeregt. Wenn Flora und Robert zusammen tanzen, fängt er sofort an, die Fußsohlen der beiden zu fangen. Er kann auch nicht anders, als die Schallplattenhüllen in die Zimmerecke zu zerren und sie auseinander zu reißen und die Kassettenschachteln wie Knochen zu behandeln, die Umschläge von den Büchern abzuziehen und sie durch die Luft fliegen zu lassen. Dann entdeckt er, dass ein Loch im Kissen ist und einige Gänsefedern herausschauen und er beginnt die Federn herauszuziehen. Nachdem im ganzen Zimmer Federn herumfliegen, sieht er in diesen herumfliegenden Federn sofort imaginäre Feinde, die er gleich anknurrt, anbellt, attackiert, beißt, jagt und fängt. Nach einer Weile sind im Zimmer Geräusche von Disco Musik, wildem Tanzen, Hundegebell, einer Verfolgungsjagd, kurz: Geräusche größten Vergnügens.

Flora tanzt. Sie sieht, wie ihr Kleiner Schneeball im Zimmer herumjagt. Sie tanzt und lacht, ihre Wangen leuchten wie Feuer. Vor Lachen bekommt sie kaum noch Luft.

„Ist das toll! Robert, dein Schneckenhaus ist himmlisch! Wie lange war ich schon nicht mehr so glücklich. Robert, du bist genial! Ein großartiger Mensch! Du bist ein Künstler!“

Er fängt an zu schweben – strahlen, das ist Leben, noch nie ist er von einem Mädchen so direkt gelobt worden. Obwohl diese Komplimente etwas vage klingen, ist seine männliche Eitelkeit befriedigt.

„Warum bin ich ein Künstler?“ fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Du verstehst es, dein Leben nach deinen Wünschen einzurichten.“ Sie tanzt nah zu ihm und legt beide Hände um seine Taille mit Blick auf sein Gesicht, ihre Augen befinden sich genau gegenüber seinen Augen. „Zu leben verstehen, ist die allergrößte Kunst. Ich kenne viele Studenten, die nur Bücherwürmer sind!“ Sie hört plötzlich auf zu tanzen und sieht ihn an. Ihre großen, brennenden, hellen Augen starren ihn einen Moment an. Er ist verblüfft und sieht verdutzt aus, dann wird sein Gesicht rot.

„Was siehst du?“ fragt er mit rauer Stimme.

„Ich sehe dich!“ antwortet sie einfach und blinkt nicht einmal mit ihren langen Wimpern.

„Was siehst du?“

„Dich ----“, sie dehnt den Klang des Wortes, seufzt, und sagt dann sehr ehrlich, ernst und aufrichtig: „Du bist sehr hübsch!“

Sie hat ihn zum Erröten gebracht. Er fühlt sich unsicher und völlig verloren.

„Du bist ein mutiges Mädchen“, sagt er.
„Ich bin nicht mutig, ich bin nur offenherzig“, sagt sie und lacht.
„Gefällt dir denn ein Mädchen, das so tut, als ob es edel sei? Oder so, als ob es schüchtern wäre? Ich hasse Heuchelei! Ich sage, was ich denke und mache oder machen möchte. Ich will das Leben leben, das ich leben will. Ist daran etwas falsch? Du bist zum gut aussehenden Menschen heran gewachsen, also bist du hübsch. Deine Augenbrauen sind dicht, deine Augen sind hell, du hast auch einen ansprechenden Mund!“

„Du hast erst mal einen ansprechenden Mund“, sagt er. Ihm ist schwindlig und er fühlt sich ganz leicht, er hat das Gefühl, dass er noch leichter als die Gänsefedern durch das Zimmer fliegt. So leicht, wie ein Wasserstoff-Ballon, der bis zum Dach fliegt.

„Du bist erst mal hübsch! Deine Augen sind wie Sterne. Dein Mund ist wie Blütenblätter, deine Haare sind wie aus Satin - - -.“

„Ach du liebe Zeit!“ ruft sie laut und kann vor Lachen den Kopf nicht heben.

„Gleich werde ich taub! Gib nicht zu viel preis, ich muss am ganzen Körper Gänsehaut abwischen. Weg ist sie! Sag’ nichts, lass uns tanzen!“

Sie tanzen und lachen und schreien und machen Lärm - - - plötzlich klingelt das Telefon. Sie tanzt weiter, sagt beim Tanzen aber:„Das Telefon! Ich höre das Telefon klingeln.“

Ja, das Telefon. Robert sucht im ganzen Zimmer. Er findet es nirgends. Flora hilft ihm. Geht er hierhin, dann tanzt sie auch dorthin. Sie tanzt so, dass ihr Haar ganz durcheinander und aufgebauscht ist, ihre Augen sind ganz durchsichtig. Angesichts eines so jungen und charmanten Gesichts voller Vitalität und Lebensfreude fühlt sie sich wie betrunken. Es ist wirklich nicht leicht. Er liegt auf dem Bett und angelt in der Steppdecke nach dem Telefon. Er nimmt den Hörer. Sie hört Arthur Wang, der am anderen Ende geduldig mit tiefer Stimme freundlich fragt:„Was zum Teufel machst du? Das hat aber lange gedauert, bis du das Telefon abgenommen hast?“

„Oh, mein großer Bruder!“ Er schreit aufgeregt: „Entschuldigung, ich bin gerade am Tanzen...was? Du kannst mich nicht verstehen? Was? Ob ich mit dir Abendessen möchte? Warte mal...“

Er schaut zu Flora, die mit dem Tanzen aufgehört hat. Sie sieht ihn lächelnd an. Ihre Augen sind wie Sterne in der Nacht, ihr Gesicht ist rot wie Wein und ihre Lippen sind wie Kirschen.

„Großer Bruder „ sagt er mit entschuldigender Stimmt: „Heute Abend habe ich keine Zeit, ich kann nicht nach Taipeh kommen! Ich – ich – ich muss englische Literaturgeschichte vorbereiten!“

„Jüngerer Bruder“, sagt Arthur Wang sehr deutlich: „du hast immer noch das alte Problem: du stotterst, wenn du lügst.“

Kleiner Schneeball weiß nicht, was der Draht bedeuten soll, der in Roberts Hand endet. Er stürzt sich darauf und behandelt den Draht wieder wie einen imaginären Feind. Schnappt nach ihm, beißt nach ihm und bellt laut. Robert bemüht sich, den Hörer aus Schneeballs Reichweite zu bekommen, Flora bückt sich lachend. Robert greift mit einer Hand Schneeball, gleichzeitig ruft er ins Telefon „Großer Bruder, weißt du, alles ist in Ordnung... Geh’ weg! Schneeball! Oh ... Großer Bruder, ich habe dich nicht gemeint... Kleiner Schneeball, du Bastard! Oh ... Großer Bruder, ich meine nicht dich! Ich rede mit einem kleinen Hund. Oh, es geht mir sehr gut, ich bin nicht krank, ich habe kein Fieber mehr, ich lüge dich nicht an ... Furchtbar! Schneeball! ...“

Flora fällt mit einem Lachen aufs Bett.
„Jüngerer Bruder“, sagt Arthur Wang geduldig, „Was machst du wirklich? Hast du einen Abschlussball? Hast du Alkohol getrunken? Ist das vielleicht so?“

„Nein, großer Bruder. Keinen Tropfen Alkohol, auch keinen Abschlussball .... Schneeball! Du blöder Bastard, wie kannst du mir in die Nase beißen! Flora, du passt überhaupt nicht auf ihn auf! Du lässt ihn mich absichtlich ärgern. Furchtbar....“

„Jüngerer Bruder“, Arthur Wang seufzt: „Wie läuft dein Leben denn im Augenblick so? Bist du glücklich? Wenn ich deine Stimme höre, obwohl sie sehr komisch klingt, scheinst du sehr aufgeregt zu sein...“

„Ich bin glücklich, ich bin sehr glücklich! Ich war schon lange nicht mehr so
glücklich!“ Schnell sagt Robert: „Ok, großer Bruder! Ich muss dich ein anderes Mal anrufen, sonst kann ich jetzt meine Nase nicht schützen!“

Nach dem er aufgelegt hat, sieht er Flora an. „ Du gnadenloser Mensch!“ Laut brüllt er: „Du ermunterst Schneeball mir in die Nase zu beißen! Mit dir werde ich abrechnen!“

„Ja? Großer Bruder --- hab ich nicht, Großer Bruder, bin ich nicht, Großer Bruder...“ Sie versucht seinen Ton nachzumachen: „Du hast einen großen Bruder, ja?“

„Ja“, er beruhigt sich ein bisschen und macht nun ein feierliches Gesicht: „Ich habe den besten Bruder der Welt! Er hilft mir die Studiengebühren zu bezahlen, kümmert sich um die ganze Familie. Er hat mir das Abspielgerät gekauft und lässt mich leben wie ein König!“

Sie seufzt „So ein Glück hat nicht jeder Mensch!“ Er sieht sie an: „Du hast keine Geschwister?“ „Nein.“

Du würdest meinen großen Brüder mögen.“ Er fährt warmherzig fort: „Er ist 10 Jahre älter als ich. Er ist der beste Bruder der Welt! Warte ein bisschen, ich stelle ihn dir vor, dann kennst du ihn. Du wirst ihn bestimmt mögen! Er weiß viel, ist nachdenklich, kann viel und ist enthusiastisch!“

„Hmm!“ Sie zuckt mit den Schultern. „Es gibt solche Menschen, die man im Museum als leuchtendes Beispiel ausstellen kann!“

„Du.......“ er zieht die Augenbrauen hoch: „Mach über meinen Bruder keine Scherze...“

Sie beugt sich vor, um Schneeball hochzunehmen und schmiegt dann ihre Wangen an den pelzigen Rücken des Welpen und flüstert leise: „Schneeball, Schneeball, wir müssen los. Diese Schnecke hier ist wütend!“

Er lacht. Und da bleibt das Mädchen vor ihm stehen.

„Geh nicht!“ sagt er lächelnd: „Ich weigere mich nach Taipeh zu fahren, um mit meinen großen Bruder zu essen, um mit dir zusammen sein zu können! Du musst mit mir zusammen essen. Ich lade dich zu Gebratenen Austern ein.“

Sie schlägt die Wimpern hoch und fragt: „Und was ist, wenn ich dazu nicht bereit bin?“

„Bist du bereit?“ fragt er.
„Ich bin bereit.“ Sagt sie ohne Zögern.

 

 

4. Episode

 

Bei Einbruch der Dämmerung ist es nur windig, bis zur Nacht. Dann beginnt es erbarmungslos zu regnen. Erst wenig, dann heftig. Auch der Wind wird immer stürmischer. Es dauert nicht lange und an der Fensterscheibe rüttelt und regnet es, ding- ding-dong-dong- bäng. Unzählige Regentropfen rutschen am Fensterglas hinunter. Die Autos leben außerhalb der Fenster und fliegen vorbei, sie halten nicht an und werfen auf die Fenster Licht und Schatten. Diese Lichter und Schatten strahlen kurz auf die Regentropfen und machen aus ihnen lauter bunte Kristallkugeln.

Arthur Wang sitzt allein in seinem Apartment. Er sitzt auf dem großen Sofa vor dem Fenster. Neben ihm steht eine hellblaue Stehlampe, deren Licht ihn sanft umgibt. Auf seinen Knien ist das Manuskript des Buches „Der Schwarze Engel“ ausgebreitet. Er hat es schon mindestens dreimal von Anfang bis Ende gelesen und die Worte berühren ihn jedes Mal wieder. In der Hand hält er eine Tasse Tee, der bereits kalt geworden ist. Er wirft einen Blick auf die Regentropfen am Fenster. Im Zimmer ist es so ruhig und still, dass sich die Ruhe auch in seinem Herzen ausbreitet. Es ist so leise, dass man daran fast erstickt. Er sieht auf das Manuskript auf seinen Knien. Da ist wieder dieses kleine Gedicht:

Wenn der Abendwind durch die Fenstergitter streicht Wenn der nächtliche Nebel die Erde umhüllt
Wenn der Mann verlassen und einsam aufwacht
Steht der Schwarze Engel vorm Fenster und lächelt ihm zu.

Da, das scheint eine Beschreibung von ihm zu sein! Daran hat er noch nicht gedacht. Seine eigene Dämmerung vieler Nächte. So hat er es erlebt. Der Schwarze Engel, er hatte ursprünglich geglaubt, sie selbst käme in diesem Roman vor, sie würde den „Schwarzen Engel“ benutzen um damit Rache auszudrücken, Rache, Pest und Krieg. Wenn man den Inhalt kennt, ist diese Annahme absurd. „Der Schwarze Engel“ scheint ein hilfloses Schicksal zu symbolisieren. Dieser Roman ist mutig, er ist sehr europäisch, sehr märchenhaft und unrealistisch. Der Hintergrund der Geschichte ist ein kleines Fischerdorf in Großbritannien. Der Held ist ein Priester. Die Handlung ist einfach, aber sie reißt Leser mit. Der Priester ist das Idol der Dorfbewohner. Er ist liebenswürdig, jung, mutig, verantwortungsbewusst, wohlwollend und schön, tiefgreifend, ... er vereint auf sich alle denkbaren positiven Eigenschaften. Aber er ist ein Mensch und kein Gott. Er hat immer noch menschliche Wünsche, menschliche Gefühle, menschliche Schwächen. Er kämpft als Mensch und Gott in beiden Reichen. Im Dorf gibt es eine Bar. Da wohnt die Quelle der Sünde. Für die Fischer gibt es hier alles: Alkohol, Prostituierte, Glücksspiele. Und hier lebt eine Seele, die gerettet werden muss: eine Schwarze Frau.

Die Geschichte handelt davon, wie die Schwarze Frau und der Priester sich miteinander anfreunden. Der Priester will die Schwarze Frau retten. Wie Don Quijote, der das edle Sklaven-Mädchen verehrte. Am Schluss ist die Schwarze Frau über sein freundliches Verhalten ergriffen. Alles Böse fällt von ihr ab. Aber eines Abends macht der Priester etwas, was alle Menschen machen. Und dadurch kommt noch schlimmer, denn die Schwarze Frau wird schwanger. Er ist wütend auf sich, verzweifelt und auch wütend auf sie. Da wirft sich die Schwarze Frau leise ins Meer. Niemand kennt den wahren Grund dafür. Der Priester verbringt viele schlaflose Nächte. Eine Wahrheit erkennt er. Nämlich die, dass er auch nur ein Mensch ist und kein Gott. Er verlässt das Fischerdorf. Einige Jahre später lässt er sich in einer anderen Stadt nieder und wird ein erfolgreicher Geschäftsmann. Er nimmt eine Frau, lebt das normale Leben aller ’Menschen’, aber seine Frau bringt einen Engel zur Welt, nämlich ein gesundes Schwarzes Baby!

Arthur mag die Geschichte nicht. Sie ist zu märchenhaft, zu sehr nach ausländischem Geschmack. Da sind zu viele religiöse Ideen und zu viel Harmonie. Das klingt nicht nach einer Geschichte, die ein Chinese geschrieben hat. Aber Sybil ist in England aufgewachsen und darum kann sie nicht eine chinesische Geschichte schreiben! Was ihn schockiert, ist ihre raffinierte und scharfe Ausdrucksweise. Sie portraitiert die menschliche Natur mit tiefem Mitgefühl. Sie schreibt über Einsamkeit, sie schreibt über Sehnsüchte, sie schreibt über menschliche Instinkte, sie schreibt über zarteste Regungen zwischen Männern und Frauen ...... du lieber Himmel, sie ist einfach genial!

Der Regen vor dem Fenster ist noch heftiger geworden, er hört dem Regen zu, beobachtet die kleinen Lichtblitze auf den Regentropfen. Er kann nicht stillsitzen, will das Manuskript auf den Schreibtisch legen. Er steht auf, hält es in den Händen, geht im Zimmer herum, er läuft im Kreis, und noch einmal im Kreis ---- und steht schließlich vor ein paar herumliegenden Sachen unter anderem auch dem Telefon auf dem Schreibtisch. Er starrt es an.

Er denkt ein paar Minuten nach, dann nimmt er den Hörer und beginnt zu wählen ----- eine Nummer, die er erst vor kurzem auswendig gelernt hat. Das Telefon der anderen Partei klingelt, er hört zu. Ein Piepton, zwei Pieptöne, drei Pieptöne, vier Pieptöne, fünf Pieptöne --- - keiner nimmt ab, keiner ist zu Hause. Er weigert sich hartnäckig aufzulegen, unbeirrt hört er dem monotonen Klingelton zu. Schließlich seufzt er, legt den Hörer wieder auf die Gabel, starrt aber weiter auf das Telefon. Er weiß selbst nicht, was er tun will, was er tun soll oder was er tun könnte.

Nach einer ganzen Weile reißt er sich zusammen, sieht auf die Armbanduhr. Es ist abends zehn Minuten nach acht Uhr. Er könnte beispielsweise mit dem Auto nach Danshui fahren und Robert besuchen. Der Junge war kürzlich äußerst verrückt und mysteriös. Dass er sich bloß nicht mit schlechten Freunden zusammen tut, dass er bloß nicht anfängt Pot zu rauchen, denkt er und erinnert sich lebhaft an dessen strahlendes Gesicht und an dessen energiegeladene Stimme: „Großer Bruder, du glaubst nicht, dass es ein Mädchen wie Flora Shu auf der Welt gibt. Sie kann sich in einer halben Minute hundert Streiche ausdenken, die man spielen könnte!“

Aus Erfahrung weiß er, dass solche Mädchen reizend sind, aber auch gefährlich! Er nimmt den Hörer wieder hoch und wählt Roberts Telefonnummer.

Dingeling, dingeling, dingeling, klingelt es. Nonstop klingelt es weiter, aber es nimmt niemand ab. Ist da auch keiner zu Hause? In so einer regnerischen Nacht ist der auch nicht zu Hause? Vermutlich sind alle möglichen Mädchen bei ihm. Regen und Nacht sind für die Jugend keine Hindernisse. Er legt den Hörer auf und sieht aus dem Fenster. Zeit für eine Pause. Es entsteht eine Art trauriger Stille, ein Gefühl der Einsamkeit überkommt ihn, vollkommen, von Kopf bis Fuß. Er nähert sich der Fenster-Glastür und legt seine Stirn gegen das Glas. Er blickt auf den Shuttlebus auf der Straße; Autos sind wie fließendes Wasser und Pferde sind wie Drachen! Warum hält er das Fenster fest, lauscht den tiefgründigen Geräuschen des Windes, des Regens?

„Dingdong!“ Plötzlich klingelt es an der Tür. Er ist überrascht und erfrischt. Heute Abend, egal wer, ist jeder ein Retter aus der Einsamkeit. Er eilt zur Wohnungstür. Schnell öffnet er sie. Davor steht, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, Sybil.

Sie trägt einen violetten Zweiteiler. Das Oberteil reicht bis zu den Knien und die Hose hat die gleiche Farbe. Ihr langes Haar ist locker mit einem lila Stirnband zusammen gehalten. Über ihrem Zweiteiler trägt sie einen weißen Mantel. Ihr Haaransatz, auf der Stirn, auf der Nase, auf den Wimpern, alles ist mit winzigen Regentropfen bedeckt. Sie ist schlank und anmutig. In der Hand hält sie eine Papiertüte aus dem Supermarkt voll mit Brot, Marmelade, Butter, sowie anderen guten Produkten. Sie lächelt und sagt: „Ich habe noch kein Abendbrot gegessen. Ich weiß nicht, ob du mich einlädst. Ob ich hier etwas zu essen bekomme? Ich könnte natürlich in meine Wohnung zurückgehen und mir da Sandwiches machen. Aber ich bin so müde immer alleine zu essen.“

Sein Körper entspannt sich und die plötzliche Überraschung bringt sein Gesicht zum Leuchten.
„Ob ich dich willkommen heiße?“ Er schnappt nach Luft und sagt: „Was könnte ich mir mehr wünschen als genau das?“

Sie kommt herein und stellt die Lebensmitteltüte auf den Tisch, den Mantel wirft sie auf das Sofa, ihre Augen halten einen Augenblick sanft auf seinem Gesicht an und dann lässt sie kurz einen Blick durch den ganzen Raum schweifen.
„Oh“, sagt sie: „Du bist ja ein richtige Puritaner! Du lebst wirklich ein unabhängiges Leben. Schwer zu wissen, ob du ein Mensch bist, der einsam ist oder allein sein möchte?

Kann es sein, dass du übst ein Heiliger zu sein, mit reinem Herzen und wenigen Wünschen?“

Er erinnert sich plötzlich an den Priester im „Schwarzen Engel“. Er kann nicht anders, sofort überfällt ihn ein Schauder. Er sieht sie an, lächelnd sagt er: „Ich habe dich angerufen, wenigstens hundert Mal. Von früh morgens an warst du nicht zu Hause. Du warst für einige Tage verschwunden. Bist du so beschäftigt?“

„Geschäftigkeit ist die beste Medizin gegen Depressionen.“ Sagt sie und geht in die Küche und holt Messer, Gabeln, Teller „und den Dosenöffner. „Ich habe eine Flasche Rotwein mitgebracht. Würdest du mit mir etwas trinken?“

Er packt sie am Handgelenk. „Bist du deprimiert?“ Er sieht ihr tief in die Augen. „Warum? Sag es mir!“

Sie hält inne und erwidert ruhig seinen Blick. „Depression muss keine Ursache haben, stimmt’s? Melancholie ist wie ein zarter Wind, der einfach und leicht durchs Fenster herein kommt und den man nur schwer wieder hinausbekommen kann.“

„Du musst dein Fenster fester schließen“, sagt er.

Sie schüttelt den Kopf. „Ich bin gerade aus der Fenstertür hinaus gerannt. Der Wind, der überall ringsherum ist, fühlt sich besser an, als ein bisschen Wind.“ Sie drückt die Mundwinkel zusammen und lächelt schwach. Sieh mich nicht so an. Mir geht es gut, total normal. Jeder kann mal melancholisch werden. Melancholie ist dasselbe wie Glück, ein sehr alltägliches menschliches Gefühle.“

„Was hast du den ganzen Tag gemacht?“

„Oh“, sie zuckt mit den Schultern und schnaubt. „Ich bin in die Vororte gefahren, an den Strand, nach Dali. Kennst du Dali? Da gibt es einen Fischereihafen. Da fahre ich hin und sehe mir die Fischer an. Sie sitzen vor den Eingängen ihrer kleinen Häuser und reparieren ihre Fischernetze. Die alten Fischer haben viele Falten an Händen und Gesichtern, die ihren Seilen sehr gleichen.“

Er blickt sie überrascht an. „Für Fischerdörfer interessierst du dich sehr!“ Er denkt an den Schwarzen Engel.

Sie runzelt die Stirn und bekommt einen nachdenklichen Ausdruck in die Augen, dann hebt sie den Blick und lässt ihn über den Couchtisch schweifen. Da sieht sie ihr Manuskript vom „Schwarzen Engel“ liegen.

„Du hast meinen Roman endlich zu Ende gelesen!“

„Den habe ich schon lange zu Ende gelesen. Heute habe ich ihn zum dritten Mal gelesen.“

„Offensichtlich gefällt er dir nicht!“ Sie fixiert ihn.

„Warum?“

„Weil ich ihn auch nicht mehr mag.“

Sie hat leise und entschieden gesprochen, geht zum Couchtisch und stellt Teller und Brote hin und zwei Gläser. Sie macht aus dem Couchtisch einen Esstisch und gleichzeitig sagt sie:

„Erstens ist mein Roman weder chinesisch noch europäisch. Zweitens ist er märchenhaft und aber auch wieder nicht. Drittens, er ist ein Roman und auch keiner. Viertens, er hat keine Überzeugungskraft. Und fünftens ist er viel, viel, viel, viel zu weit von der Realität entfernt.“ Sie hat viermal das Viel hintereinander wiederholt, um diesen Nachteil hervorzuheben.

„Du musst dir um diese Sache keine Sorgen mehr machen. Ich bin doch nicht so dumm ihn publizieren zu lassen!“

„Sei doch nicht so empfindlich, ok?“ Er kommt zum Sofa und redet gleich weiter: „Tatsache ist, dass der Roman sehr gut geschrieben ist, er zieht die Leser ins Weiterlesen, er seziert die Menschheit, er stellt wichtige Fragen -----“

Sie schüttelt langsam den Kopf. Auf ihren Lippen schwebt ein sanftes Lächeln. Ihre Stimme ist klar, entschlossen und aufrichtig.

„Du musst es nicht machen, weil ich die kleine Schwester von Amanda bin und ich dadurch anders behandelt werde. Du darfst nicht aufgrund solcher Überlegungen Manuskripte bevorzugen. Aber am wichtigsten ist es einen Schriftsteller nicht unreif und zu früh zu veröffentlichen. Zu leicht bekommt er dann einen großen Namen und kann arrogant werden, blasiert und großkotzig! Das solltest du nicht, Arthur. Fördere nicht diese Art von Schriftstellern! Dann würdest du mich enttäuschen“

Er sieht sie an. Eindringlich sieht er sie an. Entschieden sieht er sie an und fest. Eine Weile fehlen ihm die Worte um zu antworten. Sie wirft ihr langes Haar schwungvoll zurück und sagt lachend:

„Ich weiß, du hast bereits Abendbrot gegessen - - - -“
„Woher weißt du das?“ unterbricht er sie.
„Das kann ich mir nicht vorstellen, dass du noch nicht gegessen hast.“ Fassungslos fragt sie: „Weißt du wie spät es jetzt ist?“

„Nach der Arbeit habe ich bei dir angerufen. Ich wollte dich zum Essen einladen“, sagt er, „aber bei dir zu Hause hat keiner das Telefon abgenommen. Wie du eben gesagt hast: ich bin es so leid alleine zu essen. Ich komme nach Hause, lese Manuskripte, höre den Regen, telefoniere.... Essen und solche Sachen vergesse ich!“

Sie blinzelt ihn eine Weile an.

„Es sieht so aus, als ob du wirklich jemanden brauchtest, der sich um dein Leben kümmert“, sagt sie. „Warum bist du noch nicht verheiratet? Wenn ich mich nicht täusche, bist du schon dreißig Jahre alt.“

„Möglicherweise“, er starrt sie immer noch an. „Ich warte.“

„Warten auf was?“ Ihre Wimpern leuchten auf und diese schwarzen Augen flackern unter den Augenlidern.

„Warten - - - -“ Seine Stimme ist leise wie ein Flüstern „ auf Amandas Auferstehung!“

Sie dreht sich schnell um und geht in die Küche.
Dabei sagt sie mit einer vorgetäuschten frischen Stimme, schwungvoll und fröhlich:

„Lass mich mal in deinen Kühlschrank sehen, ob es da etwas zu essen gibt. Im Ausland habe ich immer Toast Schinken Sandwich gegessen. Du magst solche Sachen bestimmt nicht zum Abendbrot. Ich kann dir auch gebratenen Reis mit Ei machen ----.“ Er hält sie an. „Mach dir keine Sorgen!“ sagt er, „Lass uns einfach ein bisschen essen. Und wenn wir nicht satt werden, können wir immer noch nachts etwas essen gehen!“

„Das ist auch gut!“ sagt sie einfach, setzt sich aufs Sofa und beginnt ein Brot zu essen. Sie isst und lacht dabei. „ehrlich gesagt, ich bin überhaupt nicht gern in der Küche!“

Er sitzt ihr gegenüber, trinkt Rotwein und isst von den Broten. Auf einmal ist es Frühling. Auf einmal ist die Einsamkeit zum Fenster hinaus. Auf einmal ist es warm in der Wohnung. Auf einmal ist vor dem Fenster immer noch Wind und der Regen ist heftig. Es ist aber auch schön, wenn es windig ist. Es ist auch schön, wenn es regnet. Sie isst sehr wenig, die meiste Zeit trinkt sie nur Wein und sieht ihn lächelnd an. Sie hat schon viele Menschen dazu gebracht etwas zu sagen.

Er isst auch sehr wenig, weil er beobachtet, wie sie ihn dazu bringt, etwas zu sagen. Zusammenhänge, die, im Vergleich zu den schwerstverständlichen Manuskripten, immer noch schwer zu verstehen sind. Er weiß nicht, wie sie es macht. Mehr oder weniger ihr ganzer Körper bringt noch etwas Einzigartiges mit, das schwer zu beschreiben ist, etwas
V erschlossenes.

„Ich war heute in Dali und habe beobachtet wie die Fischerboote zurückkommen“, sagt sie und benutzt beide Hände um das Weinglas zu halten. Ihre weißen Finger setzen sich stark vom Rotwein ab und werden durch das Licht ein schönes Rosa.

„Ich habe in dem Netz einige Fische gesehen, einige lebten noch, im Netz bewegten sie sich und sprangen sie noch.“ Nachdenklich sieht sie auf ihr Rotweinglas. „Arthur, hast du früher mal ein Fischleben erforscht?“

„Nein.“
„Wusstest du, dass Fische eine Art wunderschöne und erstaunliche Tiere sind?“

Sie hebt den Kopf und macht die Augen weit auf, der Blick aus ihren Augen ist lebhaft angeregt.
„Sie haben hübsche Fischschuppen. Alle Fischschuppen sind wie Edelsteine und reflektieren die Sonne und haben eine ganz bunte Aura. Sie haben ganz unterschiedliche Formen, wenn sie im Wasser schwimmen ist ihre Haltung so wunderbar wie die der besten Tänzer.“

Er ist von dem Blick in ihren Augen berührt.
„Und du gehst extra ans Meer um diese Tänzer zu studieren?“ „Ich sehe, wie sie im Netz kämpfen.“
Ihr Blick ist betrübt, ihre Stimme ist traurig.

„Ich stehe auf dem Felsen am Meer und blicke über das Meer. Der Ozean ist groß und breit, grenzenlos. Ich stehe dann da und denke, so ein großer Ozean und so ein kleiner, kleiner Fisch darin. Er ist wirklich winzig klein, winziger ginge es gar nicht. Der Ozean ist so groß, der kleine, kleine Fisch kann überall hin schwimmen. Warum sagen sie sich so viele, ich schwimme jetzt ins Fischernetz?“

„Du bist wirklich zu empfindsam, Sybil“, sagt er: „Für einen Fisch muss man nicht traurig sein, sonst kannst du schnell nicht mehr fröhlich werden.“

„Ich bin nicht wegen eines Fisches traurig.“ Sie sieht ihm fest in die Augen. „Fische gehen ins Netz weil der Fischer ein Netz ausgelegt hat. Und was ist mit Menschen?“

„Menschen?“ Er ist überrascht. „Was willst du damit sagen?“

„Menschen können auch in Netze gehen“, sagt sie leise. „Und diese Netze können vielleicht von einem selbst gewebt worden sein.“

„Du willst sagen - - - -“ er denkt nach. „Die Menschheit spinnt sich leicht in einen Kokon.“

Sie sieht ihn an, steht auf und trägt die Teller in die Küche. Erst zwei Schritte gegangen, bleibt sie plötzlich stehen. Auf einem Bücherregal hat sie einen Rahmen entdeckt. Sie geht zu ihm hin, die Teller in der Hand stellt sie nebenan auf das Regal. Sie streckt die Hand aus und nimmt den Rahmen. Im Rahmen ist das Foto eines jungen Menschen. Dieser junge Mann ist hübsch, äußerst britisch, energiegeladen und lacht über das ganze Gesicht, scheint die Freude der ganzen Welt zu sein, alle stehen versammelt unter seinen Augenbrauen.

„Das ist mein kleiner Bruder.“ Arthur geht zu ihr und sagt: „Ich bin in der Familie der große Bruder, darunter sind meine beiden jüngeren Schwestern, das ist das vierte Kind, mein jüngerer Bruder. Er heißt Robert. Meine beiden Schwestern sind schon verheiratet. Sie haben geheiratet und sind nach Amerika gegangen. In Taiwan ist nur mein kleiner Bruder, der in Danshui wohnt und studiert.“

Er streckt die Hand aus, wischt vorsichtig den Staub vom Rahmen. Er nimmt das Foto wie einen Schatz und gibt es ihr zum Anschauen.

„Mein kleiner Bruder sieht sehr hübsch aus, stimmt’s?“
„Sie betrachtet das Foto, dann ihn und sagt: „Nicht so hübsch wie der große Bruder.“ „Sag so etwas nicht, du bringst mich zum Erröten.“
Er nimmt den Rahmen vorsichtig und starrt den jungen Mann einen Moment an.

„Er war schwach und krank als Kind, die ganze Familie liebte ihn am meisten. Mit acht Jahren erkrankte er sehr schwer, er wäre fast gestorben. Seit damals behandeln wir ihn wie ein Baby. Jetzt ist er erwachsen. Er ist groß, stark und gesund, kann Ärger machen, Lachen und Freundinnen finden - - - . Oh, wenn du ihn kennenlernst, wirst du ihn bestimmt mögen. Er ist nicht so steif wie ich. Er kann Witze erzählen, liebt Musik, Tanzen, Literatur, Kunst - - - Oh, wenn du ihn kennenlernst...!“

Sie guckt ihn komisch an. „Ihr Brüder mögt euch wohl sehr gern, was?“

„Ja, sehr!“ Er nickt mit dem Kopf. „Sehr, sehr gern. Ich liebe ihn, genau wie Amanda ihn geliebt hat.“

Sie ist schockiert. Ein Schauder durchläuft sie unwillkürlich wie eine Welle. Er ignoriert nicht ihr Zittern und streckt die Hand nach ihr aus. Er hält ihre Hand in seiner. Er merkt, dass ihre Hand so kalt wie ein Stück Eis ist. Er erschrickt und fragt: „Was hast du?“

„Amanda mochte deinen kleinen Bruder?“ fragt sie.

„Sie hat ihn nie gesehen. Robert war immer in Tainan. Letztes Jahr hat er erst Abitur gemacht und hat die Universität begonnen, er ist gerade erst in den Norden gezogen.“

„Deine Eltern und Familie leben alle in Tainan? Sie haben Amanda alle nie kennen gelernt?“ „ Ja. Ich dachte, du wusstest das.“

„Amanda und du habt euch fünf Jahren geliebt und sie hat deine Familie nie gesehen?“ Sie sieht ihn verwirrt an.

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du sie niemals nach Tainan gebracht hast? Und deine Eltern nicht nach Taipeh gekommen sind um sie kennen zu lernen?“

Er ist ein bisschen erschrocken und wird plötzlich unruhig.

„Das verstehst du nicht, wir waren in der Zeit so beschäftigt - - - -.“ Er zögert, erläutern möchte er. Umständlich sagt er: „Ich wollte erst mal einen ganz kleinen Verlag, mit dem Fahrrad Bücher versenden, bei den Fahrten sind die Lymphdrüsen an beiden Beinen geschwollen. Deine große Schwester, sie - - - sie - - - - sie - - - sie war eine Heilige. Sie selbst musste tagsüber jeden Tag zum Unterricht und später zu ihren Vorlesungen. Abends hatte sie Teilzeitjobs, die halbe Nacht half sie mir dann noch beim Korrektur-Lesen - - - - Wir haben zu viel getan. Es war eine bittere Zeit. Wir haben so viel gearbeitet, dass wir keine Zeit fanden, um über Heiraten zu sprechen. Wir waren so ausgelaugt, wir hatten einfach keine Kraft mehr, um über Heiraten zu sprechen. Wir haben gewartet auf die Zeit, bis ich ein wenig Erfolg habe, bis wir uns unseren Problemen stellen können und da war sie schon tot.“

Er reißt sich zusammen, stützt sich am Regal. Seine Finger krallen sich um ihre und sinken in ihre Muskeln ein.

„Sybil, gib mir nicht die Schuld. Es gibt viele Dinge, die du nicht weißt!“ „Warum sollte ich dir wohl die Schuld geben!“ Sie hebt das Gesicht.

„Du hast meine Schwester so gut behandelt! Ihretwegen erträgst du Einsamkeit, bis jetzt. Oh ja!“

Sie seufzt tief, ihre Augen sind voller Mitgefühl und Zärtlichkeit.

„Mir ist aufgefallen, dass in deiner Wohnung kein einziges Foto von ihr steht. Kannst du es nicht ertragen, sie anzusehen? Hast du Angst, dich an sie zu erinnern? Du - - - “

Sie sieht ihm mitleidig tief in die Augen.

„Du musst nicht so viel leiden. Du verstellst dich. Deine Gefühle für meine Schwester, mögen sie auch unermesslich tief sein, ja, wie tiefes Wasser, aber auf die Dauer wird das Wasser immer flacher. Arthur!“

Leise ruft sie herzlich: „Du kannst dich nicht vor mir verstecken. Du hast meine Schwester geliebt, wie verrückt geliebt, wie wild. So sehr, dass es keinen Weg gibt sie zu vergessen. Ja, sogar so sehr, dass du außerstande bist dein Glück zurück zu gewinnen! Sie wusste, dass sie ohne Reue sterben würde!“

„Sybil!“ schreit er, getroffen durch ihre Worte. Eine Hitzewelle schießt ihm in die Augen. Und, als flösse geschmolzenes kochendes Eisen über seine Brust, beginnt jede Zelle in seinem Körper zu schmerzen.

„Sybil“, flüsterte er. „Mach mich nicht zu gut. Schreib keinen Romananfang.“

Sie unterbricht ihn. „Amanda hat mir einige Hundert Briefe geschrieben, in denen sie von dir erzählt hat. Ich verstehe dich, genauso, wie ich mich verstehe. Arthur, weißt du, was ich vermisse? Weißt du, warum ich nach Dali fahre und den Fischern zusehe? Weißt du, warum ich ans Meer fahre und die Felsen zähle? Weil - - - - ich vor dir Angst habe!“

„Sybil!“ schreit er und sein Gesicht wird bleich.

Von dem Tag an, an dem ich zu dir in den Verlag gekommen bin, um dich zu sehen, genau von dem Tag an habe ich Angst vor dir!“ Ihre Augenlider senken sich und ihr Gesicht wird vor Aufregung rot, ihre Stimme schnell und ängstlich und auch offenherzig. Hilflos, aufrecht und betrübt: „Ich kämpfe mit mir, ich bin voller Berge und Täler, ich laufe in der Wildnis, weil ich große, große Angst habe, dich zu sehen! Arthur, ich bin kein ängstlicher Mensch, ich sollte den Mut haben, mich der Wahrheit zu stellen. Ich habe diese Fische heute im Netz kämpfen sehen - - -“

Sie hebt den Blick, entschlossen, hilflos, unglücklich sieht sie ihn an.

„Ich glaube, ich bin auch einer von diesen Fischen, da ist ein weiter Ozean, in dem ich schwimmen kann, aber trotzdem wähle ich immer wieder das Netz!“

Sie öffnet die Arme: „Hier bin ich, im Netz! Ich ergebe mich!“

Schnell umarmt er sie, er drückt ihren Kopf fest auf seine Schulter, seine Lippen sind gegen ihr Ohr gepresst, aufgeregt schreit er:

„Ich bin kein Netz, Sybil! Ich bin höchstens eine Bucht, die für dich zum Schwimmen da ist!“

„Nein, du bist ein Netz“, sagt sie eigensinnig. „Weil du mich überhaupt nicht liebst! Wen du liebst, das ist meine Schwester. Du wartest darauf, dass sie wieder aufersteht. Ich bin die wieder auferstandene Amanda, ich bin nicht Sybil! Ich bin ein Ersatz! Weißt du, dass dieses Gefühl auf Sand aufgebaut ist? Weißt du, dass das für mich ein Netz ist?“

„Oh, Sybil, es ist unfair, das zu sagen, wenn ich gesagt habe, dass ich darauf warte, dass Amanda wieder aufersteht, habe ich auf keinen Fall das gemeint - - - “

„Hahaha! Sag das nicht!“ Sie presst ihre Finger auf seine Lippen, in ihren Augen ist eine Flamme voller Glanz, ihr Gesicht strahlt vor Brillanz in einer Art atemberaubender Schönheit und Edelmut.

„Es ist schwer für dich rundheraus zu erklären, warum du es besser findest weniger zu sagen, Arthur. Mach dir keine Sorgen, ich werde nicht auf meine verstorbene große Schwester eifersüchtig sein. Wenn es ein Netz gibt, bin ich freiwillig hineingegangen.“

Sie schließt die Augen, die Wimpern flattern, auch ihre Lippen zittern. “Küss mich!“ flüstert sie ihren offenen, warmen Befehl.

Er kann sich keine Gedanken mehr um andere machen, beugt seinen Kopf. Sofort nimmt er fest, tief und begeistert ihre Lippen und das scheint lauter Begeisterung in sein Leben zu bringen. Alles wird hier abgeladen, in diesem Kuss.

 

 

5. Episode

 

Der Friedhof im Vorort von Taipeh liegt ruhig im Tal.

Das Wetter ist immer noch kalt. Dicke schwere Wolken stapeln sich am Himmel. Nieselregen so fein wie Staub schwebt ganz weiß in der Luft. Der Wind bläst. Dieser feine Regennebel verschwindet plötzlich und ist mit einem Male wieder da. Die Zweige am Weg sind von Nebel und Regen nass. Dieser Nieselregen kann nicht einmal zu Tropfen kondensieren, er kann nur die Zweige nass werden lassen. Zwischen den gegenüber liegenden Blättern und den darüber liegenden Blättern, zwischen Berg und Berg, zwischen Fels und Fels, verbinden sich Regen und Nebel zwischen den Felsen wie ein großes graues Netz.

Langsam und einsam geht Sybil hinein. Sie trägt wieder ihren schwarzen Umhang. Sie ist
ganz in schwarz gekleidet. Um ihre Haare hat sie einen langen schwarzen Seidenschal geschlungen. Ohne Regenkleidung und auch ohne Regenschirm tritt sie langsam auf die abgefallenen Blätter, die auf dem Weg aufgehäuft sind. Diese abgefallenen Blätter sind dick und weich und von Regenwasser nass und machen bei jedem Schritt ein raschelndes Geräusch.

Sie überquert den vertrauten Weg, geht geradeswegs in die Berge und kommt zu dem Friedhof in diesem Gebirgstal. Auf dem Friedhof ist jeder Grabstein vom Regen nass. Ringsherum ist es ruhig, nicht das geringste Geräusch. Dies ist nicht die Jahreszeit für das Fegen von Gräbern.

Nach dem Tod werden Menschen leicht vergessen. Hier gibt es kein Auto, keine menschliche Stimme, keinen Schein einer Kerze. Hier ist nur die Stille und Einsamkeit des Todes.

Sie geht zu einem halbkreisförmigen Grab. Auf dem Grabstein ist kein Foto. Keine Lobrede, keine Beschreibung ihrer Tätigkeiten, nur einfach geschrieben:

“Grab von Fräulein Amanda,
geboren im 38. Jahr der Chinesischen Republik, gestorben 1983 im Alter von 25 Jahren“

Im Alter von fünfundzwanzig Jahren! Fünfundzwanzig Jahren! So jung! Genau das Alter, in dem Frühlingsblumen in voller Blüte stehen. Wie konnte sie da sterben? Wie konnte sie so früh, so leise nicht mehr sein? Sie seufzt leise. Sie öffnet ihren Umhang. Sie hält einen Strauß kostbarer Veilchen im Arm. Sie beugt sich vor, holt die Überreste aus einem Glasfläschchen vor dem Grab und legt sie zur Seite und stellt die Veilchen hinein. Plötzlich starrt sie eine Sekunde auf den herausgenommenen Ast. Sie erinnert sich, das letzte Mal hat sie ein paar Vergissmeinnicht mitgebracht, aber jetzt ist dieser Haufen Stoppeln verwelkter Löwenzahn.

Löwenzahn? Wie kann da Löwenzahn sein? Sie hebt die Überreste vom Boden auf und untersucht sie schweigend. Es ist keine Visitenkarte zwischen den Zweigen, kein Gebet, nur ein Sträußchen Löwenzahn! Die Blütenblätter mit dieser himmlischen Farbe sind nicht vollständig verwelkt. Im Herzen der Blüten sind Regentropfen. Es sieht aus, als seien diese

Blumen vor noch nicht langer Zeit gebracht worden, von wem? Wer kümmert sich außer ihr noch um dieses vorzeitig beendete Leben?

„Fräulein Ming, Sie sind wieder da!“ Eine Stimme lässt sie aufschrecken. Sie hebt den Kopf und sieht den alten Friedhofsbewacher, der wacklig zurückkommt, humpelnd holpernd kommt er auf sie zu. Sein Gesicht ist voller Falten und einem Lächeln der Gastfreundschaft. In solchem kalten Regen und Nebel begleitet von zahllosen kalten Grabstein-Geistern lebt er sein Leben. Er sollte sich wohl freuen ein oder zwei lebende Grabbesucher zu sehen!

„Onkel Lao, guten Tag!“ grüßt sie ihn freundlich. Aus ihrer Tasche holt sie zweihundert Yuan und steckt sie in die Baumwolltasche des alten Mannes.

„Sind die Rheumaschmerzen etwas besser geworden? Waren Sie beim Arzt?“

„Dank Ihnen, Fräulein Ming, viel besser!“ Er verbeugt sich und dankt ihr hastig. Während sie die violette Flasche hochhält, um sie mit Wasser zu füllen, wartet sie und stellt sie ab. Lächelnd sagt er: „Ich habe immer Ihre Anweisungen befolgt und immer schön sauber gefegt!“

„Danke, Onkel Lao.“ Sie sieht in der Hand den Löwenzahn und denkt nach. „Vor einigen Tagen ist ein Herr vorbei gekommen, stimmt’s?“ fragt sie.

„Ja“, antwortet Onkel Lao warmherzig. „Er brachte Blumen, stand eine Weile davor, er wieder ging. An dem Tag hat es auch geregnet, seine Haare waren ganz nass.“

„Wie sah er aus?“

„Wie er aussah?“ Der alte Lao ist bestürzt, kratzt sich am Kopf. Er bemüht sich seine Erinnerung zu finden. „Ich erinnere mich nur, dass er sehr groß war und nicht alt.“

„Ist er vorher schon einmal da gewesen? Bevor ich gekommen bin?“

„Ja, er ist schon vorher gekommen. Jedes Mal bleibt er eine Weile stehen und geht dann. Er bringt immer Löwenzahn. Er ist bestimmt arm - - - .“

„Warum?“

„Löwenzahn sind doch sehr billige Blumen! Man kann sie am Straßenrand pflücken! Sie wachsen am Fuße des Berges in großer Zahl. Kann sein, dass er sie am Fuße des Berges gepflückt hat!“

Sie schweigt. Schweigend und nachdenklich steht sie da. Regentropfen fallen auf ihren Seidenschal. Der Seidenschal ist bereits durchgeweicht. Nach ziemlich langer Zeit hebt sie den Kopf. Plötzlich merkt sie, dass der Alte Lao immer noch neben ihr steht. Sie hebt die Hand und winkt: „Geh du jetzt nach Hause und bleib nicht im Regen und in der Kälte. Ich bleibe noch ein bisschen und dann gehe ich auch.“

„Gut, Fräulein“, sagt der alte Lao gehorsam. Der kalte Wind ist ihm offensichtlich zu viel geworden. Er dreht sich um, wackelig und humpelnd geht er zu seiner Holzhütte zurück, um Schutz zu finden vor Regen und Wind. Sybil sieht seinen Rücken. Sie denkt konfus, dieser einsame alte Mann wird eines Tages einer von den Menschen in diesen Gräbern sein, wer

wird ihn dann besuchen? Wer wird sich dazu aufopfern? Daran denkt sie, alle Menschenleben sind gleich. Es muss den Tod geben. Vom ersten Tag der Geburt an ist der Mensch dazu bestimmt dem Tod ins Auge zu sehen und dann, wer kümmert sich dann um ihn? Müde sieht sie auf die Grabsteine, hört das Geräusch des Windes, sieht die riesigen Regenwolken am Himmel und, sie kann nicht anders und muss an diesen Satz aus der „Roten Kammer“ denken:

„Seidenweidenbaum aus Fangfei,
unabhängig von Tao Piao und Li Fei,
wird Lin Li nächstes Jahr wieder veröffentlichen?
Wer weiß, wer im nächsten Jahr in meinem Boudoir weilt? .... Lasst uns zurückdenken,
wie die Frühlingsblumen allmählich fielen,
als Hong Yan an Altersschwäche starb.
Sobald der Frühling vorbei ist,
verwelken die Blumen und
die Menschen sterben.“

(Persönliche Bemerkung dazu: Der “Traum der roten Kammer“ ist ein chinesischer Klassiker. --- Mehr habe ich nicht aus den chinesischen Zeichen herauszuholen geschafft. Das nächste Zitat ist noch verzweifelter übersetzt. Aber ich habe es versucht und man bekommt vielleicht den Hauch eines Eindrucks.)

Sie denkt eine Weile darüber nach und kann nicht anders, als von Gefühlen überschwemmt zu werden. Ein Bad aus kaltem Regen. Sie weiß nicht, wo sie ist. Es dauert lange, bis sie sich erholt hat. Sie schaut runter und befindet sich unwissentlich bei den restlichen Blütenblättern des Löwenzahnbundes, abgerissen und auf dem Boden verstreut. Auf dem Grabstein, auf den Stufen, auf dem Geländer - - - alles ist voller gelber Blütenblätter. Und wieder muss sie an einen Satz aus der „roten Kammer“ denken:

Wo sind Xiang Qiu, Ruo Jin ernten sie verfallene Knochen? Einen Becher für reines Land um den Wind zu bedecken? Saubere Qualität, kommt und geht. Lehre, keine Verschmutzung die im Graben versinkt.

Sie fühlt einen Schmerz in ihrem Herzen, ein unaussprechliches Elend überfällt sie. Sie kann nicht anders, als mit beiden Händen den Stein vor dem Grab zu pressen, sie schließt die Augen. Stimmlos flüstert sie leise:

„Amanda, Amanda, bitte hilf mir!“
Öffne deine Augen! Aber das Grab ist ohne Worte, das Denkmal ist sprachlos.

Um sie herum ist es immer noch so ruhig, so leise. Wind und Regen sind immer noch trostlos. Sie seufzt. Die Veilchen hat sie zur Seite gelegt. Wer bringt den Löwenzahn? Wer besucht Amanda? Außer ihr, wer noch? Aber, warum sollte sie allein kommen? Wenn er auch kommen will, könnte er mit ihr zusammen kommen! Also, wagt er es nicht, sie zu treffen? Warum? Fühlt er sich schuldig? Ist es ihm peinlich? Fürchtet er, mit ihr zusammen Amandas Geist zu treffen? Amanda, Amanda, du bist tot, aber bist eine Seele. Du solltest dich deiner verlorenen kleinen Schwester zeigen! Auf dem Friedhof gibt es Wind und Regen, aber keine Antwort. Sie seufzt wieder, dann dreht sie sich um und verschwindet langsam im Nebel.

Eine Stunde später sitzt sie in einem Café und schluckt konzentriert den sehr heißen Kaffee. Sie lehnt sich zurück in ein Sofa mit hohem Rückenteil. Nachdenklich schaut sie in eine kleine Blumenvase auf dem Tisch. In der Vase stehen Zweige mit Rosenknospen. Sie starrt auf die Rosen und sieht auf ihre Armbanduhr. Sie erwartet ungeduldig jemanden. Einsam und nachdenklich sieht sie aus. Nach einer langen Zeit kommt hastig eine junge Frau herein, sieht sich um, dann geht direkt zu ihr hinüber. Sie hebt den Kopf und sagt freundlich.

„Entschuldige, Schwester Ya Ping. Ich habe dich wiedergefunden. Setz dich doch. Möchtest du einen kleinen Imbiss?“

„Auf keinen Fall!“ Die junge Frau setzt sich, zieht ihren Mantel aus. Darunter trägt sie eine rote Strumpfhose und einen schwarzen Rock. Sie ist rundlich und großzügig.

„Ich bin auf Diät, führe mich nicht in Versuchung. Ich möchte nur eine Tasse schwarzen Kaffee. Weißt du, wie alle in meinem Alter, fürchte ich nichts mehr als dick zu sein.“

„Du und meine Schwester, wart ihr gleichaltrig?“ fragt sie und seufzt. „Wenn meine Schwester noch lebte, würde sie auch fürchten dick zu werden?“

Ya Ping sieht sie an, rührt mit dem kleinen Löffel den Kaffee um und sagt warmherzig: „Sybil, bist du noch nicht frei vom Schatten ihres Todes? Was vergangen ist, ist vergangen. Sei nicht mehr traurig! OK? Ich weiß, dass ihr Schwestern sehr unterschiedlich wart und so früh schon euren Vater verloren habt. Eure Mutter hat wieder geheiratet. Ihr wart euch näher als es Schwestern normalerweise sind. Aber, wenn Menschen gestorben sind, dann sind sie gestorben. Wer lebt muss gut leben. Sybil, sag, was ist es, dass du mich fragen möchtest? Ich kann nicht lange bleiben. Mein Mann kommt bald von der Arbeit. Auf meine beiden Kinder passt das Hausmädchen auf. ....“

„Ich will dich nicht lange aufhalten, Ya Ping“, sagt Sybil schnell. „Ich möchte dich nur eine Sache fragen!“

„Was ich sagen möchte ist dies, ich habe dir schon alles gesagt, Sybil.“

Ya Ping trinkt einen Schluck Kaffee und sagt mit einem leichten Stirnrunzeln:
„Nach dem Ende des Studiums hatten wir Klassenkameraden mit Amanda nicht viel Kontakt. Alle waren damit beschäftigt ins Ausland zu gehen. Es gab wenig Kontakt zwischen den Klassenkameraden. Außerdem begann sie in ihrem letzten Jahr Sport zu studieren.“

„Was?“ Sybil ist plötzlich überrascht. „Sie hat mit dem Studium aufgehört im letzten Jahr? Sie hat keinen Abschluss gemacht?“

„Habe ich dir das nicht schon gesagt?“ sagt Ya Ping überrascht. “Ich erinnere mich, dass ich dir das gesagt habe.

„Nein, das hast du nicht gesagt.“ Sie schaut auf die Rose in der Flasche. „Warum hat sie abgebrochen?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“ Ya Ping legt die Wange in die Hand. Sie ist ein wenig beunruhigt.

„Sybil, man kann einfach so sterben. Der Krug geht so lange zu Wasser bis er bricht. Du warst in England und während du mir Briefe geschrieben hast, musste ich so tun, als ob nichts wäre.“

„Ich bin dir nicht egal, Größere Schwester“, sagt Sybil mit mitfühlender Stimme. „Du warst Amandas beste Freundin, von klein an habe ich dich größere Schwester genannt. Ich kann dir nicht egal sein.“

„Kleiner Teufel!“ sagt Ya Ping in vorwurfsvollen Ton lachend.

„Ich kann dir nicht helfen. Als deine Schwester und ich uns so gut verstanden haben, hattest du noch nicht das Land verlassen. Und gleich als du weg warst, hat sich deine große Schwester verändert.“

„Wie, verändert?

„Sie wurde gleichgültig, sie entfremdete sich von den Klassenkameraden. Sybil, ich habe es schon einmal gesagt und du solltest alles über sie wissen. Du musst ja nur ihren Freund fragen! Sie liebte diesen großen A, A großgeschrieben, sie glaubte an die große wahre Liebe, Verrückt! Den ganzen Tag wollte sie nur mit ihm zusammen sein. Von den Kommilitonen hat sie sich weit entfernt. Damals hat Zhao MuYuan sie zu Tode verfolgt...“

„ Zhao Muyuan?“ murmelt sie.

„Der große Typ in der Sportabteilung, Amanda gab ihm einen Spitznamen. King Kong hat sie ihn genannt. Er ist jetzt verheiratet. Vor nicht langer Zeit habe ich ihn getroffen. Und rate mal, seine Frau ist dünn und klein. Nur um ihn besser aussehen zu lassen.“

„Zhao Muyuan ........“ Sybil beißt sich auf die Lippen. „Wo wohnt er? Hast du seine Adresse?“

„Sybil!“ ruft Ya Ping. „Du kannst das jetzt nicht jedem aus unserer Klasse erzählen! Zhao Muyuan ist jetzt verheiratet, die Leute sind glücklich! Es kann doch nicht sein, dass du willst, dass seine Ehefrau erfährt, dass ihr Mann vor ihr wegen einer anderen Frau mal durchgedreht ist? Sybil, du willst doch nicht Feuer legen, ok? Jetzt machen wir mal Nägel mit Köpfen: zwischen Zhao Muyuan und dem Tod deiner Schwester gibt es keine Verbindung!“

„Ok“, sagt Sybil geduldig. „Rede ruhig weiter!“

„Was soll ich noch sagen?“ fragt Ya Ping überrascht und sieht auf ihre Armbanduhr. „Ich muss jetzt gehen. Ich muss für meinen Mann noch Abendbrot zubereiten. Eine verheiratete Frau hat wenig freie Zeit!“

„Größere Schwester“, sagt Sybil weich, zaghaft, ihre Stirn voller Sorgen, ihre Stimme voller Schmerz und Trauer. „Du läufst vor mir weg! Du willst mir etwas verbergen! Du bist nicht mehr die frühere warmherzige Größere Schwester.“

Die Traurigkeit und der Schmerz in ihrem Ton treffen Ya Ping. Sie starrt Sybil an, milde geworden durch deren Sorge und Klagen, die ihre mütterliche Zärtlichkeit und Begeisterung hervorrufen, kann sie nicht anders und erklärt:

„Sybil, Sag das nicht! Sieh mal. Du hast mich angerufen und ich bin gleich gekommen. Ich war früher deine Größere Schwester. Mit Amanda zusammen war ich deine große Schwester, die mit dir Bootsfahrten gemacht hat und Schwimmen gegangen ist! Also gut, Sybil, du sagst du möchtest eine Sache fragen, was ist das denn?“

„ Erinnerst du dich, dass Amanda die Angewohnheit hatte ein Tagebuch zu führen?“

„Ja.“

„Wo sind die Tagebücher nach ihrem Tod hingekommen?“

Ya Ping denkt nach. „Ich weiß es nicht.“ Sie überlegt weiter. „Vielleicht sind sie bei ihrem Freund. Nach ihrem Tod hat diese Person alle ihre Sachen weggeholt.“

Sybil nickt. Unbewusst zieht sie mit beiden Händen an den Blättern der Rose in der Flasche. „Ich muss wirklich gehen“, Ya Ping springt auf und sieht Sybil an. „Gehst du nicht?“

„Ich bleibe noch ein bisschen sitzen.“ Sagt Sybil mit einem traurigen kleinen Lächeln. “Danke, dass du gekommen bist, größere Schwester.“

Ya Ping streckt ihre Hand aus und drückt ihre Schulter. Sie blickt sie aufrichtig an, dann beugt sie sich vor. Freundlich und ermunternd sagt sie: „Hör auf meinen Rat, ok?“

„Der ist?“

„Gehe wegen Amanda der Sache nicht auf den Grund, Sybil. Sie ist auf jeden Fall tot. Du suchst den Grund ihres Selbstmordes. Sie kann nicht wieder auferstehen. Lass sie gehen! Sybil, deine Schwester hat während ihres Lebens dich am meisten geliebt. Wenn sie wüsste, dass du so verzweifelt um sie bist, sie käme aus der Quelle herunter, weil du ihr Leid tust. Ist es nicht so?“

Sie schweigt, Ihr Blick ist fest auf die Rosenblätter in ihrer Hand geheftet. Eine Rose hat sie inzwischen schon völlig in ihre Einzelteile zerlegt. Vorsichtig reißt sie die Blütenblätter Blatt für Blatt ab, zerpflückt sie dann in kleine Stücke und schließlich liegt vor ihr ein kleiner Haufen verfallener Blumenhäuser. Danach, beginnt sie weitere Blätter in ihre Einzelteile zu zerlegen. Ya Ping beobachtet sie und seufzt. Dann flüstert sie:

„Wenn sie damals mit euch nach England gegangen, wäre so etwas nicht passiert. Alles ist Schicksal und dein Schicksal akzeptierst du!“

Sie beißt die Zähne zusammen.

„Jeder Unfall kann Schicksal sein“, sagt sie durch die Zähne: „Selbstmord ist nicht Schicksal! Wenn eine Person ihr Leben aufgeben will, ist sie bereits am Boden zerstört. “

Sie zerpflückt die Blume weiter. „ Komisch, das Gesetz verurteilt nie einen Menschen wegen seines bösen Herzens! Wenn es einen Autounfall gibt, entgeht der Fahrer nicht der Anklage des Totschlags! Und was ist mit der Empathie? Es hat nie ein Verbrechen im Gesetz gegeben das als Verbrechen der Empathie bezeichnet wird!“

Ya Ping tätschelt ihre Schulter. „Denk nicht zu viel nach, Sybil. Das Gesetz verurteilt nur menschliches Verhalten, nicht menschliche Gefühle.“

Sie starrt auf die zerrupften Blütenblätter in ihrer Hand und bleibt still. Ya Ping sieht sie an. Schließlich sagt sie: „Ich gehe!“ Sie sieht zu wie Ya Ping geht. Dann sitzt sie da, eine ganze Weile, bis sie sich bewegt. Im Café ist das Licht schon gedimmt. Der Kronleuchter an der Decke ist seit irgendwann an. Sie sitzt weiter da, bewegungslos und ohne etwas zu sagen. Es dauert eine ganze Weile, bis sie langsam aufsteht. Sie geht zum öffentlichen Telefon und wählt eine Nummer.

„Arthur? Hier ist Sybil“, sagt sie.

„Sybil!“ der Klang von Arthurs warmer Stimme ist sofort ängstlich. „Wo bist du? Warum gehst du immer verloren? Ich habe den ganzen Tag nach dir angerufen, dich gesucht.“

„Ich bin in einem Café, es heißt “Herz Poesie“. Kennst du es?“ „Nie gehört. Welche Straße?“
„Shilin.“
„Shilin! Was willst du denn in der Shilin?“

„Ich bin hier und warte auf dich,“ sie schaut auf die Uhr: „ ich gebe dir 30 Minuten, mehr nicht!“

„Hallo, Hallo...“

Sie legt das Telefon auf, geht zurück zu ihrem Platz und bestellt noch einen Kaffee, steckt sich eine Zigarette an. Sehr langsam zieht sie an der Zigarette, langsam entstehen Wolken und Rauch. Sie hebt den Blick, verfolgt Rauch und Wolken und tut noch einen Zug und stößt einen Rauchring aus. Dann sieht sie auf dem Tisch die Blütenblätter und spielt mit den Fingern mit ihnen. Sie fügt die gebrochenen Rosenblätter zu einem Herzen und formt dann mit einem Streichholz ein Kreuz auf die Herzform und legt ein zweites Kreuz... und löscht den Rauch. Da ist ein Schatten vor ihr, sie hört diesen Mann, sein schweres Atmen. Sie hat die ganze Herzform völlig durcheinander gebracht. Sie hebt den Kopf, berührt Arthurs strahlende Augen, keuchend setzt er sich ihr gegenüber.

„Hast du den 007 Film gesehen?“ fragt er. „Wie?“ Sie ist verwirrt.

„In diesem Film gibt es eine Art elektronischer Tracker, ich weiß auch nicht, wo man den kaufen kann.“

„Warum?“

„Du musst einen an dir haben und egal wohin du gehst, weiß ich es gleich. Du bist wie ein fliegender Vogel, ich kann nie vorhersagen, wohin du jeden Tag gehst.

Sie lacht und steht auf. „Wir gehen raus und laufen ein ein wenig, ich sitze hier nämlich schon ganz lange.“

Er sieht den Kaffeebecher, aus dem Ya Ping getrunken hat.

„Du bist nicht allein?“ sagt er.

„Also.“ Sie schnaubt und zieht die Augenbrauen hoch. „Mein Freund und ich unterhalten uns hier. Halb geredet, er ist weg, allein ist mir so langweilig. Darum musste ich dich anrufen, um die Lücke auszufüllen.“

Sie fixiert ihn, da ist ein komplizierter Blick in seinen Augen, um seine Mundwinkel spielt ein schwaches Lächeln. „Zufrieden?“

Er seufzt und steht auf. „Ich kann nur dich sehen, da bleibt nichts zu wünschen übrig.“

Sie blinzelt ihn an. „Du bist ein großartiger Redner! Wie Amanda sagte, du bist klug, tüchtig, humorvoll, kannst reden! Diese Art von Männern ist die Nemesis, die griechische Rachegöttin, von Frauen!“

„Was?“ er sieht sie und sie verlassen das Café. „Ich allerdings glaube, du bist die Nesmesis von Männern!“

„Wie sieht man das?“
„Du bist ein Fisch.“ Er seufzt schwach. „Was?“

„Erinnerst du dich an die Fische, die du studiert hast? Sie haben eine höchst wunderbare Biologie. Sie haben hunderttausend Fischschuppen. Jede Fischschuppe sieht aus wie ein Edelstein. Wenn sie die Sonne reflektieren, haben sie fünf Gesichter. Sie haben alle Arten von Formen. Im Wasser schwimmen sie und sie sind fantastische Tänzer. Und sie sind glatt und zart, man kann sie nicht greifen, man kann sie nicht fangen, sie schwimmen dann in alle Richtungen, ins Meer und in die Flüsse, in Felshöhlen. Du weißt nie, wohin sie gehen.“

Sie schlägt die Wimpern hoch, die pechschwarzen Augen scheinen mit Nebel bedeckt. Das schwache Licht der Straßenlaterne färbt ihr Gesicht sanft, ein Tropfen Regen schimmert auf ihrer Nasenspitze. Sie streckt die Hand aus und nimmt seine Hand. Ihre Hand ist weich und sanft.

„Halt mich fest“, sagt sie leise. Ihre Stimme ist weich wie im Traum. „Ich will nicht zum Meer fliehen. Ich will das schon lange nicht mehr.“

Sie halten vor seinem Wagen an. Sie zögert ein bisschen.

„Lassen uns etwas laufen, ja?“ Sie hält seinen Arm fest. „Wenn du auch Bock auf einen Spaziergang im Regen hast.“

„Mit dir zusammen habe ich auf jeden Fall Bock.“ „Und als du mit Amanda zusammen warst?“

Sein Arm wird plötzlich hart. „Sybil“, sagt er in leichtem Ton: „Kann ich eine Bedingung stellen . . . dich bitten, dass du von jetzt an ....“

„Nicht mehr Amanda erwähnst?“ beendet sie schnell seinen Satz.

Sie beobachtet ihn. Es ist Schmerz in seinen Augen, Geduld, ein qualvoller Blick. Seine beiden buschigen Augenbrauen sind eng zusammengezogen, die Muskeln seiner Lippen sind angespannt, er beißt die Zähne zusammen. Nach einer ganzen Weile entspannen sich die Gesichtsmuskeln und er seufzt.

„Nein, du kannst sie erwähnen. Es ist unfair, dich zu bitten, sie nicht zu erwähnen. Sie war schließlich deine Schwester. Sonst kann ich dich nicht kennenlernen.“

Ihr Herz wird eine Kugel, Wut brennt plötzlich in ihrer Brust und diese Flamme breitet sich schnell aus und brennt in jeder Zelle, jeder Faser von ihr.

„Ich würde es vorziehen, wenn du mein Schwager wärst. Ich will nicht, dass meine Schwester nur eine Vermittlerin zwischen uns ist!!“ Sagt sie laut. Plötzlich schießen zwei Tränen in ihre Augenhöhlen.

„Wolltest du, dass meine Schwester stirbt? Damit wir uns kennenlernen? Du ...“ ihre Stimme ist nicht stabil, nicht wütend.

„So grausam! So rücksichtslos! Wirklich undankbar!“ Ihre Serie von tränenreichen Verwünschungen. Sie dreht sich um und eilt auf Shuangxi zu.

Er erstarrt zwei Sekunden lang. „Sybil!“ ruft er und versucht sie einzuholen. Sie vergräbt ihren Kopf und rennt schnell, der Wind bläst ihren Umhang auf, der Knoten oben auf ihrem Kopf löst sich auf. Der Wind kommt von der Seite und der Nieselregen bleibt an ihrem Rock hängen. Sie rennt in Richtung des kleinen Weges, der zum Museum der Verbotenen Stadt führt.

Er holt sie ein. „Sybil!“ Er greift ihren Arm, genervt, heiser schreit er: „Was willst du, dass ich tun soll? Loyal zu deiner Schwester sein und aufhören dich zu lieben? Dich weiter lieben und nicht deiner Schwester treu sein?“

Sie stoppt und sieht ihn an. Sie halten unter der Veranda des Palastmuseums an. Die riesige Säule wirft einen Schatten auf den Boden. Das Licht verschmiert ihr Gesicht. Das Gesicht ist blass wie Papier und ihre Augen schwarz wie die Nacht. Eine Art von Angst, ihr verwirrtes Gesicht, der verwirrte Ausdruck um ihre Mundwinkel. Sie öffnet den Mund und möchte etwas sagen, aber kein Laut kommt heraus. Nach langer Zeit erst flüstert sie nur:

„Ich habe dir doch erzählt, dass ich Angst vor dir habe, Arthur. Ich habe entdeckt, dass ich wirklich Angst vor dir habe. Du...Du warum meide ich dich?“

„Mich wirklich fürchten?“ Er starrt sie verwirrt an. „Sybil, was meinst du damit? Ich liebe dich. Ich werde dir doch nicht weh’ tun!“

Sie wirft sich vor Angst in seine Arme und vergräbt ihren Kopf darin. „Ich bin eine Gans auf der Spitze eines Waldes.“ Sie zittert und sagt leise: „Ich bin kein farbiger Fisch. Ich bin eine einsame wandernde Gans.“

„Fürchte dich nicht, Sybil.“ Sagt er mit leiser Stimme. „Du bist müde. Die vergangenen Jahre hattest du keine Familie, keine Verwandten. Du bist müde.“ Er streicht ihr über den Rücken. Dieser schmale, schmale Rücken ist zum Erbarmen.

„Du solltest nicht fliegen, du musst dich ausruhen, du brauchst ein Nest.“

„Eine wandernde einsame Gans hat kein Nest“, sagt sie leise und schiebt ihn vorsichtig weg. Sie senkt den Kopf und geht auf den Schatten der Säule zu.

„Die Wildgans im Wald. Die kleinen Äste werden vom Wind bewegt ...“ Sie murmelt: „Wohin fliegt die Wildgans? Über Tausende von Bergen und Flüssen!“

Er geht zu ihr. Nimmt ihre Hände in seine Hände. Ihre Hand ist so klein und schmal. Sie schaut ihn verwirrt an.“ Die wandernden Gänse fliegen zurück in ihre Heimatstadt. Ohne Schaden zu nehmen, kannst du nicht ankommen.“

Er sieht sie fest an und hält sie ruhig, voller unwiderstehlicher Kraft: „Kämpfe nicht mit dir, Sybil! Ich glaube, du widersetzt dich meiner Liebe zu dir, warum?“ Er zieht sie näher an sich: „Ich kann dir Sicherheit und Glück geben! Erlaube mir, dich zu lieben! Erlaube mir, dich zu beschützen.“

Ihre Augen leuchten auf, sie beißt mit den Zähnen auf die Lippen. An ihren langen Wimpern hängt ein Regentropfen. Er zieht sie in seine Arme. Er küsst zärtlich den Regentropfen, er verweilt eine Weile an diesen Wimpern, gleitet über ihre Augen und landet dann auf ihrem Mund.

 

 

6. Episode

 

An einem blassen Märztag, Gesang schwingt in der Sonne.

„An einem blassen Märztag, der Rhododendron blüht am Hang und auch am Bach blühen die Rhododendren so schön ...“

Robert Wang liegt im Gras und blickt zum blauen Himmel hoch. Ein kleiner Vogel singt wie eine silberne Glocke. Er legt einen Stapel Bücher unter den Kopf und schaut sich die Strömung der weißen Wolken und das Schwanken der Zweige an. Ja, ein blasser Märztag! Ein sonniger Märztag! Ein schöner Märztag! Ein charmanter Märztag! Ein Märztag der Jungend! Ein zur Freude gehörender Märztag! Ein Märztag nur für Robert!

Neben ihm rauscht ein gurgelnder Bach, das schnelle Wasser springt über einen Felsen und produziert einen sehr rhythmischen Klang. Er dreht leicht den Kopf, die Augen sind nach oben gerichtet mit Blick auf Flora, die eifrig am Fischen ist. Ihre Röhrenhosenbeine aufgerollt, steht sie barfuß auf einem großen Fels am Bach. Schief auf dem Kopf der Strohhut, unter der Krempe ihr kurzes unordentliches Haar. Unter ihren kurzen Haaren sind ihre rosigen Wangen in ihrem immer fröhlichen Gesicht mit den immer strahlenden Augen zu sehen. Sie trägt ein rosafarben bedrucktes Hemd. Die Hemdknöpfe sind nicht richtig zugeknöpft und mit den Zipfeln des Hemdes hat sie einen Knoten um die Taille geschlungen, jedes Mal, wenn sie sich bückt, zuckt das Hemd mit den Schultern und es entblößt sich Haut auf ihrem Rücken. Ihre Haut ist weiß und fein. Robert muss sich zurückhalten, seine Hände und Füße nicht auf den nackten Teil ihrer Mondtaille zu legen. Bei zehn Malen wirft sie acht Mal den Angelhaken zwischen die Zweige. Immer wenn das passiert, ruft sie mit spitzer Stimme: „Hilfe“. Kleiner Schneeball bellt: „Wow, wow, wow!“ „Wow, wow. Wow!“ und das erderschütternd.

Robert denkt, sagt aber nicht, dass es in dem Fluss keine Fische gibt. Tatsächlich gibt es Fische, aber dieses süße Pärchen hat sie vertrieben.

Flora hat lange nicht mehr geschrien, offensichtlich übt sie sich in Geduld. Sie steht da auf dem Felsen, in der Hand hält sie eine Angelrute, summt ein Lied mit dem Mund, sie hat eine sehr entspannte Ausstrahlung. Kleiner Schneeball liegt ihr zu Füßen, mit gespitzten Ohren, mit senkrecht stehenden Haaren, in voll aufmerksamem Zustand. Robert schaut sich dieses Bild an „Frühlingsangeln am Bächlein“. Er ist voller Freude. Diese Freude breitet sich in alle Glieder aus, und weiter, bis in die Tiefen des Himmels.

Flora singt nur sporadisch, Robert hört aufmerksam. Da hört er, dass sie vor einiger Zeit ihre Melodie und den Text geändert hat. Sie singt:

„Fisch, Fisch, hör’ auf mich, verpass nicht den fetten Köder.
Fisch, Fisch, hör’ auf mich, beeil dich und entkomme nicht.
Fisch, Fisch, hör’ auf mich, nimm den Köder nicht und ärgere mich. Fisch, Fisch, hör’ auf mich, meine Geduld, verlass mich nicht.“

Robert versucht sein Lachen zurückzuhalten, je mehr sie singt, desto mehr muss er lachen. Sie singt eisern weiter, er kann einfach nicht anders und muss lachen. Plötzlich, vielleicht waren es ihre absurden Texte, die Gott bewogen haben, wird ihre Fischleine scharf nach unten gezogen, die Angelrute biegt sich ebenfalls nach unten und sie schreit wie am Spieß:

„Oh nein! Ein Fisch! Ein Fisch ist dran!“

Hastig zieht sie an der Stange, Robert springt hastig vom Boden auf. Er hat gerade die Leine außerhalb des Wassers gesehen und da ist ein Fisch am Haken. Tatsächlich, ein lebendiger Fisch! Der einen Fuß lange Fisch lebt und zappelt. Die Schuppen des Fisches leuchten in der Sonne. Robert kann seinen Augen nicht trauen und schreit nervös: „Flora, halt die Stange fest, lass ihn nicht entkommen!“

„Autsch! Schrecklich!“ Flora schreit völlig durcheinander: „Es ist ein Fisch! Wirklich, ein Fisch! Siehst du es? Mensch! Das gibt’s nicht! Der hat vielleicht eine Kraft! Autsch! Hilfe! Robert! Hilfe!“

Sie hält verzweifelt die Angel fest, der Fisch kämpft verzweifelt an der Angel. Die Angelrute ist in einen Bogen gespannt. Kleiner Schneeball ist jetzt sehr aufgeregt, er liegt auf dem Boden und kann nicht anders als aufspringen und schreit in einem fort: „Wa Wu, wang wang wang! Wa Wu, wang, wang wang!“

„Halt fest! Flora, halt fest!“ schreit Robert und rennt gleichzeitig los zu ihr. Er springt auf einen Felsen und hilft Flora die Angel zu halten. Wer weiß schon, dass dieser Stein zwar groß aus dem Wasser ragt, aber die tatsächliche Fläche klein ist und sich lauter Moos darauf befindet. Er rutscht nicht ab, springt davon ab, aber mit der Kraft dieses Abstoßens, befördert er Flora direkt ins Wasser. Sie schreit laut: „Der Fisch bittet um Hilfe!“

Sie plumpsen einfach ins Wasser. Robert kann sich nicht mehr um die Angelrute kümmern. Er streckt die Hand aus und ergreift Floras Hand, um sie wieder an Land zu ziehen. Wer weiß schon, dass Flora allerdings Robert festhält. Sie benutzt all ihre Kraft und zieht sofort heftig und Robert schreit sofort „Autsch“ und taucht ganz im Wasser unter. Er taucht gleich aus dem Wasser wieder auf. Zum Glück ist das Wasser nur knietief. Er schaut hinüber, Flora steht nass im Wasser, klatscht in die Hände und lacht. Er schreit aber wütend: „Ich bin so nett und rette dich und du ziehst mich ins Wasser!“

„Selig sind die helfen, aber sie haben es schwer!“ Flora spricht es wie ein Lied: „Unter Wasser, ja, unter Wasser, da fallen und fallen sie!“

Robert starrt sie an, wütend und auch amüsiert. Er will gerade etwas sagen, als Flora plötzlich markerschütternd brüllt: „Schneeball! Kleiner Schneeball ertrinkt!“

Er sieht genauer hin, da sieht er gerade, wie Schneeball ins Wasser springt, er jagt der im Wasser treibenden Angelrute nach wie einem fetten Kalb. Er paddelt geschickt im Wasser. Sieht das nach Ertrinken aus? Er lebt und genießt das Wasser wie ein schwimmender General. Robert ist durch Floras Schreien zu Tode erschreckt, von allen guten Geistern verlassen. Aber wenn Schneeball nun seinen Geist aufgegeben hat! Dann warte mal, wie total lebendig der aussieht. Das wäre doch wirklich gelacht. Robert macht einen Schritt ins Wasser, geht in großen Schritten weiter und holt ihn aus dem Wasser. Er hält ihn in den Armen, diesen Kleinen Schneeball, der immer noch protestiert, dass die Angelrute spurlos weggeschwommen ist: „Wa Wu wang wang wang! Wa Wu wang wang wang!“

Sie gehen an Land. Jetzt zwei Personen und ein Hund. Alle durch und durch nass und sehr verlegen! Und wie verlegen! Kleiner Schneeball zittert am ganzen Körper und schüttelt Wassertropfen in alle Himmelsrichtungen und rennt in die Sonne um sich zu sonnen. Robert und Flora sehen sich an. Zwei Menschen sehen sich an. Sie sagt:

„Gut! Was machen wir jetzt?“

„Jedenfalls haben wir Jacken mitgebracht“, sagt er, „lass uns erst einmal die nassen Klamotten wechseln. Niemand sieht es hier!“

„Mir ist es egal, ob die Kleidung nass ist oder nicht!“ Sie zieht die Augenbrauen hoch, wütend. „Ich habe dich gefragt, was wir jetzt machen?“

„Womit was machen?“ Er begreift es nicht.

„Mit meinem Fisch, Mensch!“ Sie stampft mit dem Fuß auf, die Augen weit aufgerissen. „Das ist der einzige Fisch, den ich in meinem Leben gefangen habe. Du lässt ihn los. Das musst du bezahlen! Du bezahlst mir einen Fisch!“

Er kratzt sich mit beiden Händen am Kopf.

„Da ist nichts zu machen“, sagt er, „der Fisch ist lange davor abgehauen, wieso soll ich das bezahlen? Das war dein eigenes schlechtes Verhalten, du warst nicht in der Lage die Leine aufzuwickeln, du warst ja immer noch am Angeln!“

„Du beschuldigst mich?“ Sie stemmt beide Hände in die Hüften und fragt aggressiv: „Bezahlst du mir den? Sag! Ich singe wieder ein Schlaflied, und ein Droh-Lied, und dann wieder ein gutes Lied, das ist nicht einfach, Bedrohung und Verlockung, bis der Fisch wieder an der Angel hängt. Du, Du tust so als hättest du mir geholfen und lässt den Fisch einfach wegschwimmen und sagst nichts. Dann hast du mich noch ins Wasser geschubst und ich wäre fast ertrunken ...“

„So gefährlich war es doch nicht?“ er unterbricht sie und lächelt dabei über das ganze Gesicht. „Im Ernst! Da gibt es wirklich Fische in diesem Wasser. Ich fange einen und gebe ihn dir!!“

„Du gehst angeln! Du gehst angeln!“ Sie schubst ihn. Er geht zwei Schritte zum Wasser und dreht den Kopf zu ihr zurück.

„Wie soll ich ohne Angel angeln?“ fragt er.
„Das ist dein Problem und nicht mein Problem!“ sagt sie frech.

Er beobachtet sie, ihre großen beweglichen schwarz glänzenden Augen, den kleinen verzerrten feuerroten Mund, ihr durch und durch nasses Hemd, das sie um ihren ausgereiften Brustkorb geschlungen hat. So steht sie vor ihm und strahlt überall einen weiblichen Charme aus. Er dreht seinen Kopf.

„Wenn du deine Kleider nicht wechselst, wirst du dich erkälten!“ schreit er. „Das ist mein Problem und nicht dein Problem!“ Sie ist immer noch auf achtzig.

„Du solltest besser deine nassen Klamotten wechseln“, er senkt die Stimme und sagt: „Überhaupt ist das noch gar nicht klar, ob das deine oder meine Sache ist.“

Sie schaut ihn treuherzig an. „Was heißt das? Das verstehe ich nicht!“
„Geh und zieh dich um!“ Sagt er laut.
Sie ist schockiert, schaut ihn an und wagt nichts zu sagen. Sie hebt die Kleidung auf, die auf dem Boden liegt. Sie hat noch eine zusätzliche Jeans mitgebracht. Sie geht hinter einen großen Felsen, weiter in den dichteren Wald. Wahrend sie geht, sagt sie:
„Ich bin hinter dem großen Felsen und ziehe mich um, du darfst nicht gucken, ok?“

Er flucht leise vor sich hin und legt sich ins Gras, das ringsherum steht. Den Blick zum Himmel gerichtet starrt er ausdruckslos auf die weißen Wolken. Diese Wolken blenden mit ihrem schillernden Weiß, so sanft, so weich, so langsam, so leicht - - - von dieser Seite driften sie auf die andere Seite.

Plötzlich kommt ein scharfer Schrei von Flora hinter dem Felsen hervor. Er springt sofort hoch, schlägt mit seiner Stirn gegen einen Baum. Er kümmert sich nicht um seinen Schmerz, hört nur Flora mit weinerlicher Stimme schreien: „Robert! Eine Schlange!“

Er rennt zu ihr und kann gerade noch Floras weiße Schultern nackt sehen. Sie bedeckt ihre Brust schnell mit Kleidern und schreit wieder: „Du darfst nicht kommen. Ich bin noch nicht umgezogen!“

Er steht wie festgenagelt, sein Gesicht ist knallrot, er dreht den Kopf weg.

„Was ist eigentlich mit dir los? Hat dich die Schlange gebissen? Da schreist du auf...!“ sagt er mit ängstlicher Stimme.

„Hallo!“ Flora atmet langsam aus und sagt mit leiser Stimme und ohne jede Aufregung: „Ich habe mich vertan! Es stellt sich heraus, dass das nur eine Weinrebe war.“

Er dreht sich um, sie zieht den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. Er streckt die Hand aus. Er zieht sie hinter dem Felsen hervor und weiter in seine Arme und legt die Arme um sie. In seinen Augen ist Feuer, heftiges, er starrt sie unbeweglich an, seine Stimme ist heiser und tief:

„Junges Mädchen, egal, ob du wirklich naiv oder falsch bist, egal ob du ungezogen bist oder so tust als ob du verrückt wärst, ich werde dich nie gehen lassen.“

Er beugt den Kopf und küsst sie heftig. Seine Lippen sind so heiß auf Floras und drücken sie. Ihre Lippen sind weich und kühl wie Blütenblätter im Regen mit Tau am Morgen. Er hebt den Kopf, ihre weißen Augen sind ganz groß, wie nach einer wunderbaren Überraschung schauen sie ihn mit verträumtem Ausdruck an.

„Dummer Wind!“ schimpft er. „Könntest du deine Augen bitte schließen? Du starrst mich so an, dass ich dich nicht küssen kann.“

Sie schließt sofort die Augen, schließt sie so fest, dass die Wimpern unruhig zittern. Ihre Lippen spitzen sich leicht. Wie zum „geküsst werden“. Er sieht sie an und lächelt.

„Du - - - - bist wirklich schrecklich!“
Sie öffnet die Augen
„Ist es nicht richtig?“ fragt sie und hebt naiv die Wimpern. Er sieht sie lange an, nimmt ihre Hand und sagt: „Komm!“

Er führt sie zum Gras und sie setzen sich. Er sieht sie von der Seite an. Das Heiße, das ursprünglich durch seinem Körper, seine Blutgefäße und seine Brust lief und in ihm brannte, dieses ursprüngliche Verlangen, ist verschwunden. Er findet sie so sauber wie einen kleinen Bach, rein, wie weiße Wolken am Himmel und so schön wie Maiglöckchen. Er bezähmt sich, hält sich zurück, schämt sich, wird schamrot.

„Flora“, sagt er, „ In diesem Jahr bist du wirklich wie alt?“ „Neunzehn.“
„Hast du schon einmal einen Freund gehabt?“ „Mindestens zwanzig.“

„Im Ernst? Ernsthaft?“

„Ernst?“ Sie sieht ihn zögernd an, hebt die Wimpern und öffnet diese großen schwarz-weißen Augen. „Was heißt ernsthaft?“ fragt sie.

Jetzt ist er gefragt. Was heißt ernsthaft? Er denkt nach. Er kann die Frage nicht beantworten, weil er plötzlich etwas begreift. Er hat bisher das andere Geschlecht gar nicht ernst genommen. Er hat Ernsthaftigkeit noch nie erfahren. Er spielt mit Mädchen, immer schick, egal wie heiß das Spiel ist, wenn die Trennung ansteht, wird getrennt. Er hat sich nie darum gekümmert, wenn jemand an Liebeskummer litt.

„Ernsthaft ist - - - -“, er sucht nach Einfällen und findet den richtigen Satz, „das bedeutet einen Freund richtig zu kennen und er dich, gegenseitig, ohne das heiratet er nicht! Das ist die wahre Liebe. Wenn der Ernst nicht da ist, tut es weh, ist es sehr traurig.“ Sie schüttelt den Kopf und ihr kurzes lockiges Haar auf der Stirn. Zum Glück sind die Haare nicht mehr nass. Das Haar ist vom Wind ganz durcheinander gebracht. Ihr Blick ist aufrichtig und ernst, ein bisschen wie eine „echte Erwachsene“.

„So gesagt, ist „ernst“ eine verrückte Sache, richtig? „ sagt sie. „Ich glaube nicht an die Liebe, die die Schriftsteller beschreiben. Ich glaube nicht an die Gegenseitigkeit. Warum heiratet man? Keiner, der eine Ahnung hat, heiratet! Nein, noch nie ernsthaft. Ich werde niemanden ernst nehmen, dich mit eingeschlossen:“

Er runzelt die Stirn und fühlt sich ein bisschen ungemütlich.

„Hm!“ schnaubt er leise: „Gut, du willst es nicht mit mir ernst meinen, dann werde ich es auch mit dir nicht ernst nehmen!“!

„Das ist das Beste.“ Sie lächelt erleichtert. „Plötzlich stellst du mir solche ernsthaften Fragen. Du hast mich ganz schön erschreckt.“

„Wieso kann dich das erschrecken?“ fragt er.

Du musst nicht immer denken, dass ich ein kleines Kind bin, ok?“ sagt sie. „Tatsächlich verstehe ich schon sehr viel. Ich erzähle dir mal eine Geschichte, die ich kenne. Ich hatte eine Mitschülerin, die war sehr ernsthaft mit einem Mann befreundet, aber nach nicht langer Zeit veränderte sich das Herz des Mannes. Rate mal, wie es meiner Mitschülerin geht? Sie hat Selbstmord begangen! Das ist das Ergebnis von Ernsthaftigkeit in Bezug auf Gefühle.“

Seine Brauen runzeln die Stirn noch stärker.

„Du brauchst kein Beispiel zu bringen, um die Gefühle der Welt zu leugnen!“ sagt er: „ Deiner Meinung nach wäre es das Beste, wenn Männer und Frauen sich gar nicht verliebten!“

„Genau!“ Sie hebt beiläufig einen Tannenzapfen auf und wirft ihn weit weg, um Schneeball einen Grund zum in den Wald laufen zu geben. „Liebe ist etwas, was Dummköpfe tun!“ Sie dreht sich plötzlich zu ihm um, sehr besorgt, sehr vorsichtig, starrt ihn schrecklich an und sagt vorsichtig: „Ich frage dich was und du musst mir ehrlich antworten!“

„Ok.“

„Du hast mich gerade geküsst“, sagt sie und runzelt besorgt die Stirn, „das war doch einfach aus Spaß, richtig?“

„Das - - - “ er ist erschrocken, sieht sie an, er weiß nicht, was er antworten soll. Erst nach einer ganzen Zeit Stammeln sagt er: „ Nicht - - - nicht nur aus Spaß, ich - - - - ich glaube, ich konnte nicht anders, ich - - - - ich - - -.“

Ihre Augen sind ganz groß geworden.

„Meine Güte! Du nimmst mich nie ernst!“ sie ist aufgebracht, als hätte sie wieder eine Giftschlange gesehen.

„Sieh’ mal die Fantasien deines großen Kopfes!“ ruft er laut. Er glaubt, keinen Platz mehr zu haben, um wütend zu werden und sich der Katastrophe auf ihrem Gesicht zu stellen. Er ist ängstlich, wütend und muss lachen. Außerdem fühlt er sich von ihr erschlagen, von ihrer Haltung verletzt. Er ist bestrebt sich zu wappnen und schreit immer wieder: „Du bist wenig leidenschaftlich! Ich habe mindestens hundert Mädchen geküsst, du bist die mit dem wenigsten Geschmack! Ernst? Wie kann ich dich ernst nehmen? Ich bin zu sehr ein Miststück, um es mit dir ernst zu meinen. Nur ein Narr nimmt einen Kuss so ernst! Hat dich noch nie ein Junge geküsst? Du bist so stumpf wie ein Stück Holz, das ohne jede Reaktion - - - „

Er hat noch nicht zu Ende gesprochen, da springt sie plötzlich zu ihm und blockiert seinen Mund mit ihren Lippen, ihre Arme schlingen sich um seinen Hals, ihre Lippen rollen über seinen Mund, saugen und drücken ihn. Ihre flexible Zunge ist wie eine Schlange, sanft und exquisit und verweilend. Sein Herz klopft, er keucht, im ganzen Körper kocht sein Blut. Unwillkürlich umarmt er sie fest und drückt den ganzen kleinen Körper fest an seine Brust. Ihm ist schwindlig, sichtbar, die ganze Person fliegt vor Leichtigkeit, fliegt und fliegt - - - fliegt bis in die Tiefen der Wolken. Fliegt über den blauen Himmel hinaus, fliegt bis in die heiße Sonne! Heiß, ja, sein ganzer Körper ist heiß, sein ganzer Körper brennt, sein Herz zerspringt fast - - -.

Sie lässt ihn los und hebt den Kopf. Sie schaut ihn mit feuchten Augen an, mit tiefdunklen Augen sieht sie ihn an.

„Wagst du jetzt noch zu sagen, dass ich nicht weiß wie man küsst?“ flüstert sie: „Ich wollte es einfach nicht!“

Er starrt sie an, geblendet, getäuscht. Eine Weile kann er nicht sprechen. Sie beugt sich vor, hebt ihre nassen Sachen auf und ruft ihren Kleinen Schneeball. Mit Schneeball in den Armen steht sie da und sieht auf ihn hinunter.

„Du hast mich Holz geschimpft, hast mich eine Närrin genannt und hast gesagt, ich wäre stumpf! Ich bin noch nie von einem Jungen so beschimpft worden. Mit dir werde ich nicht mehr spielen. Ich werde dich ignorieren. Ich gehe!“

Er springt sofort vom Boden auf und greift nach ihr um sie zu sich zu ziehen.

„Tu es nicht, Flora“, schreit er „ Du schreist mich an! Du schimpfst mich einen Stein. Das ist Quatsch, das ist Unsinn, das ist das Letzte, nenn es wie du willst! Solange du mich nicht ignorierst!“

Sie dreht sich um, hält Schneeball in ihrem Arm und geht.

Er hebt hastig die Kleidung vom Boden auf und folgt ihr.

„Flora!“ ruft er, „bist du wütend auf mich?

Sie schmollt, geht weiter und ignoriert ihn vollständig.

„Flora!“ Er streckt die Hand aus, - völlig aus der Luft geholt, sagt er laut: „Und du hast Schneeball gesagt, er soll mich beißen!“

Ihre Augen blitzen auf, sie hebt Schneeball hoch und sagt: „Beiß ihn!“

Schneeball ist wirklich gehorsam, er öffnet den Mund weit und macht einen Biss in eine Seite von Roberts Handfläche. Wenn man sich die geringe Größe dieses Hundes ansieht, einige Zähne sind scharf. Pass auf, wenn die zubeißen! Robert leidet dieses Mal viel. Er beginnt „Autsch, Autsch“ zu schreien. “Autsch, Autsch“. „Mein Gott!“ „Mein

Gott!“ „Autsch!“ „Flora, er ist doch gegen Tollwut geimpft? Ansonsten kriege ich Tollwut, dann beiße ich dich zuerst! Autsch! Autsch! Einen lebendigen Menschen zu beißen -- - -.“

Sie hält es nicht mehr aus und muss lachen und umarmt den kleinen Schneeball. Er schaut auf seine Handfläche, wo ein paar kleine Löcher sind und Blutflecken. Er will sein Taschentuch zum Verbinden herausholen und da merkt er, dass das Taschentuch ganz nass ist. Er befühlt die Hand und murrt in ihre Richtung etwas, ganz leise, leise ausgesprochen und aber offensichtlich vielsagend. Sie versteht es nicht und fragt:

„Was sagst du?“
„Das giftigste Frauenherz der Welt!“ sagt er laut.
„Du schimpfst mich ja schon wieder aus!“ Sie setzt den Hund auf die Erde und befiehlt ihm: „Schneeball! Geh und beiß ihn! Beiß ihn ganz doll!“

Er nimmt die Beine in die Hand und rennt und Schneeball, „Wang, Wang, Wau“ bellend, verfolgt ihn. Flora lacht und hüpft hinter ihnen her. Wie mit einem Atemzug rennt er ziemlich weit. Man kann das Dorf Lan Hui bereits sehen. Flora ist ihnen keuchend gefolgt, um Schneeball hochzunehmen. Sie streichelt seine Brust, zu Robert sagt sie:

„Sieh mal! Das ist alles deine Schuld, du hast ihn außer Atem gebracht, wenn das bei ihm Herzkrankheiten hervorruft, dann bist nur du gefragt!“

„Oh!“ sagt er: „Es ist eine Schande, dich zum Freund zu haben. Aber du bist selbst für deinen Hund verantwortlich!“

Sie lacht, dreht den Kopf, sieht das erste Wohnviertel von Lan Hui und sagt: „Ich bin schon zu Hause, Oma wartet auf mich mit dem Abendessen!“

„Zu Morgen lade ich dich ein einen Film anzusehen!“ sagt er.

„Morgen gehe ich mit meiner Großmutter nach Taichung. Großmama will da eine alte Freundin besuchen.“

„Du darfst nicht gehen!“ sagt er.
„Du hast nicht das Recht, mir gegenüber den Ausspruch ‚du darfst nicht’ zu benutzen!“ „Wann ist das denn passend?“

„Das ist nie passend!“ Sie sieht ihn grinsend an. „Wir sind ein Spiel. Spiele sind nicht ernst. Es gibt keine ernsthafte Formulierung im Spiel! Deshalb hast du nie das Recht dazu ‚du darfst nicht’ zu sagen. Ich bin, wie ich bin. Ich habe auch kein Recht zu dir ‚du darfst nicht’ zu sagen. Du bist, wie du bist.“

Sie hebt Schneeballs Füße hoch, Robert winkt sie nur zu.
„Auf Wiedersehen!“ sagt sie munter, dreht sich um und hüpft weg.

Er sieht ihr nach wie sie verschwindet. Er hat keine Lust, noch mal von vorn zu beginnen. Nicht ernsthaft! Bei ihrem hinterhältigen Wesen! Warum sollte er sich mit solchen Themen befassen! Es gibt Tausende, Hunderte von Themen über die man sprechen kann! Robert, du bist ein Trottel!

Er geht zu seinem. “Schneckenhaus“. Er läuft einfach die Straße entlang. Da entdeckt er, dass da ein ihm vertrauter Chevrolet parkt. Er ist begeistert und rennt los. Arthur lehnt an der Autotür und lächelt ihn an.

„Wo warst du denn?“, fragt Arthur grinsend: „Am Sonntag werde ich nicht zu Hause bleiben. Ich bin schon lange hier und hatte keine Möglichkeit reinzugehen.“

Robert steckt den Kopf zum Autofenster hinein. Das Auto ist leer.

„Was suchst du?“, fragt Arthur.

„Ich suche nach jemandem, der meine Schwiegerschwester sein könnte!“

Arthur klopft ihm auf die Schulter.

„Ich hatte nicht den Mut, sie in dein „Schneckenhaus“ mitzubringen. Ich hatte Angst, sie abzuschrecken. Sie liebt Sauberkeit, ihre Wohnung ist sehr rein!“

Robert schmollt verletzt.

„Mit dieser Art von Frauen habe ich Schluss gemacht!“
Arthurs Gesichtsausdruck hat sich verändert: „Robert, rede keinen Unsinn!“

Robert zuckt mit den Achseln und zieht ein Gesicht. Er schielt zu Arthur und fragt ganz natürlich: „Arthur, du meinst es doch ernst?“

„Ernst?“ fragt Arthur erschrocken und antwortet aufmerksam: „Ja, Robert, ich meine es ernst, sehr, sehr ernst.“ Er berührt Roberts Kragen: „Warum ist deine Kleidung so nass? Was hast du gemacht?“

„Ich bin in den Fluss gefallen“, sagt Robert geistesabwesend, streckt die Hand aus, zieht den Schlüssel aus der Tasche und öffnet die Tür zu seinem „Schneckenhaus“.

„Zusammen mit Flora?“ fragt Arthur.
„Ja, sie ist auch in den Fluss gefallen!“
„Robert“, fragt Arthur ernst: „Also, ich muss dich auch etwas fragen: meinst du es ernst?“

„Ernst - -?“ Robert stottert. Sein Herz stottert auch. Seine Gedanken stottern auch. Er tritt die Tür mit dem Fuß auf. Er wechselt das Thema und sagt laut: „Da wären wir in meinem Schneckenhaus. Hier lass uns reden! Unterschätze nicht dies Schneckenhaus. Für meine makellose Schwiegerschwester könnte es eine Müllkippe sein; es gibt aber auch Leute, die es für einen “Himmel“ halten.

 

 

7. Episode

 

Arthur tritt in diesen “Himmel“ ein. Er hat erst einen Schritt gemacht und wäre fast über einen Stapel Bücher gestolpert. Es ist gar nicht so leicht hier sicher zu stehen. Beim zweiten Schritt tritt er in Wasser. Dann erst stellt er fest, dass mitten auf dem Boden eine Schüssel Wasser steht. Überrascht hebt er ein Bein. Robert brüllt bereits:

„Verflixt, Arthur, sei vorsichtig, du hast die Teetasse von Schneeball kaputt gemacht.“

„Schneeballs Teetasse?“ Arthur runzelt die Stirn. „Welches Land steckt hinter dieser Rätsel- Sprache?“

„Das ist keine Rätselsprache, das ist eine ernste Sprache“, sagt Robert und sammelt eilig die Schallplattenhüllen auf, die auf dem Boden liegen und die Tonbänder, Bücher, die Backsteine und Regalbretter - - - - und stapelt alles in einer Ecke wieder auf, um einen Weg frei zu machen, auf dem man sich im Zimmer bewegen kann.

Arthur sieht sich um und entdeckt eine große bequeme Kiste. Das scheint ein sicherer Ort zu sein und setzt sich einfach vorsichtig auf die Seifenkiste, als Robert schreit: „Da kannst du nicht sitzen!“

Er kann gerade noch hochspringen. Robert ist schon herbeigesprungen, hält diese Seifenkiste sanft mit der Hand hoch und trägt sie vorsichtig vor die Zimmertür. Es hat ganz den Eindruck, als sei ein mysteriöser Sprengstoff darin.

Arthur sieht ihn befremdet und verständnislos an und fragt: „Ist da ein zeitgesteuerter Blitz drin?“

„Nein. Du bist sehr risikofreudig! Wirklich gefährlich! Es fehlt nicht viel und du hast Löcher in deinem Arsch!“

„Wie? Ist es Dynamit?“

„Nein. Das ist ein Kasten mit Bienen.“

„- - - - Bienen?“ Arthur guckt überrascht mit großen Augen.

„Du hast einen Kasten mit Bienen, um was anzustellen? Lernst du gerade Bienenzucht? Du studierst doch englische Literatur und nicht Entomologie (Insektenkunde)!“

„Damit mache ich nur Flora Angst! Sie hat größte Angst vor Insekten. Fliegenden, krabbelnden, sich bewegenden, springenden - - - vor all denen hat sie Angst. Ich lasse nur zwei Bienen durchs Haus fliegen und mache ihr solche Angst, dass sie in meine Arme fliegen wird - - - - .“

„Robert!“ Arthur hat das Gefühl eine Ohrfeige bekommen zu haben: „Wenn man Mädchen erobern will, sollten die Mittel aufrecht sein. Das mit einer Bienenoffensive zu tun, ist ja nicht sehr nett!“

Robert zuckt mit den Schultern, verlegen sagt er:

„Mit Flora aufrichtig sprechen? Du hast ja keine Ahnung, was für ein Mensch sie ist! Wenn du ihr nicht jeden Tag ein bisschen Ärger machst, macht sie DIR das Leben schwer! Darum musst du also kleine Tricks vorbereiten, sonst wirst DU unglücklich.“

Arthur sieht seinen kleinen Bruder an. Er hat das undeutliche Gefühl, dass die Situation immer weniger angenehm wird. Es sieht so aus, als wenn diese Flora schwieriger ist als er dachte. Eigentlich ist es beunruhigend welchen Raum sie einnimmt. Er wird sich mal umsehen. Auf dem Tisch ist ein durcheinander von Büchern, auf der Erde ist ein Chaos von verschiedenen Sachen, auf dem Stuhl ist ein Durcheinander von Kleidung und Schuhen. Offensichtlich ist es nicht einfach, Orte zu finden, wo man in diesem „Himmel“ sitzen kann.

„Hör mal, Robert“, er kann nicht anders, als zu fragen: „Wo kann ich mich hinsetzen? Wo ist es einigermaßen sicher und wo sind keine explosiven Bienen?“

Robert sieht sich auch um, nimmt seinen Kopf zwischen die Hände und lächelt errötend. „Auf dem Bett!“

Das Bett ist voller Watteflocken, Kissenfüllung, Kissen - - - also, auch voller Sachen. Er überquert vorsichtig die vielen “Hindernisse“ auf dem Boden. Es ist gar nicht leicht, neben das Bett zu kommen, wo er sich erst langsam hinsetzen kann. Plötzlich, als er sich gerade setzen will, springt er hoch, weil er unter seinem Hintern etwas spürt. Denn das stößt ein Quietschen aus, einen seltsamen Ton. Er springt vor Schreck auf und greift zu und zieht einen bellenden Teddybär aus einem Stapel Watte. Er atmet tief durch und sagt:

„Robert, also wirklich, unter diesem Himmel gibt es zu viele Hinterhalte. Lass uns das mal zusammen herausfinden, sonst ist es wirklich zu beängstigend!!

Robert ist seltsam berührt. Verwirrt und verständnislos runzelt er die Stirn. Sein Lachen zurückhaltend sagt er: „Es ist wirklich seltsam. Da kommst du schon mal und schon stoßen wir überall auf Fallstricke. Ich sitze hier jeden Tag und bisher gab es keine Probleme!“

„Du bist mit diesen Fallen vertraut!“ sagt Arthur und holt den Teddybär hervor und sieht ihn aufmerksam an, das ist ein haariger kleiner Bär, die Haare an seinem Körper sind schon verschwunden, ein Ohr fehlt, ein Bein ist durchgebrochen, der Schwanz hängt schief. Er beißt sich auf die Lippen und schaut sich diesem Bär an.

„Ich habe nicht gewusst, dass du immer noch mit kleinen Tieren spielst“, sagt er: „Robert, falls du noch gern mit Bären spielst, kaufe ich dir einen neuen. Dieser hier - - - gehört wirklich in die Mülltonne! Aber, viertes Semester an der Universität, wie kann es sein, dass du da noch mit Stofftieren spielst!“

Roberts Gesicht wird schlagartig rot. Er springt hoch und schlägt den Bär weg. Besorgt sagt er: „Wer sagt denn, dass ich noch mit Bären spiele? Das ist Schneeballs Spielzeug! Schneeball kann ohne ihn nicht leben!“

„Schneeball?“ fragt Arthur geduldig. Er hat keine Ahnung, wer Schneeball ist, er denkt, das ist der Spitzname einer seiner Freunde.

„Ist Schneeball auch dein Freund? Ist das ein Junge oder ein Mädchen?“ „Ein Mädchen! Das ist nicht mein Freund, das ist Floras Freund!“
„Ist die auch oft in deinem „Himmel?“

„Ja! Wo Flora ist, da ist auch Schneeball.“ Lächelnd fügt er hinzu: „Schneeball mag mein Bett am liebsten. Jedes Mal will er nicht unter der Decke hervor kommen. Ich und Flora steigen auch gleich in sein Nest um ihn zu greifen. Drei Personen sind dann in der Höhle und stellen sie auf den Kopf. Das ist vielleicht interessant!“

Arthurs Augen werden groß und größer, er ist so schockiert, dass er nichts sagen kann. „Ihr Drei seid dann ganz verstört im Bett?“ fragt er ungläubig.
„Genau!“ Schneeball liebt diese Spiele.“
„Flora auch?“

„Ja, und wie! Flora ist überglücklich! Sie greift Schneeball und küsst ihn stürmisch. Schneeball küsst Flora dann auch. Du kannst dir nicht vorstellen. Du kannst dir diese Art von Intimität gar nicht vorstellen!“

Arthur ist kurz davor in Ohnmacht zu fallen. „Robert“, stöhnt er, „Gib mir bitte ein Glas Wasser.“

Robert schaut sich um und zieht eine Kiste Coca Cola unter dem Bett hervor. Er öffnet eine Flasche und gibt sie Arthur. Vorsichtig sagt er:

„Arthur, was ist? Du arbeitest bestimmt zu viel. Dein Gesicht sieht gar nicht gut aus. Arthur trinkt einen großen Schluck Coca Cola und sagt mit angehaltenem Atem:

„Mein Gesicht und meine Arbeit haben kein bisschen mit meinem Zustand zu tun! Robert, ich sage dir, Du verlässt sofort dieses Schneckenhaus und kommst mit mir nach Taipeh. Ich kaufe dir lieber ein Auto, mit dem du zum Unterricht fahren und wieder zurückkommen kannst. Ich kann dich hier nicht deinem Schicksal, dieser Verdorbenheit überlassen!“

„Verdorbenheit?“ Robert springt entsetzt hoch und runzelt die Stirn, die Augen weit aufgerissen. „ Arthur, du bist wirklich zu streng! Welche Verdorbenheit? Ich bin nur ein bisschen chaotisch, aber ich lebe glücklich, sehr befriedigend- - - .“

„Ein bisschen chaotisch?“ Arthur brüllt ihn fast an: „du nennst das nur ‚ein bisschen’ chaotisch? Du bist einfach ein Chaot. Das gibt es gar nicht, was für ein totaler Chaot du bist! Du wagst auch noch zu sagen, dass du glücklich und befriedigend lebst? Beeil dich, ich bin total sauer auf dich!“

„ Arthur!“ Robert ist geschockt und wütend, sein Gesicht wird ganz rot, sogar der Hals ist rot.

„Du musst kleine Probleme nicht so aufplustern, ok? Du hast eine makellose Freundin und nun denkst du, alle Menschen müssten makellos sein, stimmt’s? Ich bin fröhlich chaotisch. Ich mag Unordnung. Mein Durcheinander macht mich glücklich! Jeder Mensch hat seine eigenen Ziele. Ich mache mir Unordnung. Du bis für Sauberkeit und Ordnung. Ich will gerade nicht in deiner Weise leben und ordentlich werden!“

„Robert!“ Arthur ist so wütend, dass sein Gesicht ganz grün ist und die Augenbrauen ganz gerade.

„Gut, jeder Mensch hat seine eigenen Ziele. Du willst Unordnung, ich Sauberkeit und Ordnung. Ich bin nicht dein Aufpasser! Aber, Robert, mache nichts Unmoralisches. Lass es Papa und Mama wissen und die werden dir das Fell über die Ohren ziehen!“

„Unmoralisches?“ Robert starrt fassungslos in die Runde. „ Wie kann man da von Unmoral reden?“

Arthur stellt die Cola-Flasche hörbar auf den Tisch und sagt laut:

„Du hast immer noch das Gefühl, mit mir ganz locker reden zu können! Ich sage dir, Robert. Ich weiß, die Studenten heute sind sehr modisch, sie sind trickreich und ihr Leben ist sehr unordentlich! Du denkst vielleicht, ich bin alt, aus der Mode gekommen, konservativ und nicht aufgeklärt genug und ... was du willst! Du willst dein Hippie-Leben leben. Ich kann mich nicht darum kümmern. Ich kann alles aushalten, aber Homosexualität, die kann ich nicht akzeptieren!“

„Homosexualität?“ Roberts Mund bleibt offen stehen während er Arthur verständnislos anstarrt. Mit seltsamer Stimme wiederholt er: „Homosexualität? Arthur! Was redest du denn für einen Unsinn? Denkst du denn, dass Flora ein Junge ist?“

„Nein, nicht du und Flora!“ brüllt Arthur: „Das ist Flora und dieser Schneeball!“

Robert ist für ein paar Sekunden sprachlos, dann werden seine Augen größer als Kupferglocken, dann bricht er in ein großes Gelächter aus, muss sich vor Lachen krümmen, keucht und lacht bis vor Lachen die Tränen rollen. Er zeigt mit dem Finger auf Arthur, will etwas sagen, aber vor Lachen kommt kein Wort heraus, sondern immer nur: „Haha! Du ... du ...haha ... du denkst ... du denkst ... haha! Schrecklich! Ich kriege keine Luft mehr! Haha! Schrecklich, das muss ich Flora erzählen ... hahaha . . . haha!“

Er hält seinen Bauch fest und fällt auf den Boden.

„Was ist?“ Arthur versteht nichts mehr. „Was hast du denn geschluckt? Was bringt dich so zum Lachen?“

„Homosexualität!“ ruft Robert während er auf dem Boden rollt. „Flora und Schneeball schwul! Flora verwandelt sich in einen kleinen Hund, haha, haha!“

„Kleiner Hund?“ Arthur runzelt die Stirn. „Willst du damit sagen .....“

Robert springt vom Boden auf und legt seine Hand auf Arthurs Schulter und sieht ihm in die Augen. Er schaut ihn lächelnd an und sagt: „Mein guter Bruder, du hast mir unbegreifliche blutige Vorwürfe gemacht. Und das alles wegen Schneeball. Was du nicht weißt, Schneeball ist ein Hund, ein kleiner Pekinese! Ungefähr so groß!“ Er nimmt seine Hände und zeigt die Größe.

„Er ist Floras Schatz. Wohin er will, dahin kann er gehen! Kleine Mädchen lieben kleine Hunde. Man kann ihn nicht als weiblichen Hippie-Schwulen ansehen!“

Arthur starrt Robert an, seine Augen sind wieder weit aufgerissen. Er weiß, dass er einen Scherz gemacht hat und möchte lachen und muss sich zurückhalten. Er hält sich lange zurück, um dann arrogant zu schwören:

„Du Bastard, erzählst nicht eindeutig! Habe ich dich nicht gefragt, ob das ein Junge oder ein Mädchen ist? Erzähle das Mutter und wenn du ihr sagst, dass das ein Mädchen ist, ist sie sofort fertig. Du hast mich absichtlich in dieses Missverständnis reingezogen...“

„Du hast so unbestimmt gefragt und ich habe so unbestimmt geantwortet!“ Robert sagt weiter: „Ich habe geglaubt, dass mein Bruder, der den ganzen Tag mit Literatur beschäftigt ist, anders wäre. Wenn man über einen Welpen spricht, benutzt man dann die Geschlechtsbestimmung männlich, weiblich? Haha ... haha...haha!“

Er muss wieder lachen, einfach wieder lachen, Er kann nicht anders und bricht in wildes Lachen aus. Dann, als der das angespannte Gesicht von Arthur sieht, geduldig, aber auch wieder nicht, kann er nicht mehr an sich halten, lacht er wieder laut. Eine Zeitlang ist das Zimmer voll vom Klang des Lachens. Sogar das Dach scheint zu explodieren vom Lachen der Brüder.

Es ist gar nicht so einfach, da hört Arthur auf zu lachen. Mit Blick auf Roberts von der Sonne gebräuntes Gesicht und seine strahlenden hellen Augen, die hervorquellen. Er legt seinen Arm um Roberts Schulter und schaut ihm liebevoll in die Augen, beide Brüder lächeln immer noch. Arthur sagt milde: „Alles klar, Robert? Lass uns doch mal über diese Flora reden!“

„Flora?“ Robert wird plötzlich ein bisschen schüchtern. Er reibt sich die Nase und fasst an seine Ohren. Leicht ausweichend sagt er: „Da gibt es nichts zu besprechen!“

„Wie kann das sein, dass da nicht zu besprechen ist?“ sagt Arthur: „Du hast vor kurzem mit mir am Telefon darüber gesprochen. Neun von zehn Malen redest du über Flora. Du musst vor deinem großen Bruder nichts verbergen. Du hattest doch schon mal eine Freundin. Was ist mit Ashan Xiaofei? Länger als drei Minuten warst du doch noch nie lichterloh begeistert. Dieses Mal ist es offensichtlich anders, Robert.“ Aufrichtig fügt er hinzu: „Dieses Mal ist es ernst, nicht wahr?“

„Ernst ....?“ Robert dreht sich genervt um, wie ist er wieder bei diesem nervigen Problem gelandet? Er nimmt Arthurs halb ausgetrunkene Cola und murmelt sich was in den Bart.

„Das ist ja das Problem, ich meine es nicht ernst und sie meint es auch nicht ernst!“ Er sieht Robert aufmerksam an.

„Nicht ernsthaft? Nicht ernsthaft, dann würdest nicht so gereizt sein, wenn du es nicht ernst meintest.“ Dann sagt er: „Warum siehst du sie, wenn du es nicht ernst meinst?“

Weil ...weil ...“ er greift sich wieder an die Nase und auch ans Ohr: „Weil ich ihr gesagt habe, wenn ich es mit ihr ernst meine, dass ich ein unverschämter Saukerl bin.“

Arthur zieht überrascht die Augenbrauen hoch.
„ Warum sagst du das denn?“ fragt er verständnislos.
„Weil ... weil ... sie mich dazu gezwungen hat, das zu sagen!“
„Sie hat dich dazu gezwungen, das zu sagen?“ Arthur ist noch überraschter.

„Ja! Sie starrt mich mit diesem seltsamen Blick an und fragt mich schreiend: Du meinst es nicht ernst mit mir? Das klingt, wie, wenn ich es ernst meinte, würde ich sie töten! Warum sollte ich es mit ihr ernst meinen?“

Je mehr er spricht, desto wütender wird er: „Sie glaubt hübsch zu sein. Sie meint, sie könnte küssen, könnte Jungen manipulieren! Tatsächlich hat sie keine Ahnung, sie ist nur ein kleines Kind! Ein hochnäsiges, ungezogenes, eigenwilliges, freches, verrücktes, ärgerliches kleines Kind! Wie kann ich es mit so einem Kind ernst meinen?“

Er schlägt hart auf den Tisch. „Ich spiele nur mit ihr, alles ein Spiel. Das sagt sie. Wir spielten ein Spiel. So ist das! Arthur, sei nicht komisch, ich meine es nicht ernst! Ich werde nicht so dumm sein, echte Zuneigung für sie zu entwickeln! Sie ... sie ist nur ein kniffliges wildes Mädchen. Eine Weile ist sie total begeistert von dir und dann hetzt sie den Hund, mich wieder zu beißen. Guck mal, guck mal, in meiner Hand habe ich die Abdrücke von Hundezähnen! Die ist nicht ganz richtig im Kopf! Nicht ganz dicht! Irre im Kopf!“

Arthur hört ihm zu und sieht seine Gesten. Was Robert gesagt hat, hat gar kein System. Alles durcheinander, das Unterste zu oberst und zusammenhangslos. Der Blick auf sein Gesicht zeigt, dass er immer aufgeregter geworden ist, seine Augen voller Ärger und Verwirrung. Er denkt nach, dann fragt er leise:

„Wo wohnt sie?“

„Lanhui New Village. Nur eine kurze Strecke von hier entfernt. Man kann zu Fuß dorthin gehen. Es dauert nur eine halbe Stunde:“

„Wohnt sie mit ihren Eltern zusammen?“
„Nein. Sie ist eine Waise. Habe ich dir das nicht mal erzählt?“

„Du hast mir sehr wenig erzählt.“ Arthur lacht: „ Eigentlich bloß, dass sie ein Mensch ist, der in Lanhui New Village lebt.“

„Dann gibt es da noch ihre Großmutter und zwei Großeltern. Ihre Großmutter ist alt und taub. Sie kann auch nicht mehr gut sehen, ihr fehlen einige Zähne, sie spricht auch nicht mehr ganz deutlich. Die kann sie überhaupt nicht kontrollieren.“

Arthur runzelt die Stirn und versinkt in Gedanken. Plötzlich erhebt er sich entschlossen von der Bettkante, klopft Robert auf die Schulter und sagt:

„Los! Begleite mich nach Lanhui, New Village, Besuchen wir sie mal.“ „Jetzt?“ Robert ist erstaunt. „Ich habe gerade mit ihr Schluss gemacht!“ „Na und?“ fragt Arthur.
„Das bringt nichts!“ Robert senkt den Kopf. „Du kannst sie nicht sehen!“ „Warum kann ich sie nicht sehen?“

„Das ist zu schwerwiegend. Banal eigentlich: eine kleine Sache, die dann furchtbar aufgebauscht wurde.“ Robert tritt gereizt gegen die Flaschen am Boden. „Ich habe es dir doch schon gesagt. Mit uns beiden, das ist nur ein Spiel. Sobald du als mein Elternteil erscheinst, sieht es gleich so aus, als ob ich hinter ihr her wäre. Das bringt nichts1 Ich habe nichts mit ihr vor. Ich laufe ihr nicht hinterher. Darum besteht keine Notwendigkeit sie zu besuchen. Du gehst hin..., aber ich will nicht zu ihr aufschauen!“

Arthur lächelt und sieht Robert nachdenklich an.

„Bestehst du darauf, dass ich nicht gehe?“

„Ich bestehe nachdrücklich darauf“, sagt Robert hastig.

Arthur seufzt. „Also, Robert, dann musst du auf meinen Rat hören.“

„Welchen Rat?“

Arthur blickt ihn an, langsam und sehr grundsätzlich sagt er:

„Abstand halten ist der einzig mögliche Weg zur Sicherheit!“

Robert sieht seinen großen Bruder an und lächelt. Aber in diesem Lächeln ist auch eine Art Angst und Frustration. Er dreht sich um und sieht aus dem Fenster. Vor dem Fenster hat sich die Dämmerung angesammelt und er befragt wortlos das langsame Zusammenbrauen im Fenster. Er beißt sich auf die Lippen und tritt wieder gegen die Flaschen auf dem Boden.

„Großer Bruder, mach dir keine Sorgen“, murmelt er.

„Sorgen?“ Arthur schüttelt den Kopf. „Ich mache mir wirklich Sorgen! Deine Stimme, so wie du dich anhörst, dieses Mädchen ist ...“

„Sie ist eine Mischung aus Engel und Dämon!“ unterbricht Robert ihn.

Arthur fühlt im Herzen einen Stich. „Diese Art von Mädchen ist das gefährlichste Tier auf der Welt.“

Er sieht Robert an und lächelt. „OK, dann werde ich sie jetzt nicht besuchen. Ich vermute, es dauert nicht lange und du wirst sie mit mir besuchen wollen!“

„Das werde ich nicht! Wir spielen nur so rum.“ „Ok. Ihr spielt nur.“ Arthur guckt Robert an.

„Brauchst du Geld? Robert! Die teuerste Angelegenheit der Welt ist eine Freundin zu erobern.“

Roberts Augen leuchten.
„Arthur, du bist genial, du holst mich da einfach mit Geld heraus!“

Arthur holt aus seiner Tasche eine Rolle mit Banknoten und stopft sie in Roberts Hand. Robert nimmt das Geld und wird sofort wieder emotional:

„Ich lade dich ein, Meeresfrüchte essen zu gehen!“ „Du lädst mich ein?“ Arthur schreit kurz auf.

„Gerade habe ich dir Geld gegeben und du nimmst mein Geld und lädst mich zum Essen ein. Wie großzügig du bist!“

„Du verstehst mich nicht.“ Robert ist ganz hochgestimmt und sagt: „Das Geld war in deiner Tasche. Da war es deins. Dann hast du es mir gegeben und schon ist es meins. Ich nehme dieses Geld nicht und lade Flora damit ein. Erst will ich dich einladen. Ist das etwa nicht großzügig?“

„Ha! Wenn du es so siehst, muss ich dir wohl auch noch danken?“ Arthur lacht und klopft bekräftigend auf Roberts Schulter.

„Jetzt erzähl mir nichts mehr von deinem Engel-Dämon. Wie sind deine letzten Hausaufgaben gelaufen?“

„Shakespeare hat einmal diesen Satz gesagt: Rede nicht über Vergnügen in den schönen Stunden.“

„Das soll Shakespeare gesagt haben? Wie komisch, dass ich das noch nie gehört habe?“ „Ha! Weil ich Shakespeare fleißig studiert habe!“

„Unverschämtheit!“ schimpft Arthur: „Wenn du es wagst deine Hausaufgaben zu vernachlässigen, ziehe ich dir das Fell über die Ohren!“

„Zu deinem eigenen kleinen Bruder hast du kein Vertrauen mehr?“ Robert zuckt mit den Schultern: „Du denkst, was bin ich für ein Mensch? Von dem wichtigen Verleger Arthur Wang der kleine Bruder. Mein großer Bruder war ein Top-Student, ich bin auch ein ausgezeichneter Schüler .....“

„Universität von Taiwan?“

„Die National Taiwan University ist sicherlich groß, der Teil Tankang ist das große T. Obwohl das nicht das andere T ist, da ist kein großer Unterschied!“

„Schwätzer!“ schimpft Arthur. „Je mehr du lernst, desto größer wird der Hohlraum! Hast du das von deinem dämonischen Engel gelernt?“

„Dämonischer Engel?“ Robert erstarrt. „Das ist ein guter Spitzname, den du dir da ausgedacht hast. Ich werde ihn Flora erzählen.“

Plötzlich ist in Arthurs Herz ein schwaches Gefühl der Angst. Er muss an Tao Danfeng aus dem „Schwarzen Engel“ denken. Ganz schwach, irgendwie, es ist komisch, ein unheilvolles Gefühl. Er hofft, dass Roberts Kindlichkeit nicht verschwindet, dieses Gesicht voller Unschuld und Freude. Aber er fühlt einen unsichtbaren Schatten, der über diesem jungen Mann schwebt. Er beobachtet ihn genau und sagt plötzlich:

„Robert, du ziehst nach Taipeh und lebst mit mir, ok?“

„Ach, hör doch auf!“ schreit Robert: „ Deine Unschuld wird mich schnell nach Hause treiben!“

Er sieht Arthur ernst an: „Ehrlich, Arthur, wie weit bist du weg von jener Unbeflecktheit? Ich bin im Begriff eine Schwiegerschwester zu kriegen. Ist es nicht so?“

„Bald!“ Er zuckt mit der Schulter und sagt plötzlich: „Lade mich nicht ein zu Meeresfrüchten. Komm mit mir nach Taipeh und ich lade dich ein zu einem Steak!“

„Ist sie auch da?“

„Ja.“ Robert denkt zwei Minuten lang nach und lacht. „Ich will keine getrockneten Radieschen, ich suche meinen dämonischen Engel auf!“

„Hast du nicht gesagt, dass du gerade mit ihr Schluss gemacht hast?“

„Ja.“ Robert kratzt sich am Kopf. „Ich habe mich gerade getrennt und möchte mich wieder mit ihr treffen. Ich weiß auch nicht, etwas ist da bei mir nicht in Ordnung?“

Arthur sieht ihn wohlwollend an. „Robert, hast du schon jemals daran gedacht, dass du verliebt bist?“

„Verliebt?“ Robert springt hoch, wie von einem elektrischen Schlag getroffen, wie von einer Schlange gebissen. Er schüttelt den Kopf und sagt irritiert: „ Nein! Nein! Wer könnte diesen Teufelsengel lieben, wer will freiwillig Pech! Nein! Verliebt bin nicht ich, das ist sie.

„Arthur, wie ist diese Sybil?“ er stoppt. „Ist sie ein Engel? Hat sie auch etwas Dämonisches? Denkst du, wenn Frauen geboren werden, dann sind sie eine Hälfte Engel und die andere Hälfte dämonisch und sie sind die Nemesis- die Rachegöttinnen aller geborenen Männer?“

Arthur ist überrascht.
„Nicht notwendigerweise“, murmelt er.

„Dann ist meine zukünftige Schwiegerschwester....,“ sagt Robert ohne Umschweife: „ein hundertprozentiger Engel.“

Er fasst seinen Bruder an der Schulter: „ Arthur, dieses Mal solltest du auf dein Glück aufpassen, auf jeden Fall mach es nicht wie beim letzten Mal...“ abrupt hört er auf zu sprechen.

„Wie beim letzten Mal?“ fragt Arthur schnell. Sein Gesicht hat sich schlagartig verfärbt. „Was weißt du? Wer hat mit dir darüber geredet?“

„Nein, nein. Nein!“ sagt Robert immer wieder und rennt aus dem Zimmer: „Geh du dein Steak essen, ich esse meine Meeresfrüchte. Bis in zwei Tagen!“

„Bleib stehen!“ stößt Arthur aus. Robert zieht seinen Fuß zurück und bleibt in der Türöffnung stehen.

„Sag was du weißt“, sagt er unfreundlich, mit scharfer Stimme. Seine Augen fixieren Robert bewegungslos, im Inneren scheint ein schattiger Raubvogel zu schimmern.

„Wen hast du von mir reden hören? Was ist los?“

„Also ...“ flüstert Robert, er möchte entkommen. „Ich weiß es auch nicht. Ich habe nur gehört unsere älteren beiden Schwestern und Mutter haben darüber gesprochen ...“

„Wovon haben sie gesprochen?“ fragt er angespannt.

„Dass du früher schon einmal ein Mädchen in Taipeh geliebt hast ...“ Robert findet keinen Ausweg, er plappert weiter: „Das Mädchen war ein ... Teufel! Sie ... hat mit dir gespielt, sie hat dich betrogen und ... und ...“

„Unsinn!“ schreit Arthur.
„Großer Bruder, was ist mit dir los?“, sagt er verblüfft.

„Ich ... ich habe das gehört. Wie auch immer ... jetzt ist doch sowieso alles vorbei. Mama hat auch gesagt, dass ich dir das nie sagen darf ... ich ... ich habe es vergessen ... in Ordnung, Arthur, ich entschuldige mich bei dir!“

Er verbeugt sich bis zum Boden und lächelt bemüht dabei eine Grimasse schneidend. „Der ignorante kleine Bruder bittet: großer Bruder, vergib mir!“

Arthur dreht den Kopf weg, seine Augen sind geschlossen, er beißt die Zähne zusammen, schließlich seufzt er.

„Ok, frag nicht nach Schätzen.“ Er ist heiser.

„Denk daran, dies in Zukunft niemals wieder zu erwähnen! Kein Wort! Vor allen Dingen in Gegenwart von .... von Sybil.“

„Ich habe verstanden.“ Sagt Robert hastig:

„Ich werde vor deiner zukünftigen Frau nicht so dumm sein, über deine vergangenen Lieben zu reden, ich sage nur ...“

Er überlegt sich einen klugen Satz: „Du hattest noch nie eine Freundin!“ „Unsinn!“ schreit Arthur wieder.

„Wieso?“ Roberts Augen werden immer größer, er ist verwirrt und ratlos. „Das ist auch nicht richtig? Wenn das auch nicht richtig ist, was soll ich denn sagen? Am besten bringst du es mir erst mal bei, damit ich dann nicht das Falsche sage!“

Arthur sieht Robert direkt an und beobachtet ihn lange. Er sieht, dass Robert in seinem Herzen eine Gänsehaut bekommen hat. Schließlich seufzt er tief.

„Robert“, Er ist entmutigt und deprimiert, mürrisch sagt er: „Ich denke, du solltest Sybil vorerst besser nicht sehen. Geh du nur und besuche deinen dämonischen Engel!“

„Großer Bruder!“, sagt Robert sehr ernst: „Was ist wirklich los?“

„Das verstehst du nicht.“ Arthur schüttelt den Kopf und geht zum Ausgang.

„Sybil ... ist eben von dem Mädchen die kleine Schwester!“

„Arthur!“ ruft Robert und dieses Mal ist er an der Reihe blass zu werden. Er starrt Arthur misstrauisch an.

„Es gibt so viele Frauen auf der Welt, wieso gehst du im Kreis und zu der Schwester dieser Frau? Ich habe von meiner Schwester und Mutter sagen hören ...“

„Erzähl es nicht Mama! Erzähle es auch nicht unserer großen und unserer kleinen Schwester!“

Arthur starrt seinen kleinen Bruder warnend an.

„Egal wo, sag nichts! Glaub auch nicht die übertriebenen Geschichten der älteren Schwestern! Die reale Situation war gar nicht so! Wie auch immer, sag nichts!“

Roberts Augen sind sehr groß. Er kann seinen Bruder lange nicht ansehen. Eine ganze Weile stehen sich die Brüder schweigend gegenüber, keiner sagt etwas. Schließlich ist es Robert, der zuerst den Mund aufmacht. Er stößt einen langen Atemzug aus und flüstert:

„Ich denke, du bist vom Teufel besessen!“

„Robert!“ brüllt Arthur. „Du kennst Sybil nicht, rede nicht so! Sie ist die süßeste Frau der Welt!“

Robert dreht den Kopf weg, er öffnet erstaunt den Mund, in Verzweiflung denkt er einen englischen Satz und sagt ihn dann laut: „God bless you!“

 

 

8. Episode

 

Sybil sitzt vor ihrem Schreibtisch.

Auf dem Tisch liegen viele Sachen, Manuskriptpapier, Schreibwaren, Bücher, Notizen, Wörterbücher, eine Mustersammlung der Ci-Gedichte, poetische Reime, Briefe ... aber alles hat seinen festen Platz. Es gibt nicht das geringste bisschen Unordnung. Das Haus ist sehr ruhig. Eine Abendbrise bewegt leicht den Vorhang und macht einen sachten Klang, wie ein Lied. Ein Licht brennt im Raum. Sybil lehnt sich tief in den Drehstuhl mit hoher Rückenlehne. Leise und nachdenklich dreht sie sich im Drehstuhl. Sie ist ganz in das schwache Licht gehüllt.

Sie liest gerade einen Brief, einen Brief von vor langer Zeit. Dies könnte ihr tausendstes Mal sein, vielleicht ihr zehntausendstes Mal, aber sie liest ihn immer genauer. Ihr ganzer Geist, ihr Wille und alle ihre Gedankenkräfte sind in diesen Brief eingetaucht:

Liebe Sybil:

Als erstes möchte ich dir gratulieren. Du hast endlich deinen Abschluss gemacht.
Seit vielen Jahren schienen deine große Schwester und ich nur ein Ziel zu haben, auf diesen Abschlusstag zu warten. Wir haben immer wieder geplant und geplant. Wenn sie ihren Abschluss macht, müssen wir weit, weit, bis zur Pazifikküste laufen. Da öffnen wir eine Flasche Champagner auf einem Felsen

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am Meer und gratulieren über die Trennung durch das Meer zu deinem Erfolg. Wir werden unser Glas leer trinken und dann ins Meer werfen. Dabei werden wir wünschen, dass die Wellen es bis zu deiner Seite des Wassers tragen.

Sybil, du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Wunschträume wir hatten, wie viele Zukunftspläne. In Amandas Herz warst du das, was sie am meisten geschätzt hat. Sie fragte sich immer schuldbewusst, warum hattest du nicht den Mut, dich hier zu behalten, warum musste sie aushalten, die Heimatstadt zu verlassen, in ein fremdes Land gehen? Jedes Mal wenn du geschrieben hast, von deiner Not und Einsamkeit erzählt hast, konnte Amanda nicht anders als seufzen. Ich war an ihrer Seite, Ich habe es oft gehasst, die Sorgen deiner Schwester nicht teilen zu können. Ich habe die Schwäche meiner eigenen Stärke oft gehasst. Oft habe ich auch mein Schicksal gehasst ... Aber in diesem vielen Bedauern gibt es kein Bedauern, das die Stimmung wieder gut machen über das, was ich dir jetzt schreiben muss; ich hasse mich für viele Dinge, die ich nicht zu tun geschafft habe oder die ich falsch gemacht habe, aber am meisten (4X) hasse ich mich dafür. Aber ich bin machtlos, mich davon zu erholen!

Ich bin machtlos, es ungeschehen zu machen! Sybil, du musst ruhig sein. Höre mir still zu, wenn ich dir diese Sache erzähle. Du hast deinen Hochschulabschluss gemacht, du bist kein kleines Kind mehr, du warst zutiefst traurig über den Verlust deines Vaters, du bist mit Widrigkeiten aufgewachsen, du bist reifer als gleichaltrige Mädchen, mutiger, du hast der Realität mehr ins Auge gesehen.

Liebe Sybil, ich muss dir sehr ehrlich sagen, deine geliebte Schwester ist schon vor einiger Zeit, vor einem halben Jahr schon, von uns gegangen.

Ich bitte dich, verzeih mir, dass ich das ein halbes Jahr vor dir versteckt habe, weil ich Amanda zu gut verstehe. Sie wollte durch ihren Tod dein Studium nicht beeinträchtigen. Also habe ich mir vorgenommen mit Amanda mutig zu sein und dir erst jetzt die Mitteilung zu senden. Verzeih mir das bitte. Amanda hatte eine ruhige Art, sie war rein und makellos! Ich habe Himmel und Erde gehasst, ich habe die Götter der Welt verflucht. Aber die Verstorbene ist tot. Sybil, Sybil, heute kann ich um sie trauern, nein: du und ich. Die Trauer deiner Mutter ist selbstverständlich, aber sie hat doch einen anderen Ehemann und Kinder. Aber ich habe fast nur Amanda, ich habe sie verloren. Aber für mich ist es gleichbedeutend wie die ganze Welt zu verlieren! Sybil, glaube mir, als sie gestorben ist, war mein Schmerz hundertmal größer als deiner. Ich hatte Schmerzen, ich habe ohne Tränen geweint ... aber jetzt. Ich habe immerhin überlebt. Und so, Sybil, kannst du auch überleben. Bitte tue mir einen Gefallen, tu deiner Schwester den Gefallen. Trauere, trauere schwer, wie ich, um deine geliebte Schwester!

Amanda starb am 27. Dezember letzten Jahres, kurz nach Weihnachten. Sie war wirklich schwach, aber sie war in guter Stimmung. Wir haben nicht erwartet, dass sie einen Herzinfarkt bekommt. Bis die Krankheit plötzlich auftrat. Da war es zu spät sie zu retten. Bitte verzeih mir, dass ich nicht näher auf ihren Tod eingehe. Auch wenn ich den Stift ansetze, ich kann nicht mehr sagen. Hatten unsere Vorgänger recht, wenn sie sagten: Tote haben es geschafft,

Lebende müssen sich dieser Sache noch würdig erweisen? Sybil, ich habe dich noch nie gesehen, aber, wie auch immer, in diesem Moment glaube ich, dass du mich kennst und nur du mich verstehst!

Als Amanda am Leben war und wenn nichts zu tun hatte, las sie gern Liebesgedichte und Sätze von Nie Shengqiong:

„Habe einen Traum gefunden, Träume sind schwer zu haben Wer weiß, dass ich liebe. Die Tränen auf dem Kissen Werden zu Regen. Durch das Fenster
Zum Hellen!“

Unerwartet, es war einmal, dies stellte sich als eine Beschreibung meines Lebens heraus.

Es tut mir Leid, ich sollte diese Sätze nicht schreiben. Ich dachte, gut, ich möchte dir einen Brief schreiben um dich zu trösten, dir Mut zu machen. Wer weiß schon, wie man das schreibt. Dieser Brief erwies sich als schwierig! Bitte verzeih mir. Verzeih mir, dass ich mich unwohl fühle.

Ich weiß nicht, ob ich in diesem Leben die Chance habe nach England zu fahren? Ob ich die Möglichkeit habe, dich zu sehen? Oder, wenn ich dich sehe, meine Haare frostweiß sind? Egal, ob wir uns durch Schicksal treffen oder nicht, du hast einen Platz in meinem Herzen, du bist immer meine liebe kleine Schwester. Solange es nötig ist, musst du mir alles sagen, so, wie du es ihr
gesagt hast. Ich habe auch einen kleinen Bruder, wir haben uns lieb, genauso lieb, wie Amanda und du euch hattet. So kann ich die Zuneigung von euch Schwestern zutiefst schätzen. Sybil, wegen Amandas Tod ändert sich nicht
meine Freundschaft zu dir. Bitte akzeptiere mich als deinen großen Bruder,
lass mich weiter auf dich aufpassen.

Sybil, Ich weiß, dass dieser Brief für dich wie ein Blitz aus heiterem Himmel ist. Leider muss man im Leben oft mit verschiedenen Unfällen konfrontiert werden. Im Großen gesehen ist Leben oder Tod eine Frage von Erfolg oder Misserfolg! Ich möchte noch einmal sagen. Von mir für deine liebe Schwester tausende von Gebeten und hundertfache Hochachtung!

„Das Papier ist kurz, das Herz aber lang, ein Buch würde nicht ausreichen!“ Bitte, nimm meine aufrichtigsten Wünsche entgegen.
Arthur Wang , 20. Juni, spät nachts“

Sybil starrt auf das Briefpapier, nachdenklich, immer wieder liest sie ihn aufmerksam durch. Sie hat das Gefühl, den Brief auswendig rezitieren zu können und dennoch den Sinn einiger Sätze nicht vollständig zu erfassen. Schließlich breitet sie das Briefpapier flach auf ihrem Schoß aus. Sie schaut auf die Lampe auf dem Tisch. Diese Lampe hat einen rein weißen Lampenschirm. Sie sieht versteinert auf den Lampenschirm, bis die Türklingel ertönt.

Sie springt hoch, schüttelt den Kopf. Wenn sie lange in das Licht schaut, blendet es ihre Augen. Ihre Gedanken sind immer noch in diesen Brief vertieft. Als es zum zweiten Mal klingelt legt sie schockiert den Brief in die Schublade hinein. Hastig wirft sie einen Blick
über den Tisch und stopft dann den gesamten Stapel alter Briefe in die Schublade. Sie richtet ihre Kleidung und streicht über ihre Haare, geht gerade noch rechtzeitig zur Tür und öffnet sie.

Arthur hält eine wunderschön verpackte Papierschachtel in der Hand. Mit großen Schritten kommt er herein.

„Womit bist du so fleißig beschäftigt?“ fragt er und sagt: „Ich habe eine Ewigkeit vor der Tür gewartet.“

„Mit allem und nichts“, sagt sie lächelnd. „Ich sitze einfach da und hänge meinen Gedanken nach.“

„Auf der Suche nach Inspiration?“ Er stellt die Schachtel auf den Tisch und schaut sie an. Sie trägt ein reinweißes Leinenhemd mit einem bunten Seidenschal um die Taille gebunden. Die langen Haare hängen bis zur Schulter. Sie schwebt wie eine Fee. Er kann nur noch seufzen.

„Du bist so schön wie ein Traum! Du bist so elegant wie eine Schilfblume!“ Er nimmt ihr Handgelenk, zieht sie in seine Arme und findet ihre Lippen.

Sie schiebt ihn sanft weg, geht zum Tisch, schaut auf die verpackte Papierschachtel und fragt: „Was ist das?“
„Ein Geschenk.“
„Was für ein Feiertag ist denn heute?“ fragt sie.

„Es muss ja nicht unbedingt ein Feiertag sein, um ein Geschenkt zu machen, stimmt’s?“ sagt er, lächelt und löst das Geschenkband. Sie steht neben ihm, und schaut abwesend zu. Er hebt plötzlich den Kopf und sieht sie aufmerksam an,

„Du hast etwas auf dem Herzen!“ sagt er.
„Nein!“ sagt sie nach einem inneren Kampf und grinst widerwillig.

Er schiebt die Schachtel zur Seite und öffnet sie nicht weiter. Er dreht sich um und sieht sie unverwandt an, von Kopf bis Fuß. Seine Augen sind tief und scharf, mit einer alles durchdringenden Hitze bleiben sie auf ihr Gesicht geheftet. Er schlingt seine Arme leicht um ihre Taille und zieht sie näher an sich. Vorsichtig schaut er ihr tief in die Augen.

„Was ist?“ fragt er leise, aber mit Nachdruck. „Nichts!“ sagt sie halsstarrig.

„Erzähl mir keine Märchen“, sagt er und streichelt ihr Augenwinkel mit seinen Fingern. „Deine Augen werden nicht ohne Grund nass.“ Seine Stimme ist sanft und aufrichtig. So sanft, dass man nicht widerstehen kann.

Sie schlägt die Augen nieder, legt ihren Kopf auf seine Schulter und sagt leise: „Ich denke, ich bin ein bisschen einsam.“

„Einsam?“ Er versteht das nicht. „Tagsüber besuche ich dich, den ganzen Tag bist du nicht zu Hause.“

„Ich bin nicht zu Hause einsam“, sagt sie leise, „ich gehe raus und bin den ganzen Tag unterwegs, an jeder Straßenecke, jedes Fenster, in jedem Geschäft .... überall sehe ich Einsamkeit. Darum gehe ich nach Hause. Aber zu Hause ist es auch nicht besser als draußen.“

„Warum rufst du mich nicht an?“

„Du bist sehr beschäftigt. Du hast nicht so viel Leerlauf wie ich, ich wage es nicht dich zu stören.“

„Du wagst es nicht mich zu stören?“ fragt er sanft. „Obwohl du dich einsam fühlst, wagst du nicht mich anzurufen? Im Leben passieren viele Dinge, aber was kann für mich wohl wichtiger sein als deine Einsamkeit?“

Er streichelt sanft ihr langes Haar. „Es fühle mich nicht gut, Sybil. Du erschreckst mich. Es geht mir nicht gut.“

„Wieso geht es dir nicht gut?“ Sie ist verwirrt.

„Wenn du dich einsam fühlst, dann stimmt etwas mit mir nicht.“ Er meint es ernst und aufrichtig und sagt sanft: „ Ich kann die Lücke in deinem Herzen nicht ausfüllen? Ich mache das ganz schlecht.“

„Sag das nicht!“

Sie hebt den Kopf und sieht zu ihm auf. Die Feuchtigkeit in ihren Augen hat sich ausgedehnt. „Du darfst nicht so reden. Du sollst nicht so reden! Du musst das verstehen. Ich bin in Europa aufgewachsen, obwohl dies meine Heimatstadt ist und das ist sehr komisch für mich. Gelegentlich kann es auch vorkommen, dass ich London vermisse, mir fehlen dann meine Freunde von dort, ich sehne mich nach dem Klang der Glocken von Westminster Abbey, ich denke an die Open-Air-Galerie im Hyde Park, mir fehlen die exzentrisch gekleideten Menschen auf den Straßen, ich denke an das königliche Ballett, ich denke an die unzähligen Theater....dort. Immerhin habe ich dort acht Jahre gelebt!“

Er hält Ihr Gesicht mit seinen Händen und schaut fest in ihre gedankenvollen Augen. „Arme Sybil!“ sagt er mitempfindend: „Du weißt wirklich nicht, wo dein Zuhause ist!“ Sie zuckt mit den Augenlidern, die feuchten Augen rollen langsam.

„Lass deine Stimmung nicht von mir beeinflussen! Sagt sie: „Ich möchte sehen, was für ein Geschenk du mir mitgebracht hast.“ Sie will sich von ihm befreien.

„Du darfst erst einmal nicht gucken!“ Er lässt sie nicht los. „Sag mir, wo wirst du heute zu Abend essen?“

„Ich....“ Sie verdreht die Augen und denkt nach. „Ich .....“

„Du wirst doch nicht zu essen vergessen?“ sagt er vorwurfsvoll. „Du hast mir einmal gesagt, man darf nicht vergessen zu essen. Ich sehe jetzt, du hast oft zu essen vergessen!“

„Essen ist nicht so eine wichtige Angelegenheit.“ Sie lächelt widerstrebend. Der Rest der Einsamkeit bleibt immer noch unter ihren Augenbrauen.

„Ist das so?“ Er zieht die Augenbrauen hoch, lässt sie plötzlich los, dreht sich um und sieht sich suchend um. Er geht zum Schrank, öffnet ihn und nimmt einen weißen Mantel heraus. Er wirft ihn auf ihren Körper und sagt einfach deutlich: „Wir gehen! Ich weiß, dass es ein Restaurant mit dem besten französischen Brot der Welt gibt. Obwohl es kein britisches Essen ist, ist es sehr europäisch und französisch. Gehen wir!“

Sie nimmt den Mantel, sieht ihn zögerlich an und sagt: „Eigentlich habe ich überhaupt keinen Hunger!“

„Man muss nicht hungrig sein um zu essen!“ Er zieht sie zur Tür. „Der Hunger kommt beim Essen! Trink etwas und iss diese französische Atmosphäre! OK? Auf geht’s!“

Er versucht sie zu begeistern. Unfreiwillig geht sie mit ihm aus der Wohnung. Draußen herrscht unter dem Nachthimmel im April noch eine leichte Kühle. Am Himmel ist der Mond rund und groß und die Erde ist hell beleuchtet. Die Wolken sind spärlich. Wie weit entfernt der kalte Stern am Himmel hängt. Das spärliche Funkeln dort.

„Kein Wunder, dass die Alten sagten „Der Mond ist ein seltener Stern“, sagt Sybil und schaut zum Mond auf. „Grundsätzlich ist der Mond nachts rund und groß. Da sind sehr wenig Sterne.“

„Du bist sehr aufmerksam!“ sagt er: „Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so genau beobachtet wie du, ein Mädchen, das alles genau erforscht!“

„Bist du sehr aufmerksam?“ sie streift ihn mit einem Blick. „Nicht unbedingt: Zumindest bis jetzt habe ich dich nicht sehr genau beobachtet.“

„Was willst du damit sagen?“ Er runzelt leicht die Stirn.

„Nichts will ich damit sagen.“ Sie sagt schnell weiter: „Du bist wie ein Ozean, bodenlos, alles inklusive; du bist zu reich, das kann in drei oder zwei Tagen nicht klar beobachtet werden. Hast du schon mal gehört, dass manche Menschen monatelang arbeiten müssen, einfach um den Ozean studieren? Ozeanographie ist eine große Wissenschaft. Die ganze Lebensenergie eines Menschen ist nicht genug und er hat noch lange nicht genug geforscht, richtig?“

Er schaut sie im Mondlicht an. Ihr Gesicht sieht im Sternen- und Mondlicht verschwommen, tiefgründig und unberechenbar aus.

„Wenn ich der Ozean bin, gleichst du dem Weltraum“, sagt er: „Ich weiß nicht, worüber man mehr weiß? Welches ist schwieriger zu beobachten und zu studieren?“

Sie senkt den Kopf und lächelt ohne ein Wort zu sagen. Das Lächeln ist subtil und leicht traurig. Es ist schwer zu zeichnen, schwer zu beschreiben und dennoch berührend.

Nicht viel später sitzen sie bereits im „ Paris“, einem westlichen Restaurant. Dieses Restaurant vermittelt wirklich ein Gefühl von Frankreich in Einrichtung und Speisen und das knusprige Brot ist authentisch französische Kultur. Sie sitzen in einer Ecke und bestellen zwei Gläser Rotwein. Sobald Sybil den Duft von geröstetem Knoblauchbrot und den Geruch des gebratenen Steaks riecht, ist sie „wirklich hungrig“. Schließlich bestellen sie Zwiebelsuppe, Steak und Schnecken.

Sybil nippt an ihrem Rotwein und sieht sich um. Ihre „potentielle“ „Beobachtungskraft“ ist wieder voll ausgeschöpft. Das Geschäft läuft sehr gut. Chinesen und Ausländer sind hier. Ihre Augen wandern von Tisch zu Tisch, ein Weinglas in der Hand haltend, sagt sie mit Emotionen: „Als ich in London war, habe ich nicht erwartet, dass Taiwan so modern ist. Das Steak hier ist noch besser als in Großbritannien.“

„In den letzten zwei Jahren boomt unsere Wirtschaft sehr schnell“, sagt er: „Das Leben, das du überall auf der Welt genießen kannst, das kannst du alles hier genießen und du musst nicht unter einer Art von Rassendiskriminierung im Ausland leiden. Ich möchte nicht ins Ausland gehen. Meine Vorstellung von Familie ist zu gewichtig.

„Aber deine beiden jüngeren Schwestern sind ins Ausland gegangen.“ „Die Heirat mit einem ausländischen Studenten ist das letzte Mittel.“

„Und dein jüngerer Bruder? Wird der auch ins Ausland gehen?“ fragt sie und wirft einen Blick in die gegenüberliegende Ecke. Neben der Bar ist ein Tisch mit Herren, ungefähr vier oder fünf. Unter ihnen ist ein Mann mittleren Alters mit einer goldumrandeten Brille. Sie kann nicht anders, als ruhig hinzusehen.

„Mein jüngerer Bruder?“ Arthur denkt an Robert, denkt an dessen Schneckenhaus, seine Bienenoffensive, seine Flora und ihren kleinen Schneeball.

„Ich weiß es nicht. Er studiert Englische Literatur. Das ist wirklich eine schreckliche Abteilung. Ich glaube, er hat nicht einmal gut chinesische Literatur studiert. Was kann er da über englische Literatur herausfinden.“

Er lächelt. „Er studiert seit fast zwei Jahren. Gibt es einen Fehler in dem berühmten Shakespeare-Zitat, das er rezitiert. Wieso? Er gibt als Antwort: „Das ist kein Fehler, weil das Pinyin (die Aussprache) korrekt ist! Das ist mein Schatz von einem kleineren Bruder! Mehr als clever, aber nicht gründlich genug!“

Sybil hält es nicht mehr aus und muss lachen.
„Wie viele Punkte hat er bei der Prüfung erzielt?“ fragt sie besorgt. „Null Punkte!“

„Das ist nicht fair!“ Sie nippt am Wein. Wangen und Lippen sind vom Wein rot gefärbt. „Was sollte denn die richtige Antwort sein?“

„Dieser Satz ist gar nicht von Shakespeare sondern von Dickens! Und obendrein die berühmtesten Worte von Dickens!“

„Welche Worte“, fragt sie mit einem Lächeln.
„Es war ein helles Zeitalter, und es war auch ein dunkles Zeitalter...“
„In der Geschichte zweier Städte!“
„Genau! So ein einfaches Thema. Er würde sagen, dass das Pinyin richtig ist!“

„Die Antwort ist richtig!“ Sie lächelt vielsagend. „Dein Bruder ist ziemlich frech! Wie heißt er? Oh, Robert, das hast du mir schon einmal gesagt.“ Sie sieht wieder zur Bar-Ecke. Die goldumrandete Brille starrt sie immer noch an.

Die Zwiebelsuppe ist da. Sie streut geriebenen Käse darüber und rührt mit einem kleinen Löffel um.

„Du hast deinen kleinen Bruder sehr lieb, nicht? Er ist so ungezogen und du redest über ihn immer noch im Ton der Wertschätzung!“

„Er ist sehr ungezogen, aber sehr süß!“

Sie starrt ihn an und seufzt plötzlich eine Weile.

„Was ist?“ fragt er: „Warum seufzt du?“

„Ich beneide dich! Wie großartig, Brüder zu haben, die man lieben kann!“

„Liebst du deine Schwestern nicht?“

Das Lächeln verschwindet von ihren Lippen. Sie hebt den Kopf und sieht ihn an. Ihre Augen sind voller Hilflosigkeit, traurig und trostlos.

„Ich liebe nur meine große Schwester“, sagt sie leise: „Sehr, sehr liebe ich meine Schwester. Was meine jüngeren Geschwister betrifft, sie sind kleine fremde Teufel/ Ausländer. Das sage ich oder ist das zu viel, aber sie sind wirklich kleine fremde Teufel/Ausländer. Sie können nicht Chinesisch sprechen, haben blonde Haare und blaue Augen. Einmal hat sich mein älterer Bruder mit mir gestritten, da hat er mich getreten und geschimpft: „Du chinesisches Schwein, verschwinde!“ Meine feige Mutter hat mich nur mit hilflosen Augen angeschaut. Ich bin seitdem nie mehr nach Manchester zurückgekehrt, um meine Mutter zu sehen. Meine Mutter in meinem Herzen ...“ sie seufzt: „ist Amanda! Aber sie ist tot.“

Sie senkt den Kopf, bedeckt die Stirn mit den Händen. In die Zwiebelsuppe fallen zwei Wassertropfen. Ihre Stimme ist so leise wie ein Flüstern:

„Arthur, du hättest sie nicht sterben lassen dürfen! Wirklich nicht!“

Er streckt die Hand aus und legt sie auf ihre Hände.

Sie hebt langsam den Kopf, der Nebel in ihren Augen ist verschwunden, sie sind wieder klar und voller Energie. Sie lächelt widerstrebend:

„Entschuldigung, ich verderbe immer die Stimmung!“

Das Steak wird serviert. Der Geruch ist scharf. Sie bedeckt die verstreuten Dämpfe mit einer Serviette und spricht mit dem Geist: „Du riechst gut genug, ich habe Hunger!“

Er drückt ihre Hand fest, sie zieht ihre Hand zurück. Er beobachtet sie, seine Augen sind voll unerschöpflicher Zärtlichkeit und Emotionen und er sagt mit leicht heiserer Stimme:

„Mir zuliebe iss noch mehr, Sybil. Ich halte deine Hand und weiß, dass du zu dünn bist. Mir zuliebe iss bitte mehr!“

„Du hast Angst, dass ich zu dünn bin?“ Da platzt aus ihr heraus: „Du fürchtest, ich könnte plötzlich wie meine Schwester sterben? Du hasst Angst, dass nach meinem Tod keine weitere Schwester mehr da ist, die die Lücke ausfüllen könnte?“

„Dang“ macht es und die Gabel aus seiner Hand fällt auf den Teller. Er starrt sie an, ein Ausdruck von unbeschreiblichem Schmerz und Wut strömt schnell in seine Augen. Er starrt sie tödlich, tief und lange an. Schweres Atmen bewegt seinen Brustkorb, seine Brauen runzeln die Stirn, in der mitten zwischen den Augenbrauen befinden sich einige tiefe Kerben. Irgendein herzzerreißender Schmerz irritiert ihn, verärgert ihn, macht ihn traurig und ist unerträglich. Er kann sich nicht mehr beherrschen, er atmet tief ein und geflüstert, deprimiert brechen ein paar Worte tief in der Kehle hervor: „Sybil! Wie kannst du so grausame Worte sagen? Musst du uns unglücklich machen? Bist du entschlossen, dass wir beiden nicht glücklich sein sollen? Wenn das so ist, dann sag es mir gleich und ich werde mich zurückziehen! Wenn unsere Gefühle immer in Amandas Schatten kämpfen werden, würde ich mich lieber zurückziehen. Du bist so schlau, warum quälst du mich? Du ...“

„Arthur!“ ruft sie, erschreckt durch die Situation, die sie selbst geschaffen hat. Sie legt Messer und Gabel hin. Sie sieht ihn nervös und verzweifelt an. Eine Zeitlang weiß sie nicht, was sie tun soll. Und dann, einfach so, kommt plötzlich der Mann mit der Goldrandbrille vorbei. Ganz offensichtlich erkennt er Arthur. Er lächelt und geht weiter. Da streckt Sybil die Hand aus, schüttelt Arthur am Handgelenk und sagt hastig:„Da ist ein Mann, der dich kennt. Er ist gekommen, um dich zu begrüßen!“

Arthur schaut immer noch zu Sybil, erst nach langer Zeit dreht er sich gelangweilt um. Wer weiß schon, dass das dem mit der Brille nichts ausmacht, er geht weiter in Richtung Sybil, lächelnd, macht eine kleine Verbeugung, streckt seine Hand aus, um ihre zu schütteln und sagt: „Was! Lange nicht gesehen! Also hast du Taipeh nicht verlassen. Ich habe viele Gerüchte gehört! Wie ...“ Er steht steif da und seine Augen werden unversehens größer: „Kennst du mich nicht mehr? Du hast mir einen Spitznamen gegeben. Du hast mich Phnom Penh Frosch genannt. Damals hast du deinen Geburtstag gefeiert, ich habe das für dich gemacht ...“

Arthur springt auf, er schiebt den Mann weg, wütend, drohend schreit er: „Mein Herr, Sie haben die falsche Person vor sich!“

Diese Person ist schon ein bisschen betrunken. Von Arthur so hart gedrückt, fällt er fast hin, er taumelt, bleibt aber stehen, krempelt die Ärmel hoch – seine Waffen zeigend – und sagt laut: „Warum schlägst du Leute? Du willst dich schlagen? Jetzt weiß ich auch wer du bist. Du bist dieses kleine weiße Gesicht. Du denkst, du bist hübsch. Kannst du essen? Willst du kämpfen? Lass uns kämpfen! Ich werde nicht mit dir reden, du Bastard! Du bist so ein Scheißkerl! So ein Angsthase...“

Arthur schlägt ihn mit der Faust über mehrere Tisch hinweg direkt an die Seite der Bar. Im ganzen Restaurant ist ein großes Durcheinander, sind Schreie und Geräusche Flüchtender. Ein Kellner kommt herbei gerannt, um zu beruhigen. Alle Leute von diesem Tisch sind hier. Alle bereiten sich vor, sich auf Arthur zu stürzen. Der Phnom Pen Frosch liegt summend auf dem Boden. Die Situation zu sehen ist nicht angenehm. Arthur wirft einen Stapel Banknoten auf den Esstisch, zieht Sybil und entkommt dem Restaurant. Die zurückgebliebenen Leute schreien und schreien immer noch. Scharfer Wind kommt ihnen entgegen. Sybil führt einen kalten Krieg, ihr Geist erholt sich von der Panik und Verwirrung. Erstaunt fragt sie:

„Was war das denn?“

„Pech!“ sagt Arthur wütend: „Einen Betrunkenen treffen! Wirklich! Weggehen und kein Steak essen. Wirklich.“

Sybil schweigt. Sie erinnert sich an das Aussehen des Gastes, erinnert sich an seine ununterbrochene Aufmerksamkeit. Arthur ist immer noch wütend. Auf dem ganzen Nachhauseweg bleibt sein Mund verschlossen, er sagt kein einziges Wort. Sie sieht ihn verstohlen an. Er fährt den Wagen gelangweilt, wütend, stirnrunzelnd, die Glut des schattigen Vogels in den Augen. Sie weiß, dass er nicht nur wütend auf diesen Säufer ist, er ist auch wütend auf sie, allein schon durch ihre grausamen Worte. Sein Schweigen wirkt sich auf sie aus, sie schließt auch den Mund und schweigt.

An der Tür ihrer Wohnung angekommen, sucht sie den Schlüssel und öffnet die Tür. Er lehnt sich gegen die Tür und sieht sie düster an. Sie öffnet die Tür. Plötzlich sagt sie:

„Ich weiß es! Dieser Mensch kannte bestimmt Amanda. Er hat mich für Amanda gehalten. Wir Schwestern ähneln uns sehr! Du hättest ihn nicht schlagen sollen. Du hättest nachfragen sollen! Er war vielleicht Amandas Freund.“

„Amanda hatte nicht solche Art von Freunden!“ sagt er selbstherrlich mit überwachendem Blick. Gereizt fragt er: „Müssen wir wieder über Amanda reden?“

„Ja!“ Sie wird auch wütend. Feuer blitzt in ihren Augen. Die Wangen sind rot vor Aufregung. „Sie ist meine große Schwester und deine Geliebte! Wenn du fürchtest über sie zu reden, kann es einen Grund geben sie zu übergehen.“

Er starrt sie eine Sekunden an, dann dreht er sich um und beginnt wegzugehen, hart und kalt und sagt dann: „Auf Wiedersehen!“

Als er zu Ende gesprochen hat, schaut er nicht zurück. Er rennt geradeswegs die Treppe hinunter. Sie lehnt sich an die Tür und fühlt nur, dass ihr Herz sich zusammenzieht. Sie möchte etwas sagen, ihn aufhalten, etwas retten, ihm hinterher jagen... aber sie macht nichts.

Sie sieht, wie sein Schatten an der Ecke der Treppe verschwindet. Sie eilt ins Zimmer und schließt die Tür mit einem Knall.

Ein verlassenes Zimmer begrüßt sie. Die Einsamkeit eines Hauses heißt sie willkommen. Sie geht langsam zum Schreibtisch, hält sich am Tisch fest und setzt sich dann schwach auf den Stuhl am Tisch.

Plötzlich sieht sie den Papierkarton, den er mitgebracht hat. Das ist wunderschön verpackt,
das halbgeöffnete Geschenk. Sie streckt langsam die Hand aus und zieht die Schachtel zu sich. Mechanisch und unbewusst öffnet sie den Kasten. Da sieht sie ein Paar Gänse aus Kristallglas, die in einem Nest aus Kristallglas schlafen. Die Muttergans liegt bequem im Nest und der Gänserich benutzt seinen Mund ihre Federn mit unendlicher Zärtlichkeit zu bürsten. Die
ganze Skulptur ist exquisit und transparent und leuchtet unter dem Licht. Sie sieht dieses Paar Wildgänse an, schaut sie suchend an und fühlt etwas Nasses auf ihren Wangen. Sie wischt mit der Hand über ihre Wangen und will das Einwickelpapier zusammenpacken. Da entdeckt sie, dass da noch eine Karte in dem Kasten ist. Sie nimmt die Karte, auf der ein kleines Gedicht steht:

„Frag die Wildgans, warum wanderst du? Frag die Wildgans, warum fliegst du? Frag die Wildgans, möchtest du bleiben? Frag die Wildgans, möchtest du ein Paar sein?

Ich will Zärtlichkeit verwenden,
um dir eine Palastmauer der Liebe zu bauen, aber ich habe Angst vor diesem kleinen Nest, weil es nicht dein Paradies sein kann!

Ich will an deiner Seite sein,
um dich zu beschützen vor Regen und Wind,
ich fürchte, du wirst wegschweben
und die Einsamkeit wird mich wie verrückt auslachen!“

Sie liest und liest und liest. Plötzlich legt sie ihren Kopf auf diese Karte und weint. Die Tränen weichen schnell die Wörter auf der Karte auf und lassen sie verschwimmen.

 

 

9. Episode

 

Sybil liegt auf dem Rücken im Bett. Die Hände unter dem Kopf starrt sie auf das dunkle Fenster. Ihre unsteten Gedanken wandern unberechenbar hin und her. Es ist tiefe, tiefe Nacht. Sie ist nicht müde.

Auf dem Nachttisch macht sie eine kleine Schreibtischlampe an. Der Lampenschirm hat die Farbe eines Sees. Das Licht ist sehr weich. Sie schaut unbeweglich aus dem Fenster. Das Fenster ist offen. Die Abendbrise weht durch den weißen Gaze-Fenstervorhang unterschiedlich heftig ins Zimmer herein. Sie starrt auf die weiße Gaze, diese leicht nach oben und nach unten fließenden Phantomwellen, Bewegungen wie weiße Wolken, wie Kleider...Kleider... Amanda hat ihr einmal ein Foto geschickt, auf dem sie so ein weißes Gaze-Kleid getragen hat. Wie ein großer Vogel der flattert. Amanda hatte unter das Foto ein paar Zeilen geschrieben

„Wenn der Mond abnimmt, sollte man Liebe haben. Botschaft vom Ostwind sich anzustrengen und auszuruhen Aber er kann nicht anders , er muss wehen!“

Nachricht vom Ostwind/Dong Feng sich Mühe zu geben sich auszuruhen? Was meint sie damit? Sie kennt ihr Schicksal schon eine Weile? Sie wusste bereits, dass sie zu schwach war? Was ist die Bedeutung? Ein Mädchen, das in Liebe versunken ist? Amanda, Amanda, geh, wenn du gehen willst, warum bleiben, wenn es so viele Zweifel gibt? Warum Gehen in dieser deutlichen Weise und doch so unklar? Amanda, Amanda, bist du aus eigenem Willen gegangen? Schläfst du friedlich und sicher? Empfindest du für diesen Mann ---- Arthur, eigentlich Hass? Hast du Vorwürfe? Oder immer noch Liebe bis in die Knochen? Amanda, Amanda --- murmelt es in ihrem Herzen, erlöse mich doch! Rette mich! Meine geliebte Schwester! Obwohl schwach und hell, obwohl das Meer und der Himmel weit weg sind, hast du mich immer noch von der anderen Seite des Meeres zurückgerufen. Und jetzt ziehst du mich in einen Traum. Willst du, dass ich diesem Traum folge?

Sie denkt an heute Abend, an Arthurs entschiedenes Weggehen. Einfach so gegangen. Einfach so wütend gegangen! Sie sollte sich nicht darum scheren. Aber warum schmerzt ihr Herz immer wieder so? Ist ihr Verstand schwindelig? Sybil, ach, Sybil, sie ruft ihren eigenen Namen. Du hast immer schon Angst gehabt, ein Kokon, unfertig zu sein. Du bist immer noch in einem Kokon.

Es ist windig. Die weiße Gaze fliegt im Wind. Sie blickt weiter auf die weiße Gaze. Sie stiert verständnislos auf die weiße Gaze... ihre Sicht verschwimmt, ihr Kopf ist schwindelig. Ihr Geist gerät immer mehr in das Reich eines illusorischen Traumzustandes. Dann scheint sie zu schlafen.

„Sybil!“ Sie hört eine Frau, eine sanfte Stimme, ein Licht, das hereinruft, fein ruft: „Sybil! Sybil...“

„Wer bist du?“ Sie ist verschwommen, kämpft sich vorwärts. Sie hat das Gefühl zu träumen und zu versuchen, von dem Traum aufzuwachen und sich gleichzeitig Mühe zu geben, nicht aufzuwachen.

„Sieh mich an!“ sagt die Stimme: „Sybil, du wirst mich nicht erkennen, weil du mir so ähnlich siehst!“

Sie sieht aufmerksam hin und dann sieht sie es! Amanda steht da. Sie trägt ein Kleid aus weißer Gaze, sie schwebt in der Luft, undeutlich, wie eine Illusion steht sie in der Fensteröffnung. Ihr Gesicht ist sehr blass, ihre schönen Augen schwarz, pechschwarz ihr langes Haar, das auch im Wind fliegt. Auf ihren Lippen ist ein trauriges, trostloses Lächeln Ihre Augen sind voller Aufmerksamkeit und Mitleid. Ja, das ist Amanda...

„Große Schwester!“ ruft sie und streckt die Hand aus und möchte sie herbeiziehen an ihren weißen Kleidern wie Wolken und Federn. Aber sie kann sie nicht anfassen. Angst irritiert sie. Sie ruft dringlich: „Große Schwester! Du bist es doch wirklich? Du bist gekommen?“

„Ich bin es!“ flüstert Amanda, immer noch in ihrer Nähe, immer noch fliegend so wahr wie Fantasie. „Sybil, ich bin gekommen. Ich muss dir etwas sagen. Geh weg von Arthur! Lauf von ihm weg! Lauf weit, weit von ihm weg!“

„Große Schwester!“ ruft sie geschockt: „Warum? Du liebst ihn, oder?“
„Liebe ist Zerstörung! Merke dir, Sybil, Liebe ist Zerstörung!“
„Erzähl es mir! Erzähle es mir ganz genau! Hat er dich zerstört? Wie hat er dich zerstört?“

„Er hat mich erwürgt!“ Amandas Stimme ist ein Flüstern, ihre Gestalt flattert weg, zum Fenster. „Er hat mir die Kehle zugeschnürt mit seiner Liebe!“ Sie wiederholt: „Sybil, Liebe ist kein Spiel, Liebe ist noch nie ein Spiel gewesen! Du musst dein Leben für Glück-Spiele einsetzen!“

„Große Schwester!“ schreit sie gierig, als sie den Körper sieht, der im Begriff ist zu verschwinden und schreit ängstlich:„Wie bist du gestorben? Große Schwester?“

„Ich habe die Wette verloren!“ Sie seufzt traurig. Ich habe verloren!“ „Was ist dieser Glück-Spiel-Verlust? Was meinst du damit?“

„Sybil, du hast auch mit dem Glückspielen begonnen! Pass auf, sei nicht wie ich, wette nicht, um dann zu verlieren. Geh nach London zurück!“

„Große Schwester, du willst dass ich weggehe?“

„Geh zurück nach England! Geh zurück nach London!“ Sie wiederholt, traurig und ermahnend: „Geh schnell! Noch hast du Zeit!“

„Große Schwester, ich bin wegen dir gekommen!“ schreit sie wütend.

„Also, dann gehe wegen mir wieder! Verfolge die Antwort nicht weiter. Lass Arthur los! Lass ihn los!“

„Du sagst mir, ich soll vor ihm weglaufen oder ihn gehen lassen?“

„Lauf von ihm weg! Und lass ihn los!“

„Wenn ich nicht entkommen kann und nicht loslassen kann?“

„Sy - - - bil - - -„ stöhnt sie und ihr Körper verschwindet schnell aus dem Fenster, sich zurückziehend singt sie:

„Alle Lichter und ein schräger Mond, die winterkalte Nacht kämpft aufrichtig und konzentriert mit wohlriechenden Schulden.

Die Träume lösen sich auf in kleine Gebilde, versammelt und verstreut euch, schnell, schnell. Hass treffen, Hass zerstreut, Hassliebe!“

„Große Schwester!“ ruft sie laut. Jetzt springt sie tatsächlich vom Bett hoch. Die ganze Person ist aufgewacht. Sie geht zum Fenster. Ein Fenster, in dem der Mond schräg steht und durch
das Wind weht. Wo ist Amanda? Wo ist die Frau in Weiß? Der Wind weht und die Gaze weht. Ein Zimmer in Stille, ein Zimmer mit Mondlicht. Sie merkt plötzlich, alles war nur ein Traum!

Wie konnte sie so einen Traum haben? Und warum? Nur weil man sagt: „Der Tag hat seine Gedanken und die Nacht hat ihre Träume“?

Sie streicht mit den Händen über ihr Haar, kalter Schweiß, weiche Glieder, sie fühlt nur, dass ihr Herzschlag sehr schnell geht. Sie hat keine Kraft mehr. Sie tastet sich langsam aus dem Bett. Langsam geht sie zu diesem geöffneten Fenster. Kalter Wind weht herein, sie hat schlecht gegessen und ist nur dünn gekleidet. Unwillkürlich schaudert es sie zweimal hintereinander. Vage erinnert sie sich an den Satz auf Amandas Foto: „Wenn der Mond abnimmt, sollte man Liebe haben. Botschaft vom Ostwind sich anzustrengen sich auszuruhen. Aber er kann nicht anders, er muss wehen.“ Plötzlich fühlt sie ihr Herz. Sie hebt den Kopf, das
Mondlicht ist wie Wasser. Sie steht am Fenster. Amandas Worte unter dem Bild und ihre Worte im Traum sind so lebendig. Sie vermisst ihren Blick. Auch Erinnerungen können reden, insbesondere ihr letztes trauriges Lied:

„Alle Lichter und ein schräger Mond, die winterkalte Nacht kämpft aufrichtig und konzentriert
mit wohlriechenden Schulden.

Die Träume lösen sich auf in kleine Bilder, versammelt und verstreut euch, schnell, schnell. Hass treffen, Hass zerstreut, Hassliebe!“

Sie erinnert sich an die Bedeutung dieses Liedes, sie fühlt sich immer elender, immer mehr in Trance, immer verwirrter, immer mehr in Ratlosigkeit und Schmerz. Ist das so? Wirklich so? War Amanda wirklich da? War ihre Seele zurückgekehrt? Hat sie an ihre verzweifelte kleine Schwester gedacht? Hat sie ihr einen Hinweis gegeben? Von ihm weglaufen? Ihn loslassen? Nach England zurückgehen! Nach London zurück! Was ist Liebe? Ein Risiko! Am Ende ist es „Hass treffen, den Hass zerstreuen, Hassliebe!“ Ihr Herzschlag geht schneller. Kurzatmigkeit! Ihre Brust ist wie ein Feuertopf, sie schwitzt überall. Ja, geh zurück! Geh zurück! Geh nach England zurück! Fliehe vor ihm! Lass ihn los! Verlass ihn! Da ist ein Schrei in ihrem Kopf, er schreit so laut, dass sie entsetzliche Kopfschmerzen hat. Sie eilt zum Weinschrank und schenkt sich ein großes Glas Wein ein.

Sie hält das Glas und trinkt ohne Unterbrechung, mehrere Schlucke nacheinander. Das Feuer in ihrer Brust brennt immer noch. Sie fühlt sich extrem heiß. Sie öffnet die vorderen und hinteren Fenster. Sie heißt den Wind im Haus willkommen. Das ist viel besser. Nachdem sie den Wein im Glas getrunken hat schüttet sie sich ein weiteres großes Glas ein. Der Alkohol regt sie an. Sie denkt immer wieder die Worte „Hass treffen, Hass zerstreuen, Hassliebe!“

Sie weiß wirklich nicht, wo sie ist, wo ihre Seele ist. Sie trinkt in großen Schlucken den Alkohol. Tränen laufen unbewusst aus den Augen. Ohne es zu bemerken, tropfen sie in das Glas.

Das Telefon klingelt plötzlich. In dieser Stille der Nacht ist das Geräusch unglaublich. Es schüttelt ihre Ohren und ihr Trommelfell. Sie geht zum Sofa, setzt sich und nimmt den Hörer ab.
„Hallo?“ Sie hält das Telefon in der einen und das Glas Wein in der anderen Hand. Wie in Trance fragt sie: „Wer sind Sie?“

„Sybil!“ Arthurs Stimme geht auf der Stelle über die Frage hinweg. „Habe ich dich aufgeweckt? Ich weiß mir nicht zu helfen, ich kann nicht schlafen, ich konnte nicht anders, ich musste dich anrufen. Sybil, hörst du mich?“

„Ich höre dich.“ Sie legt ihr Handgelenk auf die Armlehne des Sofas, drückt den Hörer auf das Ohr und trinkt auch einen Schluck Wein. Ihre Sprache ist verschwommen. „Ich höre, rede nur!“

Et scheint eine Weile zu zögern „Was machst du?“ fragt er.

„Ich höre am Telefon zu“, antwortet sie. Er schweigt einen Moment. „Sybil!“ Er spricht endlich wieder. „Ich rufe dich an, um mich ausdrücklich bei dir zu entschuldigen. Es tut mir Leid, Sybil. Heute Abend habe ich alles falsch gemacht. Ich habe mich schlecht benommen. Bitte verzeih mir!“

„Ich werde dir vergeben!“ Großzügig wiederholt sie: „Ich verzeihe dir auf jeden Fall! Wie auch immer, ich gehe nach England zurück.“

„Was?“ stößt er hervor. „Was hast du gesagt?“

„Ich gehe nach England zurück“, sagt sie deutlich und bitter. Ihre Kehle ist plötzlich abgewürgt. Tränen steigen ihr in die Augen. „Ich habe alles durcheinander gebracht. Deswegen gehe ich gleich morgen! Ich werde vor dir weglaufen, ich werde dich laufen lassen! Ich werde mich an nichts mehr festhalten und gehe nach England zurück. Woher kommen die wandernden Gänse, wohin gehen sie. Ich störe dich nicht mehr. Ich gehe nach England zurück! Morgen gehe ich gleich...“

„Sybil!“ schreit er: „Was hast du? Was redest du da? Gut! Ich komme jetzt sofort zu dir! Wir treffen uns persönlich. Warte auf mich! In zehn Minuten bin ich da!“

„Nein, nein! Ich will dich nicht sehen, sagt sie. Ein Durcheinander mit Tränen verschmiert. Sie kann ihre Stimme nicht kontrollieren. Der Kloß im Hals wird immer größer. Ihre Stimme wimmert und zittert:

„Ich will dich nicht sehen. Ich lasse dich los! Sonst ist es zu spät! Ich werde Angst vor der Wahrheit haben, die ich gefunden habe! Ich gehe, gleich morgen gehe ich...“

„Sybil!“ Seine Stimme ist voller Angst und Panik, er knurrt unhörbar: „Du musst nicht weinen. Ich komme sofort!“

„Ich habe überhaupt nicht geweint, du Narr!“ sagt sie. Aber ihr Gegenüber hat das Gespräch bereits verlassen. Sie hält den Hörer. Sie starrt ihn verständnislos. Sie starrt ein paar Minuten lang verständnislos, dann murmelt sie vor sich hin. Sie weiß nicht, was sie murmeln soll.

Sie steht auf, sie merkt, dass ihr Weinglas wieder leer ist. Sie geht zum Weinschrank, schenkt sich noch ein Glas ein, dreht sich um und geht wieder zum Fenster. Sie steht am Fenster, sieht aus dem Fenster auf den hellen Mond, der sie verwundert. Lange, lange hebt sie das Glas zum Mond und murmelt ihre Gedanken:

„Ein Krug Wein zwischen den Blumen, alleine sitze ich ohne ein Blind Date.
Ich toaste auf den hellen Mond, aus gegenüberliegenden Schatten werden drei Personen. Wenn der Mond nicht zu trinken versteht, die Jünger des Schattens sind mit mir. Vorübergehend vom Mond begleitet sind da Vergnügen und Frühling.
Ich verweile im Lied des Mondes. Mein Tanzschatten ist chaotisch...“

Die Türklingel unterbricht ihr Rezitieren. Sie hört zu. Runzelt die Stirn. Sie hat den folgenden Satz vergessen. Es klingelt noch dringlicher, Ding Dong, Ding Dong, Ding Dong, Ding Dong... zerbricht die Nacht.

Sie hält das Weinglas in der Hand, runzelt leicht die Stirn und geht zur Wohnungstür. Sie öffnet die Tür. Arthur kommt sofort hereingestürzt. Sie tritt zwei Schritte zurück. Fassungslos sagt sie: „Ich habe dir gesagt, du sollst nicht kommen!“

Er schließt die Tür und sieht sie an. Sein Gesicht ist blass. Angst und Schmerz sind klar in seine Augen geschrieben. Sie zieht sich zurück. Er streckt die Hand aus und greift nach ihr, weil sie fast über das Sofa gestolpert wäre. Sie steht fest, mit blinkenden Wimpern sieht sie ihn an:

„Was machst du?“

„Sybil!“ schreit er voller Schmerz auf, stirnrunzelnd, sich umschauend. „Warum ist deine Wohnung so kalt wie ein Eiskeller? Warum sind alle Fenster geöffnet? Was treibst du? Bist du betrunken?“

„Ich bin nicht betrunken. Mir ist nur sehr heiß!“

Er drängt sie zum Sofa und drückt sie ins Sofa hinein. Sie kann nicht anders als sich hinzusetzen. Sie lehnt sich zurück. Durch das Drücken sitzt sie, durch das Drücken sieht sie ihn an. Er nimmt ihr das Weinglas aus der Hand. Sie rührt sich nicht. Sie lässt ihn das Weinglas nehmen. Dann eilt er zu jedem Fenster und schließt alle Fenster. Als er das Fenster vor dem Bett im Schlafzimmer schließen will schreit sie ungeduldig entschieden:

„Schließ das nicht! Lass es offen!“
Er dreht den Kopf und sieht sie an.
„Es wird windig“ sagt er mit sanfter Stimme: „Du wirst dich erkälten!“ „Mach es nicht zu!“ schreit sie hartnäckig: „Amanda war gerade da!“ „Was hast du gesagt?“ fragt er geschockt.

„Amanda hat mich gerade besucht“, sie schaut zum Fenster und sagt verträumt:„Sie ist durch dieses Fenster hereingekommen. Sie hatte ein weißes Gaze-Gewand an. Sie will, dass ich zurück nach England gehe! Sie hat mir sehr viel erzählt. Sie hat auch für mich ein Lied gesungen. Darin gab es diese Worte „Hass treffen, Hass zerstreuen, Hassliebe!“

Sie hat gesungen und gesungen, genau von dem Fenster da, während sie sich entfernte. Das Fenster darfst du nicht schließen. Es kann sein, dass sie wiederkommt!“

Er starrt sie einige Sekunden an. Er kommt zu ihr, hält ihr Kinn mit einer Hand und dann, um die Hitze zu erfühlen, hält er die Hände, vorne und hinten am Nacken. Das heißt, er nimmt sie in seine Arme, drückt ihren Kopf auf seine Schulter. Seine Wangen sind gegen ihre Haare gedrückt. Seine Stimme ist heiser, Herzschmerz klingt in ihren Ohren:

„Du bist nicht betrunken, du bist krank!“ Du hast 30° Fieber! Kein Wunder, dass du abends nichts gegessen hast. Kein Wunder, dass du verwirrt sprichst! Jeden Tag wanderst du herum. Du bist ja nicht aus Eisen geschmiedet. Du bist krank!“

Er umarmt sie vom Sofa hoch. Schwach liegt sie da. Beide Wangen sind wie Feuer, beide Augen mit Tränen gefüllt.

„Ich bin nicht krank“, sagt sie völlig klar, „Amanda war gerade bei mir.“

Er bringt sie bis zur Bettkante und legt sie ins Bett und fragt:

„Hast du Aspirin im Haus?“

Sie ist wütend, springt aus dem Bett, Wütend sagt sie: „Ich bin nicht krank. Ich sage dir, Amanda war gerade hier.“

Er nimmt ihre beiden Hände. Er schließt ihre kleinen Hände fest in seine großen Hände. Er setzt sich auf die Bettkante. Er ist betrübt, traurig, unruhig und sieht sie geduldig an.

„Gut.“ Er beißt die Zähne zusammen. „Offensichtlich wirst du dich bei diesem Thema nie entspannen. Von Anfang an ging es immer wieder um Amanda. Sie lenkt immer alles im Dunkeln. Ich verstehe, ich komme nicht um sie herum. Dann lass uns über Amanda reden! Sie war heute Abend hier? Hm, du hast sie gesehen?“

„Ja!“ sagt sie sicher. „Sie hat ein weißes Gaze-Kleid getragen und hat ein trostloses Lied gesungen. Sie will, dass ich dich verlasse.“

„Von mir weggehen? Warum?“ fragt er geduldig mit sanfter Stimme.

„Ich weiß es nicht. Sag du es mir! Bist du gefährlich? Muss man Angst vor dir haben? Kann deine Liebe das Leben eines Menschen töten? Das erzähle mir mal!“

Er zittert sehr. Er starrt sie schweigend an und schweigt.

„Sag es mir!“ schreit sie laut: „Lüg mich nicht mehr an, rede nicht gerissen mit mir. Wie ist Amanda gestorben? Los, sag es! Erzähle es mir! Herzkrankheit! Hatte sie wirklich eine Herzkrankheit?“

Sein Gesicht ist aschfahl, Dunkles blitzt aus seinen Augen. Er schließt den Mund. Dunkel und voller Widersprüche ist das ganze Gesicht.

„Erzähl es mir!“ schreit sie noch lauter: „Und sei ehrlich! Was für einen Art von Herzinfarkt hat sie umgebracht? welcher Arzt hat die Diagnose gestellt? Wie konnte sie eine Herzkrankheit haben?“

Ihre Augen blicken scharf, ihr Ton ist aggressiv, damit er ihr nicht mehr entkommen kann. Er kämpft vergeblich. In unsichtbarem Elend und Hilflosigkeit kämpft er. Schließlich öffnet er leise den Mund. Seine Stimme ist seltsam und heiser:

„Wann hast du zu zweifeln begonnen?“

„Das geht dich nichts an!“ brüllt sie ihn weiter an: „Erzähl mir nur: wie ist sie gestorben? Wie ist sie gestorben? Sie hat niemals eine Herzkrankheit gehabt. Sie und ich sind gleich gesund! Sie kann nicht an einer Herzkrankheit gestorben sein. Willst du mich weiter täuschen? Wie ist sie gestorben?“

Er beobachtet sie, sein Gesicht ist noch mehr geschlagen, seine Augen noch tiefer. Er befeuchtet seine Lippen mit der Spitze seiner Zunge, dann scheint es seine ganze Kraft zu verbrauchen, wirft er die paar Wörter aus seinem Mund:

„Sie hat Selbstmord begangen.“

Wieder verliert sie ihre Geduld, lässt sich auf das Kissen fallen und hört ihre eigene Stimme plötzlich schwach werden, schwach und trostlos:

„Dann sind die Gerüchte wahr? Sie starb durch Selbstmord? Sie ....“ Sie hebt plötzlich wieder die Stimme: „Warum Selbstmord begehen?“

Er sagt nichts.
„Warum?“ fragt sie kreischend hartnäckig.

„Warum eigentlich?“ Seine Stimme ist wie ein Echo aus einem tiefen Tal. Es gibt Kälte, die nichts wärmt. Baumwolle nicht, Seide nicht, alles bleibt kalt und weit.

„Es gab eine kleine Misslichkeit zwischen uns. Ich wusste nicht, dass ihre Reaktion so heftig sein würde. Wir hatten einen Streit. Sie hat...nur...Schlaftabletten genommen. Als ich es bemerkt habe, war es schon zu spät.“

„Eine kleine Misslichkeit?“ fragt sie. Spott erscheint auf ihren Lippen.
„Was für eine kleine Misslichkeit? Zum Beispiel, dass du eine Freundin hattest?“ Er ist erneut schockiert.

„Nein!“ schreit er instinktiv in einem Widerstand wie ein wildes Tier, das erschossen werden soll und einen Todeskampf führt. „Nein, bitte frage nicht weiter! Sybil, bitte frage nicht weiter. Es ist vorbei. Lass es los!“

„Das geht nicht!“ Sie richtet sich auf, sitzt halb auf dem Bett, starrt ihn genau an. Fest und kraftvoll fragt sie: „Ich möchte, dass du es erzählst. Ihr hattet welche Misslichkeit? Gibt es eine Unstimmigkeit, wegen der man sich das Leben nimmt, um sie zu klären?“

Er dreht seinen Kopf weg, sieht sie nicht an. Seine Stimme ist stumm, gedämpft sagt er schnell: „Wegen eines Mädchens. Amanda dachte, dass ich zu mitfühlend bin.“

„Wo ist das Mädchen?“ fragt sie weiter.

„Eine Konkubine!“ sagt er laut. „eine Konkubine, eine für andere Menschen! Bist du jetzt zufrieden?“

„Zufrieden? Natürlich bin ich zufrieden!“ spottet sie. „Also das Mädchen möchte dich nicht mehr! Grundsätzlich warst du auch verliebt? Es stellt sich heraus, dass die Person, die sie unterstützt hat, sie immer unterstützen wird!“

Er beißt die Zähne aufeinander. Die Venen auf der Stirn arbeiten sichtbar. In seinen Augen sind rote Fäden. Er sieht sie nicht an. Sein Blick bleibt auf diese Lampe gerichtet. Unter dem Licht ist sein Gesicht wie Marmor, seine Lippen sind blutleer, seine Augen sind dunkel und neblig, wie ein schattiger dunkler Vogel. Ihre Hände nehmen seine großen Hände wahr. Sie legt ihren Arm sanft um seinen Hals. Sie seufzt leise und sagt gemächlich:

„Warum lügst du mich an? Warum täuschst du mich? Wenn du anfängst mir die Wahrheit zu sagen, erspart mir das im Dunkeln Kreise zu drehen. Sie zieht ihn sanft an ihre Seite. Leise und süß sagt sie:

„Komm!“ Er dreht seinen Kopf um sie hypnotisierend anzusehen. Ihre heißen Wangen sind rot wie reife Äpfel. Ihre Augen sind wässrig und leuchten. Die Lippen sind aufgrund der Hitze trocken, aber so rot wie frische Erdbeeren. In ihren Augen ist kein Hass, keine Schuld, keine Beschwerden. Das ist nur eine Art von Bedauern, eine wehmütige Stimmung. Er ist glücklich und traurig. Misstrauisch fragt er:

„Du hasst mich nicht?“

„Komm her!“ flüstert sie. Es ist eine sanfte und elende Ohnmacht auf den Lippen, die ihn zu sich zieht.

Er senkt den Kopf. Er ist so dankbar, dass sein Herz fast aufhört zu schlagen. Er berührt nur ihre heißen Lippen. Sie steht sofort auf, nimmt alle Kraft zusammen, schlägt ihn heftig gegen seine Wange. Mit zusammengebissenen Zähnen, voller Trauer, mit gebrochener Stimme sagt sie:

„Ist die betrogene ältere Schwester nicht genug, musst du auch noch die jüngere betrügen? Du denkst, ich bin wie Amanda und kann deinen Fängen nicht entkommen? Du spielst mit mir, genauso, wie du mit meiner großen Schwester gespielt hast. Was glaubst du eigentlich wer du bist? Der elegante, schöne Königssohn? Der Geliebte der Massen? Du bist Valentino? Du, du, du...du lässt mich leiden! Du...du so ein ...du bist so ein...“ Sie zittert am ganzen Körper. Ihre Hände sind eiskalt, keuchend und kämpfend sagt sie; „Du Teufel! So ein Übeltäter, du Bestie!“

Als sie zu Ende geschrien hat, hält sie es nicht mehr aus. Als ob ihre ganze Person in einen Topf heißem Öl und in einen bodenlosen Eiskeller gefallen wäre und unter diesem doppelten Druck von extremer Kälte und extremer Hitze, sinkt sie in sich zusammen und verliert das Bewusstsein.

Es scheint so lang, wie nach Hunderten von Jahren, nach Tausenden von Jahren;
es scheint, als ob der Vulkan nach dem Ausbruch wieder ruhig, der Eisberg zerbrochen ist und sich nun erholt. Sie bekommt plötzlich Fieber, dann Schüttelfrost und schließlich wacht sie auf.

Sie öffnet die Augen. Sie fühlt einen Eisbeutel auf ihrer Stirn, rundherum ist es still. Sie schlägt die Wimpern hoch, sieht nach innen. Ist es nachmittags oder schon Sonnenuntergang? Das Licht der untergehenden Sonne färbt das Fenster rot. Sie bewegt sich leicht. Sie fühlt, dass jemand sofort den Eisbeutel auf ihre Stirn drückt, damit es nicht nach unten rutscht. Sie dreht den Kopf. Da sieht sie Arthur wie er sich vorbeugt und sie ansieht. Sein Gesicht ist verstört. Bartstoppeln sprießen wie Abfall, er sieht viele Jahre älter aus. Seine Augen sind blutunterlaufen von Schlaflosigkeit. Seine Augen sind schwarz, sein Gesicht bleich und unsicher. Mit einer Art Schüchternheit, entschuldigend, zurückgezogen, mit unruhigem Blick beobachtet er sie ruhig, Auf seinen Lippen ein widerstrebendes und elendes Lächeln.

„Aufgewacht? Sybil, du hast den ganzen Tag geschlafen. Ich habe einen Arzt gerufen und gebeten, dich einmal anzusehen. Du hast dich nur erkältet, es ist von neuem aufgeflammt. Du hast eine fiebersenkende Injektion bekommen, aber du hast weiter geschwitzt. Ich habe nicht gewagt wegzugehen. Er beißt sich auf die Lippen:

„Ich weiß, du hasst mich. Ich weiß auch, dass du mich nicht sehen willst. Ich denke, zwischen uns ist alles aus. Ich will nicht für mich selbst sprechen, ich bitte dich einfach mir zu erlauben auf dich aufzupassen bis es dir besser geht. Danach kannst du tun, was du willst. Ich werde dich niemals belästigen. Wenn du nach England zurückkehren möchtest, kann ich dir gern ein Flugzeugticket kaufen und dich zum Flugzeug bringen. Ich bleibe hier, weil ich weiß, dass du schwach bist, deswegen mache ich mir Sorgen zu gehen.“ Er schlägt die Augen nieder. „Wenn du mich nicht mehr sehen willst, gehe ich sofort. Aber dann lass mich Julia Holt bitten zu kommen, um dich zu pflegen, ja? Julia Holt ist meine Sekretärin, du hast sie schon einmal gesehen.“

Sie drückt den Kopf ins Kopfkissen. Seine bescheidene Haltung und sein demütiger Ton lassen einen Schmerz in ihrem Herz entstehen. Will sie, dass er geht oder will sie, dass er noch bleibt? Sie hat berstende Kopfschmerzen und Tränen der Enttäuschung, die einfach heraus wollen. Sie kann ihr Wimmern nicht unterdrücken. Die Tränen rollen auf das Kissen und machen den Kissenbezug schnell nass. Sie sagt kein Wort, beginnt tonlos zu schluchzen.

„Sybil!“ Er ist unglücklich. Leise flüstert er: „Bitte, weine nicht. Bitte, weine nicht!“ Noch mehr Tränen fließen und fallen auf das Kissen. Er holt ein sauberes Taschentuch heraus und wischt ihr vorsichtig die Tränen aus den Augenwinkeln und rückt den Eisbeutel auf der Stirn wieder zurecht. Sie beißt die Zähne zusammen, damit von ihr kein Weinen mehr zu hören sein möge. Das Schluchzen ohne Stimme erschüttert seine inneren Organe. Er kniet plötzlich vor ihrem Bett und hält ihren zitternden Kopf fest.

„Was willst du das ich tue, sag es mir! Sybil! Bitte quäle dich nicht so. Wenn du weinen möchtest, dann weine ruhig. Wenn du mich schelten möchtest, dann schelte mich. Schimpfe und schelte mich, wie du magst!“ schreit er.

Ihre Augen weit aufgerissen, Tränen laufen aus ihren Augenwinkeln, so sieht sie ihn an. Durch den Nebel der Tränen hindurch sieht sie ihn direkt an. Die in Tränen getränkten Augen sind hell und groß. Sie öffnet leicht den Mund, diese zitternden Lippen können kein Geräusch machen. Es dauert lange bis sie ein Wort aus ihrer Traurigkeit herausgeholt hat.

„Arthur, du hast so viele Romane gelesen, kannst du dir nicht für mich eine andere Geschichte ausdenken? Eine, die mir nicht wehtut?“

Er wirft seinen Kopf in ihre Bettdecke und klagt: „Einmal habe ich schon alles zerbrochen:“ Sie streckt ihre Hand aus und legt sie auf sein zerzaustes dunkles Haar. Mit Mühe sagt sie:

„Bitte gib mir einen Grund, der mich dir vergeben lassen könnte!“

Sein Körper krampft sich zusammen und liegt da. Er rührt sich nicht. Nach einer langen Zeit hebt er den Kopf, sein blasses Gesicht wird vor Aufregung rot, seine Augen leuchten vor Hoffnung. Die Stimme zittert vor unerwarteter Hoffnung „Ich habe einen Grund“, sagt er vorsichtig: „aber ich weiß nicht, ob du den akzeptieren kannst?“

„Sag ihn!“ sie sieht ihn mit Tränen an, mit einem Ausdruck von Traurigkeit und Hilflosigkeit.

„Ich liebe dich!“ sagt er mit tiefer und starker Stimme. Sein Gesicht ist vollkommen errötet. Die Augen sind voll beschämter Begeisterung und Schmerz.

Sie sieht ihn aufmerksam an, so, als würde sie die Authentizität eines Kunstwerkes prüfen.

„Wie vielen Frauen hast du diese drei Worte schon einmal gesagt?“ fragt sie ruhig.

Er springt auf, dreht den Kopf weg und geht zum Fenster. Er steht am Fenster, zündet sich mit zitternden Händen eine Zigarette an und bläst eine dicke Rauchwolke aus dem Fenster. Sofort wird der Rauch von der Dämmerung vor dem Fenster verschluckt.

Drinnen ist es so ruhig. Zwei Menschen wollen eine Weile nicht mehr reden. Sybil hat die Augen geschlossen. Die Müdigkeit überfällt sie schnell und sie schläft wieder ein. Verschwommen flüstert jemand:

„Sybil, akzeptiere diese zweite Geschichte: wenigstens ist sie besser als die dritte!“ Sie ist zu müde, sie schnappt nichts davon auf, sie schläft.

 

 

10. Episode

 

Robert hat Flora eine ganze Zeitlang nicht mehr gesehen.

Heute früh, bevor er zum Unterricht geht, macht er einen Abstecher nach Lanhui New Village. Da ist eine neue Communitiy, die gut gebaut ist. Jedes Haus ist ein freistehender Bungalow. Die Häuser, die nicht groß sind, gehören zu der Art „Alles klein, aber alles dabei“. Jedes
Haus ist in seiner Form fast vollkommen gleich. Es gibt eine gemeinsame kleine Mauer und einen kleinen Innenhof. Floras Haus befindet sich im vorletzten Gebäude der ersten Reihe.

Als er vor dem Hof von Floras Familie steht, sieht Robert sofort Floras Großmutter, die eine Leine zwischen zwei Bäume gespannt hat und dort gerade Wäsche zum Trocknen aufhängt! Der Baum ist ein Banyan-Baum, der wie ein Pavillon, wie ein Regenschirm beschnitten ist. Die Leute, die das Haus gebaut haben, haben speziell bei diesem gepflanzten Baum nicht gedacht, dass der einmal als Kleiderbügel benutzt werden würde. Robert begrüßt Oma, auf die er immer schon neugierig war. Sie ist alt und rüstig, ein Beispiel der ewig nicht wechselnden Ausgabe vom Leben „der Gesellschaft der Alten“ sieht man hier, beispielsweise das Aufhängen von Wäsche.

Robert hat gleich Floras Protest gegen sie herausgehört:
„Oma, was glaubst du wie viele Familien es gibt, die ihre Wäsche an Bäumen trocknen? Willst du sie nicht lieber in den Hinterhof bringen?“

„Im Hinterhof bekommen sie nicht genug Sonne!“ Oma ist stur, jeder geht seinen eigenen Weg, ganz selbstverständlich sagt sie:

„ Kleidung tragen, die im Schatten getrocknet ist, macht krank!“

Das Problem ist also schnell gelöst: das Schicksal des Banyan-Baumes ist dazu bestimmt ein Kleiderbügel zu sein. Oma hat ihre Sturheit, sie weigert sich, neue Dinge zu benutzen. Waschmaschinen, Öfen, Elektroherd, Klimaanlage,...alles das hasst sie. Das einzig Akzeptable ist der Fernseher. Vorm Fernseher wird sie nie müde. Von taiwanesischen Dramen bis zu Varietés, vom Singen bis zur TV Neuheiten beobachtet sie alles mit Begeisterung. Aber ihr schlechtes Sehvermögen! Sie sieht alles verschwommen und Gläser scheinen sehr wenig zu helfen. Flora fragt oft:

„Oma, wenn du abends das Fernsehen anmachst, was siehst du dann?“ „Och, Rotes, Grünes, Das sieht immer gut aus!“
„Hörst du immer deutlich was sie singen?“

„Deutlich hören!“ Omas Augenbrauen heben sich, die Augen gehen auf, sie lacht und sagt: „Sie singen „Du machst, ich mache

Erde, Sand und Schlamm, viel Schlamm reiben, reiben, reiben, kneten...“

Sie machen Tonpuppen zum Spielen!“

Flora lacht und bückt sich, im Vertrauen sagt sie zu Robert: „Unsere Oma ist ein altes Baby!“
„Und du bist ein junges Baby!“ sagt er zu Flora.

Wirklich, Flora ist nicht nur ein Schatz zu Hause, sondern eine Königin. Früher saß Robert immer am Rande. Omas Haltung gegenüber Flora scheint mehr als Streicheln zu sein. Für Flora ist niemand groß oder klein und auch vor ihrer Oma hat sie keinen Respekt. Und Oma? Als ob das, was Flora sagt, das kaiserliche Edikt für sie wäre. Sie ist an sie gewöhnt, liebt sie, dient ihr, tut alles für sie. Oma kann nicht lesen, ist eine Naschkatze. Liebe erfordert ein kleines Temperament. Flora runzelt die Stirn und Oma schleicht gehorsam zurück in ihr Haus. Oma fehlt sehr ihre alte Freundin aus Tai Chung. Flora begleitet sie zurück und verschwindet für einige Tage sobald sie gegangen ist. Robert hat nicht verstanden, da ihr Geburtsort Tai Chung ist, warum nach Taipeh umziehen? Flora ist, was das betrifft, sehr verschwiegen und geheimnisvoll. Die Tage, an denen Oma nicht nach Tai Chung zurückkehrt, ist Flora sehr frei. Sie wird oft tagelang vermisst. Man weiß nicht, wohin sie verrückter Weise gegangen ist. Oma kümmert sich nicht um sie. Flora macht, was sie will. Robert hat immer das Gefühl, dass Flora zu selbstständig ist. Sie ist so frei, dass selbst einem Menschen wie ihm, der die Freiheit liebt, es nicht gern sieht. Zuerst waren ihm Floras Freiheit und ihr Aufenthaltsort gleichgültig. Er wusste, dass ihre gegenseitigen Freiheiten sich nicht in die Quere kommen konnten. Aber vor kurzem hat er entdeckt, dass Floras „Untertauchen“ und ihre „Freiheit“ ihn schwer getroffen haben. Es fällt ihm schwer, ihren Aufenthaltsorten gegenüber eine ruhige Zuschauerhaltung einzunehmen. Wann immer er an sie denkt, weiß er nicht in welcher Musik-Bar sie in Shun Xie gerade rumhängt und mit welchem Jungen sie gerade herumspringt. Das bringt sein Blut zum Kochen. Er weiß, dass dieses Gefühl allein ein gefährliches Zeichen ist, er kann aber nicht anders. Schritt für Schritt ist dies das vorherrschende Gefühl.

Seit fünf Tagen hat er Flora nicht gesehen. Er und Flora sind vor fünf Tagen auf den Guan Yin Berg gestiegen. Flora hatte oben auf dem Berg laut gesungen: „Ich werde jetzt eine Expedition machen“. Danach war sie weg. Er weiß nicht, wohin die Abreise ging. Das ist ihr alter Trick: auftauchen und verschwinden, kommen und gehen, unberechenbar wie eine Rauchwolke, so cool wie eine Wolke, so frei wie ein Vogel, ja ein Vogel. Er hat Arthur einmal sagen hören, Sybil vergleiche sich mit einer Wildgans. --- Nein, Flora ist keine Wildgans, sie ist eine kleine Wolke, ein gutes Lied, ein guter Klang, ein guter Tanz, guter Flieder, Güte fehlt.

Robert steht draußen vor dem Hof. Da ist eine kleine niedrige Mauer zur Dekoration. Er schaut erst hinein und legt dann ein Buch auf die Mauer. Der kleine Schneeball döst unter dem Banyan-Baum. Der hört seine Stimme, hat sofort seine Ohren gespitzt und schaut freudig zu ihm hin. Robert pfeift und er wird sofort aufgeregt und kommt gleich zu ihm. Oma ist von der Aufregung gestört, sie dreht sich um, schielt herüber. Ihre Sicht ist verschwommen und sie möchte sehen, wer diese Person ist.

„Oma!“ ruft er: „Ich bin’s, Robert!“ Er weiß, dass Oma so weit von ihm entfernt ist, dass sie ihn überhaupt nicht sehen kann.

„Was?“ Oma fragt undeutlich: „Was ist los?“
Wie es aussieht, ist Omas Hörverständnis wirklich nicht mehr zu retten. Er ruft laut: „Schläft Flora noch?“
„Kommen Sie, um das Zeitungsgeld zu holen?“ fragt Oma.

Robert schüttelt den Kopf und hebt ein Buch an der Wand auf. Er geht durch den Hof zum Eingang, greift von oben den Riegel, hebt ihn und geht hinein. Sofort beginnt der kleine Schneeball wie verrückt mit dem Schwanz zu wedeln, wie verrückt auf ihn zu zulaufen, wie verrückt zu bellen, ihn anzuspringen. Er beugt sich vor und hebt ihn hoch. Sofort beginnt der kleine Kerl seine Nase, sein Kinn und dann wieder seine Wangen abzulecken. Aber auch seine Ohren ---das ist ein richtiges Durcheinander. Er hält Schneeball, geht zur Oma, die schaut genauer hin und erkennt ihn erst jetzt eindeutig.

„Du bist Robert?“ sagt sie: „Hast du eben gesagt, dass du Robert bist? Warum hast du denn so getan, als ob du der Junge wärst, der das Zeitungsgeld einsammelt? Mir Angst machen! Ich kann nämlich nicht mehr richtig hören und sehen. Ihr seid mir schöne Kinder. Das ist nicht gut!“

„Wann habe ich so getan, als ob ich das Zeitungsgeld einsammeln wollte?“ Robert muss lachen. „Ich habe gefragt, ob Flora noch schläft.“

„Ja!“ Die alte Dame nickt hastig. „Es ist Wassermangel! Schon seit mehreren Tagen, erst heute kam etwas, weißt du und da habe ich alle Wäsche an einem Tag gewaschen!“

Er bringt seinen Mund ganz nah an Omas Ohr und brüllt: „Ich suche Flora!“ Oma fährt erschrocken zusammen. Einerseits lehnt sie sich zurück, andererseits klopft sie sich mit den Händen auf die Ohren und sagt: „Wenn du Flora suchst, dann suche Flora. Warum machst du Leuten solche Angst? Warum glaubst du, dass ich nicht hören kann? Von so lautem Schreien werden meine Ohren taub.“

„Ja, ja, es tut mir Leid! Es tut mir Leid!“ sagt Robert geduldig; „Wo ist Flora?“ „Flora?“ Oma ist schockiert: „Ist sie nicht mit dir zusammen?“

„Mit mir zusammen?“ Robert ist überrascht. „Wer sagt das? Ich habe sie seit einigen Tagen nicht mehr gesehen.“

„Wenn sie nicht mit dir zusammen ist, dann ist bei mit einem anderem Jungen“, sagt die Oma leichthin, unbekümmert und hängt ihre Wäsche weiter auf.

Robert wird gereizt.
„Oma!“ brüllt Robert; „Wie viele Tage ist Flora nicht mehr nach Hause gekommen?“

„Nach Hause?“ Oma zieht die Kleider an der Leine gerade und klammert sie fest.
„Sie kommt nicht gern nach Hause. Sie muss wohl wieder im Haus ihren Freunden in Taipeh sein.“

„Freunde in Taipeh? Welcher Freund, ein Mann oder eine Frau?“

„Verrottetes Aluminium? Diese Klammer ist neu, ich benutze welche aus Plastik, die sind nicht schlecht, die rosten auch nicht.“

„Oma!“ brüllt er.
„He?“ die alte Dame lächelt.

„Hörst du so schlecht oder hörst du alles falsch?“
Er fragt misstrauisch: „Du tust so, als ob du nichts verstehst, stimmt’s?“ „Was willst du eigentlich?“

„Alles klar!“ ärgerlich setzt er Kleinen Schneeball wieder auf die Erde, dreht sich um und geht. „Ich gehe! Wenn Flora zurückkommt kannst du ihr erzählen, dass ich mehrere Male hier war. Sag ihr, sie soll nicht so überlegen tun! Nicht derartig auf Leute herabschauen! Sag ihr, dass sie zu mir kommen soll!“

„Hey!“ Die alte Dame ist ihm nachgejagt und schreit: „Wovon redest du? Was hast du so Wichtiges zu sagen? Ich kann nicht richtig hören! Langsam, langsam, sachte, sachte, junger Mann. Warum bist du so wütend? Was hat dich so aufgeregt? Wütend, das Gesicht rot und der Hals dick. Sag mal, was hat Flora damit zu tun?“

Er steht still, sieht nach der alten Dame, ihr ganzes Gesicht nur Freundlichkeit, Stirn und Wangen voller Falten. Sie erinnern ihn an Jahresringe eines großen Baumes. Jede Spur ein Stück Zeit. Jede Falte ein misslicher Wechselfall des Lebens. Wie kann er auf eine alte Dame mit zornigen Augen wütend sein? Nur seil sie nicht deutlich versteht was er sagt? Er lacht und schüttelt sanft den Kopf in Richtung der alten Dame.

Er senkt den Kopf, reißt eine Seite aus seinem Notizblock und schreibt hastig ein paar Worte:

„Flora, ich würde dich gern sehen! Robert

Er gibt das Papier in die Hand der alten Dame und sagt laut in ihr Ohr: „Das ist für Flora!“

Jetzt hat die alte Frau begriffen, sie lächelt und nickt, faltet das Papier sorgfältig und steckt es in die Tasche der Schürze. Zu Robert sagt sie:

„Mach dir keine Sorgen, wenn sie zurückkommt gebe ich es ihr sofort!“

„Danke“, schreit Robert und eilt mit seinen Büchern zur Schule. Er kommt mal wieder zu spät, wenn es um die Geschichte der englischen Literatur geht. Auf jeden Fall will er „Den
Großen Bruder aus Taipeh“ nicht sehen! Er rennt los, unentschieden, aber hinter sich hört er die alte Dame sagen:

„So ein schlaues Kind, He Xin ist mit ihr zusammen. Flora ist ein schlaues Mädchen, wer weiß, welche Medizin sie im Kürbis verkauft? Pfui!“

Er ist erschrocken, hält im seinem Schreiten inne und überlegt zurückzugehen, um nach der Bedeutung dieses Satzes zu fragen. Aber als er noch einmal nachdenkt mit dieser alten Dame ein Wort in seiner Bedeutung deutlicher zu erfahren, weiß er nicht, wie viel Zeit und Energie er dazu brauchte. Da die Unterrichtszeit bereits abgelaufen ist, ist dieses Problem eins, über das er doch lange nachdenkt! Er lässt die Idee los, um noch schnell zur Schule zu gehen.

Den ganzen Tag, den er in der Schule ist, ist er verunsichert. Irgendwie ist er verunsichert von zwei Sätzen der alten Oma, die immer wieder in seinen Gedanken auftauchen. Er kann sie nicht fallen lassen und aus seinen Gedanken streichen. Er versteht kein Wort von den Erklärungen des Professors. Er muss immer wieder intensiv an Flora denken, ihre lebhafte und hemmungslose Freiheit, ist sie dieses freigeistige Mädchen? Könnte es sein, dass sie sein Leben schon auf den Kopf gestellt hat? Könnte es sein, dass er bereits nicht mehr von ihr loskommen kann? Nein! Er will immer noch nicht ernsthaft sein, er will sich immer noch nicht festlegen. Aber, oh meine Güte! Aber er hofft, dass sie es ernst meint, er hofft, dass er sie ganz für sich eingenommen hat! Willst du das? Nein. Er hat ein fast elendes Gefühl. Ihm ist klar, dass er diese Macht, eine fliegende Feldlerche zu fangen, überhaupt nicht hat.

Als er bei Abenddämmerung in sein „Schneckenhaus“ zurückkommt, ist er angenehm überrascht, Flora sitzt ausdruckslos auf den Stufen vor seiner Tür. Sie stützt ihr Kinn mit ihren Händen. Sie trägt eine rosa Hemdbluse und rosa Jeans. Die rosa Kleidung lässt sie frisch und angenehm aussehen, sauber und hell. Aber sie sitzt einfach so auf dem Boden und achtet kein bisschen auf den Staub und Schmutz auf dem Boden. Sie hat beide Hände um die Knie gelegt, hält ihr spitzes kleines Kinn, öffnet ihre großen runden Augen und sieht zu wie er kommt. Ihr kurzes flauschiges Haar leuchtet in der Sonne.

„Hallo!“ Er läuft zu ihr: „Wann bist du gekommen?“

„Vor einer Ewigkeit!“ Sagt sie, das Knie schüttelnd, so nebenbei.

Warum hast du mich nicht vorher angerufen? Jetzt hast du hier gesessen und gewartet.“

„Ich warte gern.“ Sie zieht das Knie hoch.

Sein Herz ist voller Freude über diese Worte. Er fühlt, wie seine ganze Person glücklich ist. Er nimmt den Schlüssel aus seiner Tasche, schließt die Tür auf und sagt:

„Ich besorge dir einen Schlüssel und dann kannst du in Zukunft, wenn ich nicht zu Hause bin, allein hineingehen!“

„Das will ich nicht!“ sagt sie klar und deutlich. „Warum nicht?“

„Falls du hier mit einem Mädchen rum machst und ich hier reinplatze, ist es für uns alle unangenehm.“

„Wieso sollte ich so etwas machen?“ Er streckt seinen Fuß vor und tritt die Tür auf.

„Ich habe gerade so etwas erlebt!“ sagt sie unaufgeregt, mit den Schultern zuckend. Sie kommt rein, setzt sich vertraut wie gewohnt auf den Boden, schürzt die Lippen und pfeift. Kleiner Schneeball kommt angelaufen. Man weiß nicht, woher. Er rollt vom Tor herein und stürzt ihr direkt in ihre Arme. Sie hebt Kleinen Schneeball hoch, küsst seine Nase, küsst sein Ohr und küsst seinen pelzigen Rücken.

Sein Herz sinkt. Er schlägt die Tür zu. Er wirft das Buch aufs Bett, zieht die Cola-Box unter dem Bett hervor und öffnet eine Cola.

„Du hast gerade so etwas erlebt?“ fragt er: „Du bist darauf gestoßen oder jemand anderer ist darauf gestoßen?“

„Beides.“

Er dreht den Kopf und starrt sie intensiv an.

„Lügnerin!“

Sie hat ihn beobachtet, lächelnd schüttelt sie den Kopf.

„Du täuschst dich“, sagt sie: „Kann es sein, das du bis heute nicht verstehst, dass ich ein schlechtes Benehmen habe?“

Er geht näher zu ihr, setzt sich ihr gegenüber und sieht ihr aufmerksam ins Gesicht. Sie senkt sofort den Kopf und versteckt ihre Wangen in „Kleinem Schneeballs“ Fell. Er streckt die Hand aus, schiebt ihr Kinn hoch, um ihr in die Augen sehen zu können.

„Hallo!“ sagt er „Was ist dir heute passiert? Du scheinst eine andere Person zu sein. Du hast abgenommen. Was hast du die letzten Tage gemacht?“

„Tanzen!“ „Tanzen?“

„Im Drachenhaus. Aarons Eltern sind in den Ferien ins Ausland gefahren. Er ist der König im Haus. Wir haben drei Tage und drei Nächte lang getanzt. Ho, du glaubst nicht, wie verrückt wir waren, wir haben Tag und Nacht getanzt. Sehr müde Leute haben sich auf den Teppich gelegt und geschlafen. Kaum wurden sie wach, haben sie weiter getanzt! Wir waren so verrückt, dass die Polizei kam, um uns zu verhaften. Oh.“ Sie reckt und streckt sich. „Aber für mich war es total anstrengend.“

„Du hast drei Tage und drei Nächte getanzt?“ murmelt er. „Genau.“
„Und drei Tage davor?“
Sie starrt ihn an.

„Bist du die Polizei? Willst du eine schlechte Person festnehmen? Machst du dir Notizen? Aus welchem Grund muss ich dir sagen, wo ich bin? Welches Recht hast du, mich zu befragen? Sag mal, ich erinnere mich nicht.“

Die Eisscholle in seinem Herzen dehnt sich aus.

„Also“, sagt er in nasalem Tonfall: „ich habe nicht das Recht, dich zu fragen und du hast keinen Grund mir zu antworten! Halt mich einfach für neugierig!“

Sie setzt Kleinen Schneeball auf die Erde. Sie neigt den Kopf und sieht ihn sehr aufmerksam an. In ihren Augen liegt eine Welle von Sorgen, Trauer, Naivität. Ein seltsamer Blick zu den Worten: „Verflixt! Mies! Wirklich blöd! Oma hat es gleich gesagt! Alles kaputt! Wirklich zu blöd! Wieder habe ich diesen Ärger! Jetzt wieder umziehen! Alles vorbei! So ein gigantischer Mist!“

„Wovon redest du?“ schreit er ihr ins Gesicht:„Was ist so ein gigantischer Mist? Wieso redest du eigentlich so aufgeregt daher?“

Sie kniet auf dem Boden und er sitzt erhöhter über ihr. Sie hält seine Schulter mit ihrer Hand, um ihn von Angesicht zu Angesicht anzusehen, Auge in Auge sieht sie ihn merkwürdig an. Ihr Gesicht ist voller Trauer und Sorge.

„Meinst du es ernst?“, sagt sie traurig: „Oma hat Recht! Als ich heute nach Hause kam, hat Oma mir gleich Vorwürfe gemacht. Sie hat gesagt, dass du es ernst meinst!“ Sie runzelt die Stirn, voller Angst und Verzweiflung schreit sie: „Du Narr!“ Wie kannst du es mit mir ernst meinen? Wie kannst du dich in mich verlieben? Wir haben gesagt, nur zum Spaß, stimmt’s? Wir haben gesagt, dass keiner es mit dem anderen ernst meint, stimmt doch? Wie kannst du unsere Vereinbarung brechen? Wie kannst du dein Wort nicht halten ... du ...“

„Halt den Mund!“ ruft er laut mit hochrotem Gesicht. Kaum hat er ihr Handgelenk gegriffen, schlägt er es wieder weg und schleudert sie regelrecht in die Ecke. Völlig durcheinander schreit er:

„Wer hat gesagt, dass ich es ernst meine? Wer hat gesagt, dass ich in dich verliebt bin? Du träumst wohl! Deine Oma ist blind und taub, die sieht Geister. Mach dir keine Sorgen, ohne dich werde ich nicht sterben! Du kannst ruhig mit anderen tanzen, geh wohin du willst und sei chic! Noch nie hat mich ein Mädchen eingefangen! .... Du...Du... wirst mich auch nicht fangen.“

Er hat plötzlich aufgehört und starrt sie an. Er schnappt nach Atem, sein Gesicht verfärbt sich von rot zu weiß, sein Brustkorb bebt, seine Nasenflügel flattern. Er starrt sie an, intensiv starrt er sie an. Ihre halb entsetzten, halb traurigen Augen werden vor seinen Augen größer ... größer ... größer. Es scheint, als wenn das ganze Zimmer mit diesen Augen ausgefüllt ist. Er schließt sofort seine Augen, beißt sich mit den Zähnen auf die Lippen, bedeckt sein Gesicht mit seinen Händen, seine Finger stecken in den dichten Haaren. Eine lange Zeit sitzt er so und rührt sich nicht. Bis Kleiner Schneeball neugierig zu ihm geht und mit seiner Pfote seinen Fuß streichelt, auf seinen Schoß klettert und seine coole kleine Nase benutzt um an seinem Arm zu schnuppern.

Er nimmt seine Hand runter und schaut Flora direkt an. Sie kauert immer noch in der Zimmerecke und sieht ihn mit weit aufgerissenen Augen an, ohne jedes Anzeichen von Entschlossenheit in ihrem Gesicht, wie vorher, auch nicht die Lebendigkeit wie früher ... sie sieht plötzlich so verängstigt aus, so hilflos, so schüchtern ... so in Panik, fast erbärmlich.

„Ich habe verloren!“ murmelt er. „Ich gebe auf. Flora, Oma hat Recht. Ich kann mich nicht vor ihr verstecken, ich kann mich nicht vor dir verstecken. Ich kann mich nicht länger selbst belügen. Ja, Flora, ich ...“

„Sprich es nicht aus!“ schreit sie und hält sich mit beiden Händen die Ohren zu. „Ich will es nicht hören! Ich will es nicht hören!“

„Du musst zuhören! Er wird plötzlich wütend. Er springt auf, zieht ihr die Hände von den Ohren, hält ihre Hände fest, starrt ihr in die Augen. Unzusammenhängend zuerst und dann in einem Atemzug ruft er aus: „Ja, ich meine es ernst! Ich habe mich in dich verliebt! Ich erlaube dir nicht drei Tage und drei Nächte mit Leuten zu tanzen! Du machst mich verrückt, ich werde verrückt! Ich habe mir noch niemals so viel aus einem Mädchen gemacht. Du bist hochmütig! Du hast gewonnen, du hast mich erobert, es hat mich erwischt! Heutzutage – Jetzt – Und nun kann ich nichts machen. Ich kann keine Bücher lesen, ich kann mich nur nach dir sehnen. Du fehlst mir, du fehlst mir, du fehlst mir...“ Mehr als ein Dutzend Male wiederholt er „Du fehlst mir“ lauter und lauter, immer aufgeregter. Je länger er es sagt, desto heiserer wird seine Stimme ... Da öffnet sie plötzlich ihre Arme und umarmt fest seinen Kopf damit.

„Robert!“ murmelt sie und streicht über seine Haare. „Du irrst dich! Du hast nicht herausgefunden, was ich für ein Mädchen bin ...“

„Ich habe es herausgefunden. Du bist das süßeste Mädchen der Welt!“ sagt er eigensinnig und kindisch. „Mir ist völlig egal, was andere Leute sagen!“

„Ich wurde von drei Schulen verwiesen“, sagt sie.
Er schweigt für einen Moment.
„Diese Schulen waren nicht gut, sie konnten deine Stärken nicht schätzen.“ „Ich habe noch nicht mal Abitur gemacht.“
„Das ist mir egal.“
„Ich habe Drogen genommen.“
Er ist überrascht und hält ihr Handgelenk fest.
„Das ist nicht gut für deine Gesundheit. Ich helfe dir aufzuhören!“
„Ich hatte eine Katastrophe in Tai Chung, die uns zum Umzug gezwungen hat.“ „Was war das?“

„Da war ein Junge, der es ernst mit mir meinte. Ich habe auch vorher eine Verabredung mit ihm getroffen, dass wir es beide nicht ernst miteinander meinen, er meinte es aber
ernst ...“ Sie überlegt einen Moment, „Ich habe dir vorhin eine Geschichte erzählt, ich habe dir gesagt, dass eine Klassenkameradin für einen Jungen Selbstmord begangen hat. Das war falsch. Tatsächlich hat der Junge meinetwegen Selbstmord gemacht.“

Sein Herz sinkt auf den Grund der Erde. „Ist der Junge gestorben?“
„Er ist gestorben.“

In seinem Herzen tobt ein kalter Krieg. Nach einer langen Zeit erst schafft er widerstrebend zu sagen:

„Das ist schlecht für ihn. Selbstmord ist eine feige Tat. Man kann keinen schwachen Mensch lieben. Er benutzte den Tod um dich zu bedrohen. Das hat er falsch gemacht.“

Sie stöhnt leise.

„Er hat mich nicht bedroht. Er war so traurig, dass er sterben wollte. Das ist traurig für mich, verstehst du das?“

„Das verstehe ich nicht.“

„Er hat mich mit zwei anderen Jungen im Bett erwischt.“

„Was?“

„Mich und zwei andere Jungen. Weißt du, dass ich nicht in die Strafanstalt zurückgegangen bin? Ich war da zwei Jahre drin!“

Er beißt die Zähne zusammen, holt aus der tiefsten Tiefe Luft und glaubt nichts von dem, was sie gesagt hat.

„Oder“, sagt er, „hast du vielleicht ein uneheliches Kind zur Welt gebracht? Mit Drogen gedealt? Gemordet? Dich gehen lassen?“

Sie springt hoch und sieht ihn verzweifelt an.

„Du glaubst nicht, was ich sage, stimmt’s? Du glaubst nicht, dass ich ein schlechtes Mädchen bin? Du glaubst nicht, dass ich ein Teufel bin! Du glaubst nicht, dass ich dich zerstören werde? Du glaubst nicht, dass ich dir Unglück bringen werde?“

„Warum hast du solche Angst vor dir selbst? Warum hast du solche Angst vor Lieben und Geliebt-zu-werden? Warum fürchtest du, dass du ein Teufel bist?“ fragt er aggressiv. „ Okay, nehmen wir an, du bist ein Teufel, dann habe ich mich in diesen Teufel verliebt. Du wirst sagen, meine Tausende von Zehntausenden Handlungen eines Teufels sind nutzlos.

Teufel?“ Er überlegt. „Du bist ein Teufels-Engel, hat mein Bruder gesagt.“

„Dein Bruder?“ Sie ist erschrocken. „Wie kann er wissen, dass ich ein Teufel oder Engel bin? Ich kenne deinen Bruder nicht einmal.“

„Du wirst ihn gleich kennen lernen!“ „Warum?“

„Ich werde dich zu ihm bringen, damit du ihn kennen lernst!“ Er nimmt ihren Arm und sieht ihr aufrichtig in die Augen. „Flora, bitte lauf nicht vor mir weg!“

„Dummkopf!“ brüllt sie. „ Lauf du bitte vor mir weg! Verstehst du? Ich will dir kein Unglück bringen! Ich will dich nicht verletzen! Ich möchte nicht, dass du leidest! Ich will dich nicht umbringen! Wenn du nur ein bisschen schlau bist, steck mich weg! Verstehst du? Steck mich ganz weit weg! Bevor meine Teufelskrallen freigelegt werden. Lauf weg!“

„Du kannst mich nicht verscheuchen!“ Er ergreift ihre Hand und liebkost ihre langen weißen Finger. „Du hast zwei wunderschöne kleine Hände und diese Hände sind nicht von einem Teufel. Ich sehe keine Teufelskrallen. Es gibt nur eine Frau auf der Welt, die ein Teufel ist und diese Frau hat meinen großen Bruder in einem Meer des Elends versinken lassen. So viele Jahre kann man nicht zurückdrehen. Deine ... Dein Zurückdrehen ist nicht tief genug!“

Sie runzelt leicht die Stirn und sieht ihn verwirrt an. Ihre Neugier ist geweckt. Sie hat vergessen, ob sie der Teufel ist oder nicht. Sie stöhnt:

„Du erwähnst ganz oft deinen großen Bruder, was für eine Geschichte hat er denn erlebt?“ „Willst du sie hören?“
„Ja.“ Ihre Augen funkeln voll gespannter Neugierde.
„Ich erzähle und du hörst zu, aber es gibt eine Bedingung.“

„Welche Bedingung?“

„Du rennst nicht vor mir weg! Du gehst nie ohne Auf Wiedersehen zu sagen! Und verschwindest niemals drei Tage und drei Nächte zum Tanzen ...“

Sie springt hoch und geht mit Kleinem Schneeball im Arm zur Tür. „Nein!“ sagt sie. „Versteck deine Kindergeschichte. Ich höre nicht zu!“

Sie fängt wieder an ihre wahre Form einzunehmen. Sie legt ihre Lippen an das Ohr von Kleinem Schneeball und flüstert: „Kleiner Schneeball, Kleiner Schneeball, wir gehen. Lass diese Neurose an uns vorbeigehen ...!“

Er bleibt auf einmal vor ihr stehen. Ihre wieder hergestellte Lebendigkeit und Unschuld lassen sein Herz höher schlagen, begeistern ihn, trösten ihn, machen aus seinem Herz ein Segel voller Wind, erfüllen ihn mit Freude.

„Ich lade dich zum Meeresfrüchte essen ein!“ sagt er. Er lädt die Leute immer ein „Meeresfrüchte“ zu essen.

Sie sieht ihn ein paar Sekunden lang an. Plötzlich leuchten ihre Augen.

„Hallo!“ Aufgeregt sagt sie: „Lass uns ein Fischerboot finden, das uns aufs Meer bringt! Lass uns etwas zu essen kaufen. Einerseits beobachten wir die Fischer und gleichzeitig essen wir. Beim Erzählen der Geschichte sehen wir das Meer im hellen Mondlicht.!“

Er ist sofort begeistert von dem, was sie sagt und von dem Bild, das sie gleichzeitig entworfen hat und er ist von ihrer Aufregung und ihrem Wahnsinn angesteckt.

„Ich fürchte nur, das Fischerboot wird nicht ...“

„Ich kenne einen Fischer, der wird bereit sein! Lass uns schnell gehen! Abends fahren sie aufs Meer und morgens kommen sie zurück. Wenn wir zu spät gehen, schaffen wir es nicht!“ Sie nimmt seine Hand und schreit fröhlich: „Los!“

Er sieht sie an, so ist sie: plötzlich wie Sonnenschein, plötzlich wie starker Wind und plötzlich wie heftiger Regen! Wie wahnsinnig sie ist, wie merkwürdig sie ist! Aber er, sein Herz hüpft begeistert von dieser Verrücktheit und Merkwürdigkeit! Selbst ihre „falschen und wahren Taten“ haben keinen Platz in seinem Herzen. Den Kopf schütteln und sich frei machen von allen Schatten und sie ziehen davon. So rennen sie zum Strand.

 

 

11. Episode

 

Fischerboote gleiten übers Meer, ein Schiff nach dem anderen, unregelmäßig ins Meer ausstrahlend. Lauter kleine Lichter übersäen das Meer, glühen in der Nacht. Wie unzählige Glühwürmchen blinken sie. Das Geräusch des Motors, das monotone „bobobobo“ Geräusch zerteilt die Stille der Nacht.

Robert und Flora sitzen am Bug des Schiffes und baden in der Meeresbrise unter den Sternen. Sie stellen eine Menge Essen um sich herum. Marinierte Eier, marinierte Hühnerfüße, getrockneten Tofu, Brot, Milch, Sandwiches, Kokos-Kekse, Sprudel ... es ist eine große Kiste. Aber Flora isst nichts, sie nagt nur an den Hühnerfüßchen herum. Hat sie eins fertig abgenagt, nimmt sie das nächste. Sie nagt so gründlich, dass jeder Teil der Pfoten vor dem Abnagen von ihr zerquetscht wird. Ihre Art zu Essen sieht scheußlich aus. Immer wenn das Öl von ihren Händen tropft, leckt sie sich die Finger ab, ähnlich wie Kleiner Schneeball. Er liegt gehorsam auf ihren Füßen und isst leise die Knochen, die sie ihm zuwirft.

Robert beobachtet Flora. Er ist überrascht und entzückt von ihrem lustvollen Essen. Er entdeckt immer mehr an ihr mit neuer Freude. Zum Beispiel konnte sie dieses Schiff kontaktieren. Der alte Fischer hat sie fast ohne zu zögern akzeptiert. Er denkt, dass der Fischer mit Flora sehr vertraut ist. Er denkt auch, dass Flora keineswegs das erste Mal mit einem Fischerboot zur See fährt. Dann denkt er, wer sind diese Jungen, die sie zuvor zur See begleitet haben? Dieser Gedanke verletzt ihn. Und in diesem schwachen Schmerz hallen die absurden Worte nach, die sie abends gesagt hat: ein Junge hat ihretwegen Selbstmord begangen; sie war mit zwei Leuten im Bett; sie nimmt Rauschmittel; sie wurde von drei Schulen verwiesen; sie hat zwei Jahre in einer Besserungsanstalt gelebt ... Er starrt sie an, ihr kleines weißes Gesicht sieht im Mondschein so rein aus, so sauber, so klar, so kindlich. Tu das nicht! 99,9% von allem, was sie sagte, war gelogen. Warum? Testet sie ihn? Will sie ihn verscheuchen? Hat sie Angst vor der Liebe? Wurde sie verletzt? Läuft sie vor der Liebe weg? Ist sie verletzt worden? Oder hat sie einen anderen Menschen verletzt?

Sie dreht den Kopf und sieht ihn an.

„Warum starrst du mich an?“ fragt sie. „Ich will, dass du das Meer ansiehst und nicht mich anschaust!“

„Du siehst besser aus als das Meer“, sagt er.

Sie sieht ihn an, streckt die Hand aus, klopft auf das Deck neben sich und sagt mit sanfter Stimme:

„Setz dich ein bisschen zu mir!“

Er ist geschmeichelt. Er geht um das aufgerollte Seil, die Fischernetze, die Haken und einige ihm unbekannte Objekte herum und setzt sich neben sie. Der Platz ist sehr klein, sie rücken dicht aneinander. Er kann ihre Haare riechen und auf ihrem Körper verflüchtigt sich eine Art Weiblichkeit aus ihren Kleidern. Ein süßer und klarer, honigartiger Zuckerduft. Dieser Duft unterdrückt den Fisch – und Benzingeruch auf dem Boot. Er ist wie in Trance.

„Schau den Himmel an! Schau auf das Meer!“ sagt sie. In ihrer Stimme liegt eine gewisse Feierlichkeit, eine gewisse Art von Enthusiasmus. Ihr Gesicht strahlt, ihre Augen leuchten wie bei einem religiösen Fanatiker, der das Gesicht Gottes verehrt.

„Siehst du den Himmel? Es ist so dunkel, zu dunkel, um das Ende zu sehen. So schwarz wie ein großer schwarzer Baldachin. Aber die Sterne haben ihn durchdrungen. Diese Sterne, sie flackern, sie scheinen zu reden, scheinen im Licht zu sein, scheinen Teil eines dunklen Geheimnisses zu sein, wie um etwas zu finden. Ich sitze hier oft, diesen Sternen gegenüber und frage mich nur: „Was sucht ihr? Was sucht ihr? Und dann frage ich mich selbst: Flora, was suchst du?“

Ihr Ton, ihr Gesichtsausdruck überrascht und berührt ihn. Er streckt die Hand aus und kann nicht anders als ihr Handgelenk zu halten. Ihre winzigen Arme sind dünn und kalt. Er zieht den Mantel aus und legt ihn ihr um die Schulter. Sie bewegt sich nicht. Sie sieht auf das Meerwasser wie ein böser Geist. Ihr kurzes Haar fliegt in der Meeresbrise, flattert auf Stirn und Wangen.

Er folgt ihren Augen und schaut zum Meer. Das Meer ist weit und grenzenlos und fast still in dieser dunklen Nacht. Man kann die Wellen nicht sehen noch die Schwankungen. Das Mondlicht spiegelt sich sogar auf der Wasseroberfläche. Es gibt unzählige kreuzförmige Lichtmuster. Das Meer ist wie ein großes Stück poliertes Metall, glatt und genau. Aber wo gibt es so ein weiches Metall. Es ist weich wie Samt, weich in der Meeresbrise mit schwer zu entdeckenden Falten.

Sie dreht sich zu ihm und sieht, wie sein Haar über seine Wangen streichelt.

„Ist es nicht schön?“ fragt sie und wirft den letzten Hühnerknochen Kleinem Schneeball zu. Sie wischt ihre Hände mit Make-up Papier ab, macht die Lippen damit sauber, legt beide Hände um die Knie und flüstert: „Manchmal denke ich daran im Meer nach Sternen zu fischen. Manchmal denke ich, diese Blitze auf dem Meer sind Sterne, die zerschmettert und ins Meer gefallen sind. Der Ozean ist verträglich und vollendet, er schluckt alles. Ihm ist egal, ob es schön und gut oder hässlich und schlecht ist. Er frisst alles. Aber an der Oberfläche ist er immer schön. Oh, Robert, findest du das Meer nicht ganz schön beängstigend? Wenn es wütend ist, zerquetscht es das Leben und zerreißt alle Segel und wenn es ruhig ist, ist es, als sei nichts passiert. So sanft und elegant liegt es da mit verführerischem Charme. Oh, es ist unendlich vielseitig. Oh, es sind Tausende von Veränderungen. Es ist mysteriös und faszinierend. Robert!“

Sie legt ihr Kinn auf die Knie und schaut einen Moment auf das Meer „Ich liebe das Meer, seine Schönheit, aber auch seine Rauheit.“

Er weiß noch nicht warum, aber er sieht sie zweifelnd an.

„Ich verstehe“, sagt er.

„Was verstehst du?“

„Du bist wie ein Ozean, manchmal ruhig und ohne Wellen, manchmal tobend, manchmal schön und sanft, manchmal grausam und eigensinnig.“

Ihre Augen blitzen wie Sterne, die ins Meer fallen. „Bin ich grausam?“ fragt sie.
„Ziemlich grausam.“
„Zum Beispiel!“

„Du hast heute Nacht viele Dinge gesagt. Glaubst du diese Dinge?“ Er sieht sie unverwandt an.

„Das ist wahr! Du willst der Wahrheit nicht ins Auge sehen.“

„Will ich der Wahrheit nichts ins Auge sehen oder willst du der Wahrheit nicht ins Auge sehen?“

„In meiner Welt gibt es keine Wahrheit.“ sagt sie traurig: „Ich lebe in einer heuchlerischen Welt.“

„Ha! Guck mal!“ sagt er triumphierend: „Du widersprichst mir immer wieder, was versuchst du zu vermeiden? Du bist traurig und fröhlich, du bist unberechenbar ...“

„Ich bin verrückt!“ sagt sie.

Er streckt seine Hand aus, um ihr das kurze Haar vom Ohr zu streichen und gleitet mit dem Finger über ihre Wange.

„Du bist verrückt“, sagt er, „Du bist eine süße und schöne kleine Verrückte, ein kleines verrücktes Kind! Flora“, er holt tief Luft und dann platzt es aus ihm heraus: „Gott ist mein Zeuge. Ich werde von dieser kleinen Verrückten noch ein kranker Mann.“

Sie dreht schnell den Kopf, um aufs Meer zu schauen. Ihr Körper zittert unmerklich. Plötzlich wechselt sie das Thema: „Du hast gesagt, du erzählst mir die Geschichte deines großen Bruders.“

„Mach die Stimmung nicht kaputt“, sagt er begeistert, „Ich habe keine Lust jetzt über meinen großen Bruder zu sprechen. Das ist eine sehr grausame Geschichte!“

„Du musst reden, weil ich sie hören will. Ich habe größtes Interesse an grausamen Geschichten.“

Sie hat ihre Augen niedergeschlagen und blickt auf die Schiffsseite hinunter. Das Meer wird vom Schiff mit einer weißen Schaumwolke weggespült. Ihre Finger berühren einen Seilkreis. Sie hebt das dicke, feuchte Seil auf und dreht es. „Sag es!“

„Dann musst du zuhören!“

„Nicht unbedingt“, sie zuckt mit den Schultern. “Die Welt deines Bruders ist sehr weit entfernt von meiner Welt. Wenn du nicht erzählen möchtest, dann erzähl nicht! Oder, du hast diese Geschichte noch nicht vollständig zusammengestellt. Es ist egal, auch wenn du sie erfunden hast.“

„Du denkst, ich bin genau wie du und ich würde die Geschichte erfinden?“ Er ist ein bisschen wütend. „Ich habe dir gesagt, mein Bruder ist vernarrt in Verliebtheit, glaubst du mir oder nicht?“

„Glaube ich nicht.“ Sagt sie einfach. „Es gibt auf der ganzen Welt keinen Mann, der in Verliebtheit vernarrt ist! Was Wörter wie „Narr der Verliebtheit“ angeht, das wird in Romanen benutzt. Liebe im wirklichen Leben ist oft ein grausames Spiel!“

„Du gibst zumindest zu, dass es grausam ist mit Liebe zu spielen?“

„Ich gebe das zu, weil ich dieses Spiel gespielt und einen Jungen getötet habe!“

Er kämpft innerlich.

„Gibt es diesen Jungen wirklich?“ fragt er.

„Sag es nicht! Sag es nicht!“ Sie schreit schnell: „Ich will deine Geschichte hören. Ich will nicht meine Geschichte erzählen.“

„Warte, bis ich die Geschichte zu Ende erzählt habe, meinst du es ernst, echt, erzählst du mir deine Geschichte?“

Sie zögert eine Weile. „Gut.“ Sagt sie einfach. „Nicht lügen?“
„Keine Lügen.“

Ihr Versprechen lässt sein Herz höher schlagen, richtet ihn auf, macht ihn glücklich. Denn in in diesen einfachen zwei Wörtern ist zumindest eins zugegeben worden, dass ihre Geschichte „lügt“. Offensichtlich hat sie selbst nicht das Geheimnis entdeckt, das sie verraten hat.

Sie ist versunken in eine intensive Neugier, sieht fröhlich zu Robert und fragt überrascht: „Ist deine grausame Geschichte interessant?“

„Nein, nein!“ Er lügt aus Eigeninteresse und organisiert seine Gedanken. Er möchte wirklich Arthurs Geschichte erzählen, aber sie macht ihn traurig. Sein Gesicht wird ernst, sein Blick trostlos.

„Es ist eine sehr tragische Geschichte.“

„Oh?“ Sie setzt sich aufrecht. Hände um die Knie geschlungen sieht sie ihn ernst an. Ein Blick voller Ernsthaftigkeit und Sorgfalt.

„Erzähl!“

„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“ Er setzt sich ihr gegenüber, an den Rettungsring gelehnt. Das Boot bewegt sich mit den Wellen. Ihm ist plötzlich schwindlig und trocken im Hals. Er öffnet eine Flasche Cola, er trinkt davon und gleichzeitig sieht er in die Ferne über das Meer. Dort auf das dunkle und weite Meer verstreut zwischen den Fischerbooten. Die Fischerfackeln verschönern das Meer wie eine Illusion. Irgendwie, diese Fischerfackeln, dieser Ozean, dieser Himmel, diese Nacht ... alles mit melancholischer Atmosphäre. Und er ist schnell von dieser Atmosphäre umfangen.

„Mein älterer Bruder ist zehn Jahre älter als ich ...“ beginnt er zu erzählen: „Mit anderen Worten, ich war in der dritten Klasse, als mein Bruder im ersten Jahr an der Universität war. Also habe ich die Geschichte über meinen Bruder nicht miterlebt, geschweige denn, daran teilgenommen. Einige fragmentarische Informationen habe ich gehört. Auch wenn dich Kleinigkeiten wissen lassen können, was für rücksichtlose Frauen es auf der Welt gibt und was für verliebte Männer!“

Sie scheint zu zittern. Sie bürstet ihr von der Meeresbrise zerzauste Haar mit den Händen zurück und flüstert: „Gut, die Eröffnung ist nicht schlecht, nun näher zur Sache!“

„Die Geschichte beginnt, während mein Bruder im vierten Universitätsjahr ist. Zu der Zeit lebte unsere ganze Familie in Tainan, nur mein Bruder lebt allein in Taipeh und studierte. Es begann, als er eines Tages den Eltern einen Brief schrieb, dass er sich in ein Mädchen verliebt hätte. Ein Mädchen, das an einer bestimmten Universität Chinesisch studiert. Sein Brief war voll von dem Namen des Mädchens und er sagte, dass er wie verrückt in das Mädchen verliebt sei. Meine Eltern fanden, dass das ganz normal sei, aber sie fanden, dass mein Bruder noch sehr jung und darum die Liebe noch nicht sehr stabil sei, sie nahmen sie alle nicht sehr ernst und scherzten über sie. Die Eltern stellten an den Bruder die Forderung erst eine Karriere auf den Weg zu bringen bevor er über Ehe reden dürfe, weil unser familiäres Umfeld sehr schwierig ist. Die Studiengebühren meines Bruders sind alle durch selbstständiges Arbeiten und Lernen verdient.“

Flora legt das Kinn aufs Knie, sie sieht hoch, schaut ihn unverwandt an und hört aufmerksam zu.

„Mein Bruder war zu der Zeit sehr beschäftigt. Er musste arbeiten, studieren und war ja immer noch verliebt. Er hat immer seltener nach Hause geschrieben. Der ganzen Familie war das egal. Dann hat er sein Staatsexamen gemacht. Nach der militärischen Ausbildung ist er wieder zum Arbeiten nach Taipeh gegangen. Er hat einen kleinen Verlag gegründet trotz zahlloser großer Verlagshäuser. Man sagt, dass er sehr, sehr hart gearbeitet hat. So hart und schmerzhaft, dass es sich niemand vorstellen kann. Er machte die Entwürfe, er las Korrektur, er fuhr in die Fabriken für den Satz, er brachte sie unter die Leute; vom kleinen Arbeiter in einer Druckerei zum Hersteller, vom Lektorat bis zum Korrekturlesen, er macht alles alleine. Das siehst du ihm heute nicht an, da er jetzt ein großes Bürogebäude besitzt, einen Bungalow und ein Auto. Hunderte von Mitarbeitern. Am Anfang hat er diese Welt wirklich allein mit leeren Händen betreten.“

Sie blinzelt mit den Augen und sagt: „Komm nicht vom Thema ab. Was ist mit dem Mädchen?“

„Hör mir zu.“ Er nimmt einen Schluck Cola und reicht ihr die Flasche weiter. Sie berührt nur den Flaschenmund und trinkt einen großen Schluck. Dann stellt sie die Flasche neben die Füße. „Du hast noch nicht gelitten, hast keine Armut erlebt. Du kannst das Leben der Armen nicht verstehen. Unsere Familie ist sehr arm und da hat man schließlich gehofft, dass der Bruder etwas tut. Die ganze Familie erwartete, dass der älteste Bruder etwas Geld schickt, um die Familie zu unterstützen. Damals studierte die älteste Schwester, die zweitälteste und ich. Alle drei studierten noch. Das Geld meines Vaters reichte wirklich nicht. Aber der große Bruder hat kein Geld mehr nach Hause geschickt. Er hat einen Brief geschrieben: obwohl er wie ein Stier arbeitete, kam er immer noch nicht über die Runden ...“

„Das ist verzeihlich!“ wirft sie ein.
Er wirft ihr einen aufmerksamen Blick zu.

„Ja, wir fanden das auch gerechtfertigt. Ein Unternehmen zu gründen ist harte Arbeit. Es dauerte bis die älteste Schwester die High School abgeschlossen hatte. Nach der Ankunft in Taipeh wurde das ganze Geheimnis gelüftet.“

Sie drehte ihren Körper und ihre Augen brennen wie Sterne.

„Ich habe vorhin gesagt, dass mein Bruder sich in ein Mädchen verliebte hatte, eine Studentin, Chinesisch Abteilung. Es ist so, mein Bruder hatte sich wirklich in ein Mädchen verliebt, aber sie war keine College-Studentin, sie ging in seine chinesische Abteilung! Er verliebt sich in eine Monte.“

„Eine Monte?“ Sie versteht nicht und runzelt unbewusst die Stirn.

„Monte Carlo Ballsaal! Das ist ein Begriff, verstehst du nicht?! Star des Ballsaals von Singapur! Der Lido ist der große Ballsaal von Paris bei Nacht! Wie auch immer, mein Bruder ist verliebt. Wie verrückt verliebt. Verliebte Liebe! Sein Objekt ist eine Tänzerin! Sag nichts! Du denkst, ich verachte Tänzerinnen? Ich verachte Tänzerinnen nicht. Tänzerin ist ein staatlich erlaubter Beruf! Das ist ein normaler Beruf! Eine Tänzerin reinigt ihren Körper und schmückt sich selbstverliebt. Davon gibt es viele. Aber, hör zu, die Tänzerin in die sich mein Bruder verliebt hatte, ist eine Person, die Gold und Gerechtigkeit anbetet und die war durch und durch eine Schlampe!“

Floras Fuß hat sich bewegt, er hat die Flasche auf das Deck gestoßen, sie schreit auf, die Flasche ist kaputt, die Cola fließt auf den Boden. Kleiner Schneeball springt gleich auf, er versteht nicht, warum er sein nasses Fell schütteln muss. Flora beugt sich zu ihm runter und hebt die Bruchstücke der Flasche vorsichtig auf und wirft sie ins Meer. Robert bückt sich um zu helfen. Dieses Chaos hat die Geschichte unterbrochen. Es dauert eine Weile, bis Flora sich in ihrer ursprünglichen Position zurücklehnt. Sie schaut zu ihm. Ihre Augen sind dunkel. Unter dem Mondlicht sieht ihr Gesicht blass aus.

„Du hast „sagen gehört“ benutzt, zwei Wörter“, sagt sie „die beweisen, dass du dir über die Wahrheit dieser Geschichte nicht sicher bist. Alle nur gehörten Geschichten sind gefälscht. Alles ist durch „ein bisschen Öl hier, ein bisschen Sauce da“ gegangen. Auch Gerüchte lassen Geschichten entstehen.“

„Meine große Schwester verbreitet keine Gerüchte, sie ist die ehrlichste Frau der Welt. Außerdem kam meine zweitälteste Schwester später auch nach Taipeh und sie bestätigte alles. Dies ist ein weltbewegendes Ereignis für meine Familie. Nur mein Papa ist der Coolste, er sagt, dass mein großer Bruder eines Tages einen nüchternen Tag erleben und alles erkennen wird. Man soll ihm nichts vorwerfen und begreifen, dass es natürlich ist.“

„OK“, Flora schüttelt den Kopf und streicht die kurzen Haare von der Stirn zum Hinterkopf. „Weiter! Er ist verliebt in eine ... Tänzerin. Und dann?“

„Hast du von Somerset Maugham „Triumpf der Liebe“ (geraten, E.S.) gelesen?“ fragt er plötzlich.

„Ich kenne die Story:“

„Die gleiche alte Sache wiederholt sich bei meinem Bruder. Es wurde gesagt, mein Bruder sei tagsüber verrückt am Arbeiten und arbeitet sich dann fast krank. Des nachts sitzt er im Ballsaal und schaut ausdruckslos das tanzende Mädchen an das sich auf der Bühne dreht. Das tanzt und sich mit anderen Männern trifft, sogar mit anderen Männern zum Abendessen geht. Mein Bruder sitzt jede Nacht da wie ein Idiot. Wie ein Verrückter, wie ein Narr ... vom Öffnen des Ballsaals bis zum Schließen. Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr hat er schließlich den „Huo Keng“ den „Pflichtbewussten Sohn“ gespielt. Alle Tänzerinnen sehen ihn als Witz, halten ihn für einen Witz, sprechen darüber wie über einen Witz. Ich weiß nicht, wie mein Bruder diese peinlichen Tage erlebt hat. Aber er erträgt es, er erträgt alles. Nimmt jeden Cent seines hart verdienten Geldes für das kindliche Erbarmen mit dieser Tänzerin.“

Sie holt tief Luft. Ihre Augen glänzen noch dunkler. „Und dann?“

„Man sagte, dass diese Tänzerin außerordentlich hübsch war. Frauen, die Männer total in der Hand haben und mit ihnen spielen können, die müssen sehr schön sein. Meine älteste Schwester sagte, dass diese Tänzerin ihren ältesten Bruder wirklich beeinflusst hat. Und die Zukunft? Du weißt, dass sich arme College-Studenten keine luxuriösen und eitlen Frauen leisten können! Nachdem die Tänzerin den Ballsaal betrat, veränderte sich alles. Sie sah meinen Bruder, lachte ihn aus, beleidigte ihn in der Öffentlichkeit und sagte ihm, er solle rausgehen! Sie sagte, er sei eine Kröte und sie wolle sein Schwanenfleisch essen ... Sie hat ihn in jeder Hinsicht missbraucht. Aber mein armer älterer Bruder blieb hartnäckig in der Ecke des Ballsaals. Alle Arten von Folter hat er ertragen, alle Arten von kaltem Gerede hat er ertragen. Alle Arten von Verachtung hat er ertragen, auch, dass sie mit anderen Männern rummachte. Alles hat er ertragen. Ich habe gehört, als meine ältere Schwester das meiner Mutter erzählt hat. Wie sie sagte, mein ältester Bruder dabei habe „seine Seele verloren“. Sie sagte, das sei das, was man „seine Seele verlieren“ nenne. Bis dahin wusste sie nicht, was das bedeutete!“

Er hält an, die Nacht ist ruhig, das Boot hält an. Die Fischer sind damit beschäftigt, ihre Netze ins Wasser zu ziehen. Diese großen Netze bilden einen schönen Bogen in der Luft, der sich lautlos ins Meer stürzt. Die Sterne leuchten noch, der Himmel ist immer noch dunkel und leer. Andere Schiffe sind auf dem Meer verstreut. Ein kleines Angelfeuer, wie ein kleines Sternenlicht, ist auch da. Da sind Sterne am Himmel und Sterne auf dem Meer. Beide funkeln. Es ist als wären sie einander ein Echo oder wollten sich gegenseitig zeigen.

„Deine Geschichte kann man sich nur schwer vorstellen“, sagt Flora schließlich. Ihre Stimme ist ruhig und tief. „Warum hat sich dein Bruder in so ein Mädchen verliebt? Deiner Meinung nach ist diese Frau eine, nach der man sich nicht sehnt.

„Sie war hübsch!“

„Dein Bruder ist nicht so oberflächlich, dass er nur schöne Frauen mag, richtig?“ sagt sie aggressiv. „Außerdem gibt es so viele schöne Frauen auf der Welt. Ich glaube, es muss hübschere Frau geben als diese Tänzerin. Dein Bruder ist doch kein Porno-Mann, dem es reicht, wenn etwas nur schön ist?“

„Du liegst total falsch. Mein großer Bruder hat in seinem Leben nur einmal geliebt. Seit kurzem ist er wieder verliebt. Ich denke, es ist dieses Mal nicht so vollständig, nur so halb!“

„Was heißt das?“

„Hör mir weiter zu! Mein Bruder und diese Tänzerin waren fünf Jahren zusammen. Man sagt, diese Tänzerin habe meinen Bruder nicht vollkommen ignoriert. Jedes Mal, wenn mein älterer Bruder beschlossen hatte sie zu verlassen, ergriff sie die Initiative und ist zu meinem Bruder gegangen. Manchmal war sie betrunken und hat meinem Bruder Gedichte vorgelesen ... habe ich gehört. Sie hatte ein sehr gutes Fundament in Chinesisch-Studien. Dann verlor mein Bruder wieder den Kopf ...“

„Das ist nicht folgerichtig!“ sagt Flora schnell. „Wieso?“

„Du hast immer wieder gesagt, dass ausschließlich dein älterer Bruder hinter der Tänzerin her war und diese Tänzerin ihn beleidigt und schikaniert hat. Jetzt sagst du, dass dein Bruder die Tänzerin auch ignoriert hat und die Tänzerin die Initiative ergriffen hat, um ihn zurück zu gewinnen. Wer ist am meisten mit wem verstrickt? Wer ist hinter wem her?“

Robert ist gefragt. Er starrt auf das grenzenlose Meer. Dieser Tag und das Meer mit seiner Unendlichkeit machen ihn fassungslos. Er stützt lange nachdenklich sein Kinn in die Hand. Dann sagt er fair und nachdenklich:

„Ich glaube, es ging von beiden Seiten aus. Auf diese Weise kommt man im Leben oft in eine Situation, in der man nicht mehr aufhören kann. Wenn die Frau nicht aus Holz ist, ist es für sie unmöglich, vom meinem Bruder nicht berührt zu sein. Ich denke, was die Gefühle betrifft war sie meinem Bruder gegenüber im Vorteil. Aus Eitelkeit lehnte sie meinen Bruder ab. Der arme Junge konnte niemals ihr eitles Herz zufrieden machen.“

„Und dann?“ fragt Flora: „Wird diese Frau von einem Tycoon versteckt?“

„Da liegst du falsch. Die Tänzerin ist gestorben. Vor zwei Jahren ist sie gestorben! Das ist das beste Ende. Wie mein Vater gesagt hat: Unrecht ist zum Untergang verurteilt. Der Tod beendet diese ganze Geschichte. Mein Bruder muss nicht mehr in den Tanzsaal gehen. Er hat seine ganze Kraft in seine Karriere gesteckt und hat deswegen den heutigen Erfolg.

„Woran ist die Tänzerin gestorben? Sie war noch sehr jung, oder?“

„Ich habe gehört, sie war betrunken. Sie sei mitten in der Nacht auf die Straße gelaufen und von einem Auto getötet worden!“

Sie bekämpft geschickt ihre Emotionen.

Er sieht sie überrascht an und hilft ihr, die Klamotten hochzuziehen. Die Meeresbrise ist stark und die Nacht ist so kühl wie Wasser. Er nimmt ihre Hand in seine Hand. Ihre Hand zittert leicht.

Er fragt ängstlich: „Was ist? Ist dir kalt? Gehen wir in die Kabine.“

„Nein“, sagt sie schnell. „Ich fühle mich wohl. Ich mag die Meeresbrise und den Himmel. Ich will nicht in die Kabine gehen. Sie sieht ihn an. „Du hast deine Geschichte auch noch nicht zu ende erzählt.“

„Doch.“ Er seufzt. „Das ist sie. Mein Bruder ist dieser Tänzerin nichts schuldig. Mit ihrem Tod sind die Schulden beglichen.“

„Also, warum, hast du gesagt, hat sich dein Bruder anfänglich in sie verliebt? Und ist es nur eine halbe Liebe? Was ist eine halbe Liebe?“

Es schaudert ihn leicht. Unbehagen steigt ihm in die Stirn, klettert bis zu den Augenwinkeln, klettert sein ganzes Gesicht hoch.

„Ich hoffe, dass die Seele der Tänzerin nicht wiederkommt!“ sagt er traurig, „Glaubst du? Zwei Jahre nachdem diese Tänzerin gestorben ist, kommt aus Übersee plötzlich ein Mädchen angeflogen, das behauptet die jüngere Schwester der Tänzerin zu sein! Mein vom Teufel besessener Bruder verliebt sich in sie als er sie zum ersten Mal trifft! Die große Schwester ist gegangen, die kleine Schwester kommt! Mein Bruder schuldet ihnen die Schulden der Familie. Es sieht so aus, als wenn das nie getilgt ist ...“

„Liebt die jüngere Schwester deinen Bruder?“

„Wie soll ich das wissen? Mein Bruder verbietet mir sie zu sehen. Er fürchtet, ich könnte unvorsichtig sein in dem was ich über ihre Schwester sage und sie damit verletzen. Ich glaube, mein halbverrückter großer Bruder könnte der jüngeren Schwester erzählen, dass ihre Schwester eine Heilige war. Mein Bruder kann das tun. Er ist wieder verliebt. Er kann betteln bis zu einem Punkt, den du dir nicht vorstellen kannst. Vertraust du dieser Art von Liebe? Liebt er diese Frau jetzt oder „die kleine Schwester der Tänzerin“? Darum sage ich, dass das nur als Halbzeitliebe angesehen werden kann. Ich glaube, er hat sich gerade in Amandas Schatten verliebt.“

„Amanda ....“ , murmelt sie.
„Das ist der Name von der Tänzerin und die kleine Schwester heißt Sybil.“

Sie senkt den Kopf. Plötzlich wird sie sehr still. Sie denkt nach. Lange, lange denkt sie nach. Dann hebt sie den Blick und sieht ihn ruhig an. In ihren Augen ist etwas Seltsames. Mondschein scheint auf ihr Gesicht, ein unerklärliches Licht leuchtet auch in ihren Augen. Die Wellen schlagen an das Boot und machen ein rhythmisches Geräusch. Menschen auf dem Meer, wie in dieser Nacht, sind leicht verletzlich, werden freundlich, werden bewusst klein, weil die mysteriöse Natur mit einer so unerklärlichen Melancholie geboren wird, dass sie die Leute gefangen nehmen kann. Sie hat die unerklärliche Melancholie der Natur selbst erfahren. Der Ozean infiziert sie mit all seiner besonderen Schönheit und seinem Mysterium. Sie starrt ihn lange an bevor sie leise sagt:

„Robert, warum hasst du diese beiden Schwestern?“

„Hasse ich sie?“ fragt er traurig.

„Du hasst sie. Du hältst die ältere Schwester für einen Teufel und die jüngere für ihren Geist. Eine einzige Geschichte hat oft mehrere Seiten. Wenn diese Schwester nicht tot wäre, würde sie dieser Schwester vielleicht erzählen, dass dein Bruder ein Monster ist.“

„Warum?“
„Nicht, warum“, sie schaut aufs Meer. „Ich vermute das einfach so.“

Sie spricht nicht weiter und sieht aufs Meer. Ihre Augen sind verschwommen. Ihre Gedanken scheinen in eine unbekannte Welt zu schweben. Sie legt ihren Kopf halb an die Bordwand und schließt langsam ihre Augen. Er sieht zu ihr. Es sieht aus, als wenn sie gleich einschlafen würde. Er setzt sich neben sie, streckt seine Hand aus, um sie zu halten. Ihr Kopf sinkt auf seine Schulter. Er hält sie um die Taille. Mitfühlend sagt er:

„Wenn du schlafen möchtest, schlaf ruhig!“ Sie flüstert stöhnend:
„Du bist heute Nacht wie ein Erwachsener.“
Er lächelt.
„Genau das wollte ich auch sagen. Du bist heute Nacht wie eine Erwachsene.“ „Oder“, sagt sie vage und wie in Trance.

„Wir beide sind im Laufe einer Nacht Erwachsene geworden. Wachsen und Erwachsen- werden kommt ohne dass man es weiß, oder? Robert“, sagt sie leise, „wenn du erwachsen wirst, musst du in der Lage sein, mit Situationen umzugehen und sie loszulassen.“

„Und wenn ich es nicht aushalten kann und nicht loslassen kann? Wenn ich den Frust nicht ertragen kann?“ fragt er mit einem Lächeln. Aber sie antwortet nicht. Ihre Atmung ist gleichmäßig und weich und strömt heiß in seinen Nacken. Sie ist kurz vor dem Einschlafen. Er deckt sie mit Kleidern zu, legt ihren Kopf auf seinen Schoß und so wacht sie wieder auf.

„Was hast du gesagt“
Er hält ihren Kopf und das rührt sie. Sofort ergreift er die Gelegenheit und fragt leise: „Du hast mir heute Abend einige Sachen erzählt, stimmen die oder sind die falsch?“ „Welche Sachen?“ Ihre Augen fallen wieder zu.
„Ein Junge hat sich deinetwegen umgebracht.“

„Natürlich nicht.“

Sie gähnt übertrieben und tut so, als ob sie schläfrig wäre. Als hätte sie nicht die Absicht, sich eine Geschichte auszudenken. „Niemand macht so dumme Sachen frag mich nur, das wäre ja komisch.

„Rauschmittel einnehmen?“ „Falsch.“
„Und mit zwei Jungen schlafen?“ „Falsch!“

„In die Besserungsanstalt?“
Sie lächelt, hält die Hände um seine Taille, vergräbt die Wangen in seinen Armen.

„Was sollte ich in einer Besserungsanstalt gemacht haben? Obwohl ich sehr böse bin. Aber abgesehen von der Besserungsanstalt. Robert ...“ Ihr Ton ist langgezogen.

„Was?“ fragt er leise. In seinem Herzen singt es, ein Chor von hunderttausend Menschen. Das Singen lässt sein Herz höher schlagen, singt, damit das Meer und der Himmel ihre Farbe ändern. Singt, dass die Sterne lachen, das Mondlicht lacht, die Wellen lachen. Er selber nicht anders kann als zu lachen...

„Robert“, murmelt sie und sagt leise; „Ich habe diese Geschichten für dich erfunden, um dich zu verscheuchen. Jetzt habe ich meine Meinung geändert. Ich möchte nicht, dass du an deiner eigenen Wahrnehmung zweifelst, aber bitte hasse mich nicht.“

„Dich hassen? Weil du diese kleinen Lügen erzählst?“ Überrascht sagt er sanft:

„Nein, ich hasse dich nicht .....“ Er fühlt plötzlich nässe in seinen Armen und ist überrascht. Er streckt seine Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren und fühlt dass ihr Gesicht voller Tränen ist. Er ist schockiert. Der ganze große Chor in seinem Herzen ist ganz verängstigt.

„Flora, was hast du? Du weinst? Warum? Ich hasse dich nicht! Ich schwöre!“ Er ruft mit Nachdruck: „Ehrlich, ich schwöre es!“

„Ok, du schwörst es!“ sagt sie und versteckt ihre Wangen in seinen Armen und schließt die Augen. „Ich habe nicht geweint, das war Tau. Nachts ist das Meer voller Tau.“ Ihre Stimme ist weich und schön. „Ich will schlafen, weck mich nicht auf!“

Er wickelt sie fest in seinen Mantel, blickt auf die Sterne und den Mond am Himmel. Der Chor von hunderttausend Mann ist zurück in seiner Brust und fängt wieder an zu singen und zu musizieren.

In weiter Ferne sieht man das erste schwache große Licht auf dem Meer. Wie ein Blitz ist es aus dem Meer gesprungen und breitet sich schnell über den Himmel aus.

 

 

12. Episode

 

„Sybil“, Ya Ping sitzt im gemütlichen Sessel des Cafés und rührt mit einem kleinen Löffel den Kaffee um. Sie runzelt leicht die Stirn. Ihr Gesicht ist ängstlich und unruhig. Sie sagt hastig: „Stell keine Fragen mehr, ok? Siehst du, es ist mehr als ein halbes Jahr her seit du zurückgekommen bist und du verfolgst das immer noch, länger als ein halbes Jahr?“

„Ja.“ Sybil lehnt sich im Stuhl zurück. Durch das Glasfenster scheint die frühe Sommersonne herein. Vor dem Glasfenster hängt ein Perlenvorhang. Unbewusst tastet sie mit den Fingern nach diesen Perlen.

„Ich sage dir, Ya Ping-Schwester, ich werde nicht aufhören nach der Antwort auf dieses Rätsel zu suchen. Aber jetzt befinde ich mich in einem Labyrinth. Ich kann nichts zusammenfügen. Wie ein verstreutes Puzzle: ich kann die Teile nicht zusammenfügen. Ya Ping-Schwester, du musst mir helfen diesen Knoten zu lösen.“

„Ich habe dir bereits gesagt, dass ich dir alles gesagt habe, was ich weiß.“ „Nein, du hast mir gar nicht alles gesagt!“

„Oder, was ich weiß ist nicht wahr“, sagt Ya Ping ausweichend: „Ich habe Amanda nicht mehr getroffen. Viele Informationen habe ich nur gehört. Das ging unter Mitschülern herum. Du weißt, dass Frauen oft Unsinn untereinander reden. Es sind wahrscheinlich alles spekulative Geschichten.“

„Das könnte sein“, sagt Sybil nachdenklich.

„Warum gibst du nicht auf?“ fragt Ya Ping mit Nachdruck. „Ein Mensch ist zweieinhalb Jahre tot! Warum verfolgst du immer noch die Antwort auf das Rätsel? Was hast du davon? Warum hörst du nicht auf?“

„Weil ...“ Sybil setzt sich aufrecht hin und richtet ihr Gesicht auf Ya Ping. Ihre Augen sind suchend, aufrichtig und um Hilfe bittend. „Weil diese Geschichte für mich immer wichtiger wird.“

„Wieso?“

„Ich ... ich ...“ sie zögert lange, dann starrt sie Ya Ping offen an: „ Ich liebe diesen Mann!“

„Wen?“ Ya Ping ist erschrocken, ihr Gesicht ist plötzlich ganz blass.

„Du hast es bereits geraten!“ Sybil sieht sie direkt an und sagt unmissverständlich: „Arthur Wang. Diesen große Verleger, der Mann, der fast mein Schwager geworden wäre!“

Ya Ping scheint plötzlich wie erwischt, ihre Augen sind weit aufgerissen, den Mund weit geöffnet starrt sie Sybille ausdruckslos an und sagt sehr lange nichts. Dann wirft sie den kleinen Löffel auf den Teller und schiebt den Kaffeebecher weit weg. Dann hat sie plötzlich einen Anfall und schreit mit dieser weiblichen freundlichen Art instinktiver Ehrlichkeit:

„Du bist verrückt! Sybil, es gibt unzählige Männer in Taiwan, von denen du jeden lieben kannst, warum musst du ihn lieben? Was ist mit deinem Verstand? Deiner Vernunft? Deinen Denkvermögen? Wie kann man einen Mörder lieben?“

„Mörder?“ schreit sie: „Du hast endlich dieses Wort gesagt! Mörder? Also, ist er wirklich ein Mörder!“

Ya Ping hat geschockt den Mund geschlossen und starrt Sybil mit großen Augen an - aus Angst. Sie ist erschrocken über die Worte, die sie selbst gesagt hat. Sybil starrt sie auch mit weit aufgerissenen Augen an. Fast ängstlich schaut sie sie an. Dann, noch lange Zeit, sehen sich die beiden so an. Schließlich ist Ya Ping zuerst wieder zu sich gekommen. Sie atmet langsam ein und sagt mürrisch:

„Vergiss es, vergiss es! Reden wir nicht drüber! Ich hätte dieses Wort nicht benutzen sollen. Es ist eigentlich unfair das zu sagen. Deine Schwester ist durch Selbstmord gestorben, nicht Mord. Ich denke nur, dass, obwohl er sie nicht getötet hat, sie durch ihn gestorben ist und er sich der Schuld nicht entziehen kann. Wie auch immer, die Situation hat sich geändert. Oder ist dieser Mann ist wert, dass ihr, beide Schwestern, auf ihn hereinfallt. Ich werde nichts sagen, ich will ihn nicht wieder verleumden!“

„Ya Ping, du musst reden solange du Zeit hast mich zu retten!“ „Dich retten?“

„Ja! Wenn dieser Mann wirklich zu fürchten ist, dann sag es mir. Hilf mir mich vor ihm zu beschützen und lass mich ihm entkommen! Ya Ping, glaubst du an Geister?“

„Wie?“

„Vor nicht langer Zeit habe ich von Amanda geträumt. Ich weiß, das war ein Traum, aber sie stand sehr lebendig da. Sie hat mir gesagt, ich soll weggehen, nach England zurückgehen und dass ich Arthur verlassen soll! Sie hat es immer wieder gesagt, bis ich aufgewacht bin. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass sie da war. Ich weiß, der Tag denkt, die Nacht träumt. Ya Ping-Schwester, glaubst du, alles wird im Dunkeln bleiben? Es gibt wirklich einen Gott und eine Seele? Kann es wirklich sein, dass meine Schwester mich in einem Traum bittet zu gehen? Oh!“ Tränen steigen auf und sie stützt ihre Stirn. „Ich denke wirklich, ich sollte gehen. Sobald ich das ganze Geheimnis kenne, werde ich sofort nach England zurückkehren!“

Ya Ping sitzt ausdruckslos da mit einem Blick, der in die Ferne schweift.

„Ich glaube an Geister.“ Sie ist bewegt und sieht sie ernst an. „Geh weg! Sybil, hör auf deine Schwester, geh nach England zurück!“

„Dann sage mir“, Ihr Gesicht ist blass und ihre Augen schwarze und groß. „Du hast gesagt, Arthur hat Empathie, verliebe dich nicht in ihn, deine Schwester ist deswegen getötet. Wer ist die Frau, die Arthur liebt? Wo ist sie jetzt?“

„Willst du das wirklich wissen?“

„Ich will es wissen.“

„Ich habe gehört, dass sie eine hübsche Frau ist.“

„Oh?“ Ihre Augen werden noch größer. „Was für ein Mädchen? Wie heißt sie?“

„Sie scheint eine Tänzerin zu sein. Ich habe gehört, sie heißt An (Frieden. Ruhe) Hua (prächtig, luxuriös). Diese Tänzerin hat einen sehr verwestlichten Namen, sie soll...“

„An Hua?“ unterbricht Sybil sie.

„Ja,An Hua! Eine Klassenkameradin, sie hat bereits das Land verlassen.“ Ya Ping sieht Sybil an. „Musst du unseren Klassenkameraden einem nach dem anderen verfolgen?“

„Nein. Ya Ping-Schwester, werde nicht ärgerlich.“ sagt sie ängstlich. „Du hast gerade gesagt, diese Tänzerin hat einen sehr eigenartigen Namen ...“

„Ja. Irgendwie Helen? Vicki? Anna? Manna? Nein, nein, alles falsch. Obwohl der Name der Name verfremdet ist, ist er voller Ausstrahlung. Übrigens, jetzt erinnere ich mich, der Name war Manon! Weißt du, es gibt einen französischen Roman namens „Manon“ – ein Bestseller.

„Ich weiß.“ Sybils Stirn ist tief gefurcht, ihre Augen glänzen schwach in einem seltsamen Licht. „Manon“. Ein Werk des 19. Jahrhunderts, der Autor ist Puccini. Manon ist eine romantische Frau, sie ist wunderschön und leidenschaftlich, voller Romantik. Sie kann untreu sein, um für Geld zu lieben. Aber da ist ein junger Mann und Ritter, der für sie seine Familie ruiniert, den Ruf zerstört, er ruiniert alles und folgt ihr. Es ist ein sensationelles, romantisches Werk!“

„Du kennst westliche Literatur besser als ich. Ich erinnere mich nur noch vage an den Titel dieses Buches. Aber ich habe mich an den Namen der Tänzerin erinnert.“ sagt Ya Ping: „Ich denke, Arthur war wahrscheinlich der Ritter. Er war so besessen von Manon, manche Leute sagen, dass er den ganzen Tag im Ballsaal rumhing, nur um Manon mit Augen zu verfolgen.“

„Meine Schwester hat ihretwegen Selbstmord begangen?“ fragt Sybil.

Ya Ping schweigt, sie schaut auf die Kaffeetasse und zögert zu sprechen.

„Was willst du sagen?“ fragt Sybil einfühlsam.

„Hast du Amandas Totenschein nicht erhalten?“ fragt Ya Ping plötzlich: „Darauf sollte die Unterschrift des Arztes sein und die Todesursache sollte da deutlich angegeben sein!“

„Arthur hat ihn meiner Mutter geschickt“, Sybil erinnert sich: „Ich habe den Zettel gesehen, darauf steht „Herzfehler“ oder so ähnlich.“

„Ja, ja, unsere Ärzte sind alle sehr menschlich. Auf diese Weise geschrieben tut man den Familienangehörigen nicht weh. Außerdem muss er wohl den Arzt in dieser Angelegenheit um Hilfe gebeten haben.“

„Und diese Manon“, fragt Sybil: „ Ist sie noch in Taiwan? Ist sie noch in dem Ballsaal tätig?“

„Nein. Ich habe gehört ihre Familie ist nach Singapur gegangen. Ein reicher Mann hat sie als fünfte Frau des Hauses akzeptiert. Das ist die Vergeltung. Arthur fiel am Schluss durch! Sybil.“ Sie sieht Sybil aufmerksam an. „Amanda hat recht, Lauf von ihm weg! Verlass Arthur! Geh zurück nach England! Es ist nicht schwer in England einen Mann zu finden, der hundertmal besser ist als er! Lass dich nicht durcheinanderbringen, dieser Arthur ist zu wild auf Mädchen! Ich habe gehört, dass Manon in Arthur auch sehr verliebt war!“

„Was hat meine Schwester gemacht, während Arthur in Manon verliebt war?“ fragt Sybil, „Warum nimmt sie das nicht ernst?“

„Wenn Liebe “bewacht“ werden muss, macht sie keinen Sinn mehr.“ seufzt Ya Ping und sagt: „Mach ihr keine Vorwürfe, ich denke, sie hat getan, was sie konnte. Sie hat sogar ...“ Sie schließt plötzlich den Mund und reißt schockiert die Augen auf.

„Sogar was ...?“ fragt Sybil und schaut sie aufmerksam an. „Was verheimlichst du noch vor mir?“

„Nichts, nichts!“ sagt sie panisch, schnappt ihr Portemonnaie und will gehen. „Ich muss gehen, es ist schon spät.“

„Setz dich!“ Sybil hält sie mit der Hand fest. „Du hast undeutlich gesprochen, du willst doch nicht gehen! Ya Ping-Schwester, du weißt, dass ich stur bin. Du hältst immer noch etwas vor mir verborgen. Du musst es mir erzählen! Das ist für mich sehr wichtig, verstehst du? Es geht um meinen Aufenthalt, verstehst du? Das ist mein Leben, verstehst du? Das hängt mit dem Schicksal mehrerer Menschen zusammen, verstehst du?“

Ya Ping starrt sie einen Moment an, schließlich versteht sie ihre Angst, die drängend und hilflos ist, endlich hat sie die Bedeutung der Sache verstanden.

„Sybil“, murmelt sie, sie stöhnt heftig und sagt kaum hörbar, „Ich sage dir das letzte, vielleicht es ist keine ernste Sache. Ich hoffe, es ist kein Fehler es dir zu sagen. Ich habe nie jemandem davon erzählt.“

„Sag es! Sag es schnell!“

„Zwei Monate bevor Amanda gestorben ist, habe ich von ihr einen Anruf bekommen. Damals bestand unsere Freundschaft darin, sich gelegentlich anzurufen. Ich fand, sie war in dieser Nacht ganz anders als sonst. Sie hatte sich vielleicht gerade mit Arthur gestritten, vielleicht war sie auch betrunken, weil ihre Stimme ganz weinerlich klang und ihre Worte sehr undeutlich. Bei diesem Gespräch fragte sie mich ... fragte mich, wie es sich anfühlt Mutter zu sein. Damals war gerade mein erstes Kind geboren und ich habe alle Mitschüler eingeladen zum Vollmondwein-Trinken zu kommen. Deine Schwester ist nicht zur Party gekommen. Ich habe auf ihre Frage geantwortet, dass eine Frau erst nach der Geburt eines Kindes eine ganze Frau ist. Da hat sie geweint, sie hat am Telefon bitterlich geweint. Ich habe sie gefragt, was denn sei. Sie hat gesagt: Ich werde auch Mama, aber ich muss dieses Kind wegmachen lassen, weil sein Vater es nicht will! Ich war schockiert und wollte sie überreden, aber sie hat das Telefonat sofort beendet.“

Sybil sieht Ya Ping misstrauisch an. Ihre Worte haben sie schockiert. So schockiert, dass ihr Mund offen steht, so schockiert, dass sie nichts sagen kann. Nach einer ganzen Weile streichelt Ya Ping ihre Hand.

„Wenn eine Frau beschließt für einen Mann ein Kind zur Welt zu bringen, ist ihr alles egal. Und wenn ein Mann sein eigenes Kind nicht will, hat er keine Menschlichkeit.“

Sybil holt tief Luft.
„Hat meine Schwester das Kind entfernt?“

„Deshalb habe ich gerade gefragt, was auf der Sterbeurkunde steht.“ Ya Ping sieht sie offen an: „Es gibt auch Gerüchte, dass deine Schwester nicht durch Selbstmord gestorben ist, sondern an der Abtreibung!“

Sybil stöhnte, senkte den Kopf und vergräbt ihre Wangen in ihren Handflächen. Ya Ping sieht sie eine Weile an, dann steht sie langsam auf, nimmt ihre Ledertasche, geht zu Sybil, streicht ihr über den Rücken und sagt leise:

„Geh weg, Sybil! Dieser Mann ist böse, er ist ein Teufel! Wenn du wirklich von Amanda geträumt hast, jetzt wo sie tot ist, will sie dich warnen. Hör auf sie, geh! Geh nach England zurück! Geh nach London zurück! Wenn du zurückgehst, dann lass es mich wissen. Ich kann dich zum Flughafen bringen!“

Sybil sitzt da und rührt sich nicht, hebt auch nicht den Kopf. Dann drückt sie Ya Ping fest die Hand, dreht sich um und geht.

Sybil sitzt immer noch da. Lange, lange sitzt sie noch da. Sie sitzt da, bis es dunkel wird. Sie sitzt da, bis im Café die Lichter angehen. Sie sitzt da bis es Nacht wird. Sie sitzt da, bis aus wenigen Gästen immer mehr werden und aus mehr Gästen weniger. Sie zündet sich eine Zigarette an, bestellt sich ein Glas Wein. So sitzt sie da, sie raucht und trinkt Wein. Im Café ist eine kleine Band die zu spielen beginnt. Die Sängerin scheint eine Studentin zu sein, sie singt westliche Lieder. Sybil hört zu. Die Stimme der Sängerin ist tief und anziehend, offensichtlich ist sie in Vokalmusik ausgebildet. Sie singt sanft und schön. Gerade singt sie ein altes Volkslied: „Ich will es wirklich nicht wissen“. Sie summt bedrückt und singt dann gefühlvoll:

„Wie viele Menschen hast du umarmt? Wie viele Menschen hast du verlassen? Wie viele? Wie viele? Wie viele? Ich will es gar nicht wissen!“

Sie hört dieses Lied, sie weiß nicht warum, aber sie denkt an Manon. Sie sieht dieses inzwischen schon französische alte Buch, an die ganze Geschichte erinnert sie sich nicht mehr, aber dennoch bleibt ihr ein tiefer Eindruck. Die Verliebtheit des Jungen in die Heldin, die besondere Aufmerksamkeit, die ein unglaubliches Niveau erreicht. Es geht auch darum, wie viele Menschen er schon umarmt hat. Wie viele Menschen du schon verlassen hast. Wie viele? Wie viele? Ich will es eigentlich nicht wissen!“ Ist Arthur dieser Mensch? Ist Arthur dieser Ritter? Sie ist nachdenklich, tief nachdenklich. Die Sängerin wechselt zu einem anderen Lied, das ebenfalls ein altes Volkslied ist: „Geh nach Osten“. Sie winkt dem Kellner und gibt ihm eine Notiz: „Kannst du „Die Wildgans auf dem Wipfel des Baumes“ singen?“

Der Kellner bringt der jungen Frau den Zettel, dann nickt ihr die junge Sängerin zu und beginnt zu singen:

„Die Wildgans im Wald. Weiße Wolken schweben vor dir,
die Wolkenstraße kann nicht halten, ein Nest kann sie nicht bauen, die Wildgans, die Wildgans will nicht fliegen,
wie einsam ist es in den Tiefen weißer Wolken!

Die Wildgans im Wald. Kleine windbewegte Äste,
mit den Flügeln schlagen um zu fliegen,
das Wasser ist hoch und die Berge sind weit.
Wohin fliegt die Wildgans? Tausende Berge und Gewässer!

Die Wildgans im Wald. Im Mondlicht im Wald, Elstern und Pirole, alle schlafen schon!
Die Wildgans, die Wildgans schläft nicht, Träume und keine Träume, beides ist beunruhigend!“

Eine Schicht Nebel schwebt vor Sybils Augen, alles was sie sieht ist verschwommen. Sie lehnt ihren Kopf an die Fensterscheibe. Mit den Fingern spielt sie mit den Perlen im Vorhang, hört auf das Geräusch und das Aufeinanderschlagen der Perlen und betrachtet, wie das Licht durch die Perlen unter dem Licht gebrochen wird. Ihr ist schwindlig, sie ist benommen. Verstand und Gedanken sind in einem halbleeren Zustand gefangen.

Jemand hat sich ihr gegenüber gesetzt. Alleinstehende weibliche Gäste erregen leicht Aufmerksamkeit. Außerdem drücken sich Einsamkeit und ihre Traurigkeit auf Gesicht und Schultern aus. Sie schaut nicht auf und behandelt ihn als ob er nicht da sei und spielt weiter an den Perlen herum. Diese Person spricht nicht, sondern winkt nur nach zwei Tassen Kaffee. Er schiebt ihr eine Tasse heißen Kaffee hin und nimmt das Glas mit dem halben Whisky weg. Dann brennt er eine Zigarette an und ihr vertrauter Zigarettenrauch steigt ihr in die Nase. Diese Handlungen lassen sie sofort wissen, wer es ist. sie dreht ihm den Kopf halb zu und sieht ihn kalt von unter ihren Wimpern an. Ist dieser Mensch der Teufel? Ist er ein Mörder? Ist er das Böse?

„Woher weißt du dass ich hier bin?“, fragt sie.

„Ich habe dich tagelang und überall gesucht.“ Sagt er, sein Ton ist ruhig, so, als würde er über Dinge anderer reden. Am Nachmittag bin ich nach Dali gefahren. Ich dachte, dass du vielleicht in das Fischerdorf gefahren sein könntest. Ich habe auch diese Fischer und diese Felsen gesehen. Ich habe auch gesehen, wie die Fische im Netz gekämpft haben. Am Abend bin ich in jedes Restaurant gegangen und jedes Café. Dann habe ich mich plötzlich an hier erinnert, an Xin Yun. Früher hast du mich einmal gebeten hierher zu kommen. Da bin ich gleich hierher gekommen.“ Er pustet eine Rauchwolke aus. Rauch füllt den Raum zwischen ihnen. „Warum magst du dieses Café?“

„Weil ...“ Langsam und ohne eine Spur von Gefühl sagt sie: „Weil es in der Nähe von Amandas Grab ist.“

Er springt auf.

Sie fixiert ihn und ihre Stimme wird noch kälter.

„Tut dir das weh?“ fragt sie. „Hast du immer Angst, wenn du Amandas Namen hörst? Wie merkwürdig. Normalerweise mögen es alle Menschen, wenn man über Menschen spricht, die sie sehr geliebt haben.“ Sie nimmt den Teelöffel und rührt ihren Kaffee um und beobachtet den Wirbel des Kaffees, der gerührt wird. Beiläufig fragt sie: „Hat Amanda zu ihren Lebzeiten Blumen gemocht?“

„Ja.“

„Welche Blumen hat sie geliebt? Rosen? Heckenrosen? Veilchen? Nelken?“ Er hat sie beobachtet.

„Nein. Sie mochte Löwenzahn.“
„Löwenzahn? Ist es eine kleine wilde Chrysantheme?“

„Ja. Sie sagte, Rosen seien zu reich und wunderschön, Orchideen zu empfindlich, Nelken zu zerbrechlich, Ringelblumen zu arrogant ... alle nicht richtig für sie. Sie bezeichnete sich selbst oft als Löwenzahn, der an einer Ecke von selbst wächst und sich selbst verteidigt. Sie war immer bedrückt, wenn sie das sagte. Sie fühlte sich oft sehr minderwertig.“

Sie hört auf Kaffee zu trinken, stützt ihr Kinn in beide Hände und starrt ihn für einen Moment an. Er begegnet ihrem Blick, sein Gesicht sieht sehr hager aus, seine Augen müde und besorgt, sein Gesichtsausdruck melancholisch und einsam, alles mit einer Art Integrität, edlem Temperament, nicht wie ein Mörder, kein bisschen wie ein Mörder. Im Gegenteil eher wie ein Gefangener, der darauf wartet verurteilt zu werden. Ein Gefangener zu Unrecht in einem Gefängnis. Zu Unrecht? Warum fallen ihr diese beiden Wörter ein? Hilft sie ihm unbewusst bereits das Verbrechen loszuwerden?

„Du versteckst dich tagelang vor mir!“ sagt er und zieht heftig an der Zigarette. Seine Finger zittern leicht. „Dir geht es wieder besser und du rennst einfach draußen herum! Wenn du mich nicht sehen willst, dann gibt mir einfach eine Nachricht. Ich werde dich nicht belästigen. Aber bitte lauf nicht Tag und Nacht so herum, dass mich das sehr, sehr beunruhigt.“ Er sieht sie genau an. „Du bist dünn und blass!“

Seine Worte lassen ihr Herz schlagen, sie pochen und tief in ihrem Herzen und lassen es sauer und gleichzeitig zärtlich werden. Als ob da eine unsichtbare Hand ihr Herz fest zusammendrückte wird ihr Herzschlag unregelmäßig und ihre Atmung instabil. Dieses Gefühl macht sie wütend und irritiert sie. Sie beißt die Zähne zusammen:

„Selbst wenn ich herumlaufe kann ich dir nicht entkommen! Warum jagst du mich? Kannst du mich nicht gehen lassen? Kannst du mich nicht einfach übersehen?“

Er senkt die Augen und scheint zu versuchen, seine Aufregung zu bändigen. Sein Gesicht wird noch melancholischer. Seine Augen sehen noch einsamer aus. Er löscht schnell die Zigarettenkippe und sagt:„Gut, ich gehe!“

„Du darfst nicht gehen“, platzt es aus ihr heraus.

Er setzt sich wieder und starrt sie überrascht an. Da ist Erwartung, Verwirrung, Angst, Angst und Trauer in seinen Augen... und auch Liebe. Diese Art von tiefer Liebe, tiefer Liebe, begieriger Liebe. Unter diesen Augen schmilzt ihr Widerstand und sie wird schwach. Sie holt tief Luft und sagt mit einem leisen Befehlston: „Ich muss dich etwas fragen und du musst mir ehrlich antworten!“

Er nickt.
Sie hat ihre Lippen mit der Zungenspitze befeuchtet und ihre Kehle ist trocken. „Wer ist Manon?“ fragt sie einfältig.

Er springt erschrocken hoch und sein Gesicht ist bleich wie Papier. Er hebt schnell den Blick und starrt sie an. Sein Atem ist schnell und schwer, seine Augen irren umher und seine Stimme zittert.

„Wer hat dir diesen Namen genannt?“ fragt er.

„Das ist egal. Erzähl mir einfach, wer Manon ist?“

Er runzelt die Stirn, schließt vor Schmerz die Augen und stützt die Stirn mit der Hand.

„Manon .... ist eine Tänzerin.“

„Du hast .... Manon geliebt?“

Er beißt die Zähne zusammen.

„Ja.“

„Sie war keine gewöhnliche Tänzerin? Sie war sehr tiefgründig und geistreich und attraktiv für dich? Manon?“

Sie vergleicht sich mit Manon. Die Sängerin der Lace Song Band da. Ist sie nicht wie Manon, die Lace Song Sängerin, genauso geheimnisvoll und lieblich?

„Du liebst sie immer noch. Bis jetzt, nicht wahr? Was für Blumen liebte sie? Bestimmt nicht Rosen, Flieder oder Ringelblumen? Es kann nicht sein ...“

„Bang!“ Plötzlich ein Geräusch. Er schlägt hart auf den Tisch und die Kaffeetasse fällt zu Boden und zerbricht. Er springt hoch und bewegt den Tisch so, dass auch noch eine weitere Tasse Kaffee auf dem Tisch umkippt. Eine ganze Weile schockiert das laute Bing-Bong- Bong-Geräusch das gesamte Café. Die junge Sängerin singt das Lied „Eine Liebe der Vergangenheit“. Sie hat vor Schreck den Mund geschlossen. Die Kellner schauen alle her. Arthur ignoriert das alles. Er schreit Sybil laut und gereizt an:

„Halt den Mund! Mir reicht es mit dir! Ich bin nicht verpflichtet, mich immer wieder von dir beurteilen zu lassen. Ich werde deine Fragen nicht mehr beantworten1 Denk doch was du willst, denk doch was du willst! Ich werde nichts mehr sagen! Du wirst kein weiteres Wort aus meinem Mund kriegen. Glaubst du, ich bin ein Mörder oder ein Henker oder ein Teufel? Ich werde dir nichts erklären ...“

„Arthur“, schreit sie und stoppt sein Schreien und Brüllen, „musst du alle Leute alarmieren? Wenn wir uns anschreien wollen, gehen wir am besten raus und schreien uns da an!“

Diese Sätze bringen Arthur wieder zu sich, er zieht den Kopf ein und geht zum Tresen um die Rechnung zu bezahlen. Sybil folgt ihm in die dunkle Nacht. Der Mond ist so hell wie Wasser. Sybil sieht auf Arthurs Rücken und sein Rücken ist gerade und strahlt eine solche Arroganz aus, dass ihr das Herz bricht und dieser Herzschmerz sie wütend macht Mit zusammen gebissenen Zähnen sagt sie:

„Arthur, du brauchst mich nicht anzubrüllen, und du musst auch nicht die Fassung verlieren, weil ich mich bereits entschieden habe.“

Er bleibt plötzlich stehen, direkt unter einer Straßenlaterne, dreht den Kopf zu ihr, sieht sie entsetzt an und stellt ihr verunsichert die Frage:

„Was hast du entschieden?“
„Ich werde dich verlassen! Ich werde in kürzester Zeit nach Großbritannien zurückfliegen!“

Er kann nicht sprechen und schaut sie eine Weile mürrisch an als könnte er nicht verstehen, was sie gesagt hat.

„Du musst dir nicht mehr den Kopf zerbrechen und dir keine Sorgen mehr machen“, fährt sie fort. Ihre Stimme ist wie das Echo in einem leeren Tal, kalt mit großer Reichweite. Ihre Augen ruhen auf seinem Gesicht. Seine Augen sind neblig, tief und unberechenbar... darin ist aber auch eine unerklärliche Angst und Panik.

„Ich werde dich um nichts fragen! Ich werde dich auch nicht wieder verurteilen! Weil ich Angst habe, Angst vor vielen Dingen, ich habe keinen Mut mehr weiter zu forschen! Ich habe nicht den Mut, mich der Wahrheit zu stellen die herausgefunden werden kann! Ich bin feige, feige und klein! Ich bin entschlossen, ein Deserteur zu sein! Ich gebe auf! Ich laufe vor dir weg! Ich lasse dich los! Ich will weit weg gehen! Ich lasse deine Welt weit weg von mir! Bist du erleichtert? Bist du zufrieden?“

Er beobachtet sie. Sie steht unter einer Straßenlaterne, deren Licht und das Mondlicht zeichnen sich auf ihrem Gesicht, ihren Armen und ihrem Körper ab. Sie trägt eine elegante weiße Baumwollrobe mit ausladenden Ärmeln. Die Abendbrise hebt die Ärmel hoch und enthüllt ihre kleinen gut geformten Arme. Die Magerkeit und der Gewichtsverlust nach ihrer Krankheit, von der sie sich gerade erholt hat, tragen zu ihrem Charme und ihrer Zartheit bei. Wirklich, sie ist so schön wie ein Gedicht, so schön wie ein Gemälde, so schön wie ein Stückchen einer weißen Wolke. Und die elenden, hilflosen, traurigen Augen sind herzzerreißend. Er kämpft mit seinen komplexen Emotionen.

„Entschuldige, Sybil“, sagt er heiser: „ich habe dich nicht mehrere Tage gesucht - und es war nicht leicht dich zu finden - um mit dir zu streiten ...“

„Ich will auch nicht mit dir streiten“, sagt sie mit bejahendem und festen Ton: „Ich habe entschieden, nach England zurückzukehren.“

Er holt tief Luft und hält sich am Mast der Straßenlaterne fest.

„Verwende das Wort Entscheidung nicht leichtfertig!“ flüstert er und sieht ein wenig verwirrt und schwach aus auf dem Hintergrund seiner Begeisterung.

„Das habe ich nicht leichtfertig benutzt. Das wurde nach langer, langer Überlegung entschieden.“ Sie flüstert auch.

„Nicht enttäuscht! Das ist sehr vernünftig!“ E sieht sie eindringlich an.
„Das lässt sich nicht ändern?“
Sie schüttelt den Kopf.

Er atmet wieder tief ein richtet sich plötzlich auf, eilt zu seinem am Straßenrand geparkten Auto und sagt laut:

„Okay! Es sieht so aus, als hätte ich nicht die Macht eine wandernde Wildgans zu halten. Du bist glücklich, deine Wanderung fortzusetzen. Was soll ich dazu sagen? Komm schon!“ Er ordnet an: „Zuerst bringe ich dich nach Hause!“

Sie geht zwei Schritte zurück.
„Ich will noch nicht nach Hause. Geh du zu dir, ich gehe zu mir!“ Er packt sie am Handgelenk und sieht sie grimmig an.

„Bist du gehorsam?“ knurrt er wütend: „Um zufrieden zu sein, muss man schon wieder krank sein, oder? Siehst du wie dünn du aussiehst? Du siehst doch, du bist blass wie ein Geist! Du steigst ins Auto ein!“ Er öffnet die Tür und wirft sie ins Auto. Dann schließt er die Tür mit einem Knall und steigt von der anderen Seite in das Auto ein. Er startet den Motor.

„Du gehst nach Hause und schläfst gut. Dein müdes, dein krankes Gesicht, die dünnen Knochen am ganzen Körper ....“ Das Auto hat gequietscht und er dreht sich wieder um und betrachtet sie von neuem.

„Du lieber Himmel!“ ruft er: „Geh zurück nach Großbritannien! Verschwinde hier doch! Sonst werde ich noch von dir noch hingerichtet!“

 

 

13. Episode

 

Arthur steht in seinem großen Büro, der Kopf ans Fenster gelehnt und schaut auf den geschäftigen Verkehr vor dem Fenster und die strahlende Sonne. Er ist benommen und verwirrt, durcheinander in diesem Widerspruch und diesen Verwirrungen. Er kann seine Gedanken nicht fassen, er spürt nur, dass jeder Nerv wie eine gespannte Schnur ist und jeden Moment reißen könnte. Jede Zelle ist wie ein aufgeblasener Ballon, der jederzeit platzen kann. Er streicht sich mit der Hand über die Stirn. Obwohl es erst Mai ist, obwohl die Klimaanlage im Büro eingeschaltet ist schwitzt er immer noch. Er geht im Zimmer auf und ab und kann gar nicht aufhören. Der Tisch ist voll belegt mit geschäftlichen Angelegenheiten, aber er sieht es nicht einmal. Er geht von einem Ende des Zimmers zum anderen Ende und schaut ab und zu zum Telefon. Er will telefonieren und schaut auf die Uhr. Es ist erst zehn Uhr morgens. Sie sollte mehr schlafen dürfen, solange, bis sie genug Schlaf bekommen hat oder bereit ist, mit ihm einmal zu sprechen. Einmal zu sprechen? Was kann er noch mit ihr bereden? Jedes Gespräch muss früher oder später in Streit und Schmerz enden. Du lieber Himmel, wie lange wird diese Situation noch andauern? Wie lange noch? Wie lange noch?

Jemand klopft an die Tür, instinktiv geht er die alten Schritte ab, Julia Holt, seine Sekretärin, stößt die Tür auf und tritt ein mit einem weiteren fertigen Dossier und einer Reihe von Berichten. Sie lächelt:

„Der Redakteur fragt, ob sie mit dem Plan für das neue Buch dieses Monats zufrieden sind? Die Vertriebsabteilung teilt ihnen mit, dass Ihnen der Verteilungs-Fragebogen vor zwei Monaten ausgehändigt wurde. Sie fragt Sie, ob sie diese kleinen Bereiche aufgeben möchten? Die Drucker sagen, dass der Papierpreis gestiegen ist. Die neue Preisliste liegt auf Ihrem Schreibtisch. Sie müssen überprüfen und entscheiden, ob Sie den Preis des Buches anpassen oder verwenden möchten? Diesen Monat sollen bis zu elf Bücher neu aufgelegt werden. Werden sie komplett aufgelegt ...“

„Julia Holt!“ Er seufzt und sagt: „Legen Sie die Sachen auf den Tisch. Ich sehe sie mir später an und entscheide dann!“

„Herr Wang, auf dem Tisch liegt schon ein großer Stapel! Sie könnten es mir schnell sagen und ich schreibe es blitzschnell auf und lasse es ihnen sofort zukommen?“ sagt Julia Holt freundlich lächelnd während sie das Notizbuch ausbreitet. „Lassen Sie uns eins nach dem anderen besprechen, ja?“

„Julia Holt“, sagt er geduldig und runzelt die Stirn, doch plötzlich sagt er aufbrausend: „Sie können jede Abteilung selbst entscheiden lassen, es kann doch nicht sein, dass ich bei jeder großen und kleinen Angelegenheit gefragt werde!“

Julia Holt sieht ihn an und ihr Lächeln verschwindet. Leise zieht sie sich zur Tür des Raumes zurück und sagt kühn und unverblümt:

„Können Sie den Entscheidungen der Abteilungen vertrauen? Wenn sie denen vertrauen, dann lassen sie die entscheiden, aber verlieren sie nicht die Beherrschung wenn die Welt im Chaos versinkt!“

„Ok, dann kommen Sie zurück! Kommen Sie zurück!“ Er gibt nach und sagt. „Lassen sie uns diese Rückstände im offiziellen Geschäft loswerden!“

Über Julia Holts rundes Gesicht huscht ein Lächeln und sie hat sich schnell wieder über den Tisch gebeugt und das Notizbuch auf den Tisch gelegt als sein persönliches Telefon klingelt. Arthur dreht sich blitzschnell um und eilt zum Tisch um nach dem Telefon zu greifen. Er schnappt sich das Telefon, sagt „Hallo“ und aus dem Telefon kommt Sybils Stimme:

„Ich bin gerade zur Fluggesellschaft gegangen um das Flugticket zu kaufen ...“

„Was?“ schreit er. Er schreit so, dass der ganze Raum bebt. Er brüllt so, dass sie neben ihm hochspringt, der Stenoblock aus ihrer Hand und zu Boden fällt. Ängstlich und zusammenhangslos schreit er in den Hörer hinein:

„Sybil, du musst dich beruhigen, mach keinen Unsinn, hör auf mich ... Wo bist du jetzt? Wir treffen uns persönlich! Sybil! Sybil! Hörst du mich, du darfst nicht auflegen. Wage es nicht aufzulegen, ich suche dich verzweifelt! Ich bedrohe dich nicht. Ich bin nur ängstlich, hörst du, was ich sage, Sybil ----“ bellt er, „Für wann hast du den Flug gekauft? Morgen? Du bist verrückt! Du ...“ Auf der anderen Seite schließt sich alles mit einem Klick. Er starrt benommen auf die Hörmuschel. Dann lässt er den Hörer fallen, dreht sich um und schnappt sich die Anzugjacke von der Stuhllehne und eilt aus dem Haus. Julia Holt seufzt, steht auf und sagt:

„Ich denke, diese offiziellen Angelegenheiten werden in zwei Tagen erledigt sein!“

Arthur hat keine Zeit, ihr es zu erklären. Er stürmt direkt zur Tür, will sie gerade öffnen, da öffnet sie sich unerwartet von außen und er wäre fast in einen Mann mit voll beladenen Armen gelaufen. Er bleibt still stehen bevor er sieht, dass es tatsächlich Robert ist der eintritt! Robert stürzt herein, sein Hemd ist schweißnass und die Haare auf seiner Stirn sind schweißdurchtränkt und hängen feucht da. Sein keuchendes Gesicht ist blau und unsicher, es scheint, dass etwas Ernsthaftes, etwas über Leben und Tod Entscheidendes, passiert ist. Arthur ist von seinem Anblick erschrocken und fragt erstaunt:

„Viert-Geborener! Was hast du? Wirst du von Gangstern verfolgt? Hattest du einen Kampf? Wurdest du von der Schule verwiesen?“

„Nein! Nein! Robert schüttelt den Kopf und lässt sich aufs Sofa fallen. Als Arthur sich wieder beruhigt hat, fällt ihm seine eigene Dringlichkeit wieder ein. Er klopft Robert auf die Schulter und sagt:

„Ich habe eine dringende Angelegenheit, ich muss gleich los. Warte du hier auf mich. Wenn ich wiederkomme, reden wir über alles.“

Robert packt Arthurs Hand am Handgelenk und beginnt laut zu brüllen:
„Großer Bruder, auch wenn der Himmel fällt, darfst du nicht gehen! Du musst mir helfen das Problem zu lösen. Ich bin fertig, am Ende!“

„Du bist fertig? Wie, am Ende?“ Arthur ist wieder erschrocken.

„Ich werde vom Gebäude springen!“ scheint Robert der Welt plötzlich in einem allgemeinen Gebrüll zu verkünden. Jetzt ist nicht nur das ganze Büro außerhalb Arthurs Zimmer in Aufruhr. Diese intelligente Frau Julia Holt hält ihre Augen weit offen. Als Arthur sieht, dass die Situation nicht gut ist, berührt er Roberts Stirn, die nicht heiß ist, sondern da ist kalter Schweiß. Er sieht ihn sich genauer an. Seine Augen sehen ihn direkt an, sein Gesicht ist blau, er ist kurzatmig, seine Lippen sind weiß. Er sagt zu Julia Holt:

„Hol Eiswasser!“ Dann denkt er, dass Eiswasser nutzlos ist und befiehlt hastig: „Ich habe Wein im Regal, gieß’ erst mir davon ein Glas Wein ein!“

Julia eilt zum Bücherregal und kommt mit einem gefüllten Glas zurück. Arthur hält Roberts Kopf und befiehlt: „Nimm erst einen Schluck, du wirst gleich ohnmächtig.“

Robert nimmt einen großen Schluck Wein. Er nimmt einen Schluck und muss sofort husten. Arthur zwinkert Julia Holt zu. Sie verlässt sofort den Raum und schließt die Tür. Arthur schließt die Tür ab und geht wieder zu Robert. Er mustert seinen kleinen Bruder aufmerksam und hält ihm das Weinglas an die Lippen: „Trink noch einen Schluck!“ Robert trinkt noch einen Schluck, holt tief Luft und erholt sich ein wenig. Arthur sitzt ihm geduldig gegenüber, er nimmt dessen Hand und sagt: „OK, Viertes Kind, erzähl mir, was du angestellt hast! Solange du kein Mörder oder Brandstifter bist, kann ich alles wieder in Ordnung bringen. Also sag es!“

„Ich habe keine Probleme gemacht.“ Er spricht kaum hörbar, „Ich habe keine Probleme gemacht und kein Unglück verursacht.“

„Also, was ist denn dann überhaupt los?“
„Es ist Flora ...“ Er schließt die Augen: „Flora ...“
„Sie hatte einen Unfall?“ fragt er. „Was hat sie Böses getan? Oder du und sie ...“

„Nein! Nein!“ schreit Robert. Er kann sich nicht kontrollieren. „Hör auf zu raten. Ich und Flora haben überhaupt nichts gemacht.“

„Dann sag jetzt was ist los?“ fragt Arthur ungeduldig. Er denkt wieder an Sybil. Sybil und ihr Flugticket.

„Flora ist weg!“ sagt Robert jammernd. „Sie ist weg! Ohne einen Ton zu sagen!“ „Weg?“ Arthur versteht nichts und fragt: „Wohin ist sie gegangen?“

„Das ist es ja, ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist!“ Robert spricht wieder sehr laut, die blauen Adern auf seiner Stirn pochen heftig. „Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht zu dir gekommen. Wenn ich das wüsste, wäre ich schon längst hinter ihr her. Wenn ich ...“

„Ok, Viertes Kind“, Arthur holt tief Luft, schüttelt den Kopf und sagt verständnisvoll:

„Ihr habt euch gestritten, peinlich, und sie ist ohne einen Ton gegangen. Stimmt’s? Viertes Kind, du bist zu empfindsam. Das ist der übliche Trick eines Mädchens. Du kannst wirklich nicht darauf bedacht sein, so zu reagieren. Aufgrund deiner Angst habe ich das Gefühl, dass die Situation ernst ist. Du hast gesagt, dass du es nicht ernst mit ihr meinst oder dass ich Flora nicht kennenlernen müsste. Aber jetzt scheint es, als hättest du nicht nur die Wahrheit erkannt, sondern es auch ernst gemeint und verwirrt bist...“

„Großer Bruder!“ schreit Robert genervt: „Kann ich mal deutlich erkläre, was ich sagen will? Kannst du nicht mal einen Augenblick warten, bis ich das Problem genau geschildet habe?“

„Sag es!“
„Flora ist verschwunden!“
Arthur steht auf und schenkt sich ein Glas Wein ein.

„Das hast du schon einmal gesagt!“ sagt er geduldig, wirft einen Blick aufs Telefon und fragt sich wo Sybil jetzt ist.

„Das habe ich schon einmal gesagt, aber du hast es nicht wirklich begriffen. Sie ist plötzlich verschwunden und nicht nur sie, sondern auch ihre Oma und Kleiner Schneeball sind verschwunden. Sie sind nicht mehr da und ihr Haus ist total sauber. Es stellt sich heraus, dass die Möbel dem Vermieter gehören. Der Fernseher, der Kühlschrank ... alles gehört dem Vermieter. Sie haben gestern gekündigt und heute sind alle weg!“

„Was?“ Arthurs Aufmerksamkeit ist geweckt. „Du sagst, die ganze Familie ist weg?“

„Ja! Die ganze Familie. Sie sind ja nur Flora und ihre Oma, Kleiner Schneeball zählt ja nicht. Sie sind plötzlich verschwunden! Die Nachbarn und niemand weiß, wohin sie gegangen sind?“

Arthur starrt Robert an.
„Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?“
„Vorgestern Morgen. Wir sind vom Fischereiboot um ungefähr ...“ „Vom Fischereiboot?“ Arthur ist überrascht.

„Ja, wir sind mit einem Fischerboot aufs Meer raus gefahren. Wir haben vom Bug des Schiffes aus Sterne beobachtet, den Mond, das Meer und Angelfeuer. Sie hat geredet und gelacht und sieht gern den Fischern beim Fischfang zu. Sie liebt das Meer. Wir haben viel, so viel geredet ... Dann hat sie geweint. Sie hat gesagt, ich solle sie nicht hassen. Warum sollte ich sie hassen? ... Oh du meine Güte!“ Plötzlich legt er den Kopf in seine Handflächen und ruft: „Da hatte sie schon die Absicht mich zu verlassen! Sie wusste, dass sie mich verlassen wird! Und ich bin ein Narr! Aber, warum?“ Er springt hoch, tritt gegen das Sofa, tritt gegen die Wand, tritt gegen den Tisch. Er reißt den Mund auf und schreit: „Warum? Warum? Warum? Ich habe sie nicht beleidig! Ich habe mich nicht über sie lustig gemacht! Ich habe nichts falsch gemacht! Ich habe noch nie ein Mädchen so angefleht wie sie! Wenn sie Mondschein wollte, bin ich losgelaufen und habe unter dem Himmel Mondschein gesucht! Warum hat sie mich verlassen? Warum musste die ganze Familie wegziehen? Sie ...“

„Vierter!“ schreit Arthur, sein Blick ist würdevoll und die Augen sind scharf. In seiner Stimme liegt eine große Kraft. Sie beruhigt unbewusst Roberts Aufregung: „Spring nicht im Zimmer herum und setz dich erst mal hin!“

Robert kann nicht anders als sich hinzusetzen. Nervös knabbert er an seinen Fingernägeln und genau so nervös zieht er an seinen Haaren.

„Ich habe dir noch nie aufmerksam zugehört, wenn du von Flora erzählt hast. Erzähl mal“, Arthurs Stimme ist noch tiefer und noch ernster und voller Angst und Bestürzung.

„Wie ist sie so? Wie alt ist sie? Wie kleidet sie sich? Aus welcher Gegend kommt sie?“

„Sie ... sie ist auf jeden Fall sehr hübsch!“ sagt Robert irritiert, „ Ihr Aussehen ist dir doch egal ...“

„Das muss ich auch wissen!“ sagt Arthur ernst. „Sag es mir!“

„Sie hat ein melonenförmiges Gesicht, große Augen, ein spitzes Kinn ...“ sagt Robert unwillig. „Einen dichten kurzen Haarschopf, der wild durcheinander ist, trägt immer Pullover oder Hemden, trägt immer Jeans und Stiefel. Sie sagt von sich selbst, sie sei 19 Jahre alt, ich denke aber, sie kann nicht älter als 17 sein. Sie ist sehr unartig, liebt es zu lachen, liebt es verrückt zu sein, sie lügt gern, aber das ist nicht alles. Sie singt gern. aber sie erinnert sich nie an den Text und erfindet sich ein Durcheinander selber! Sie ist aus Tai Chung hergezogen. Warum sie umgezogen ist, weiß ich nicht. Sie hat das Problem immer mit sich selbst zu sprechen. Jedes Mal flüstert sie dem Kleinen Schneeball leise ins Ohr; was Hikabala-Affen bewegt ... und so ...“

„Das ist genug.“ Arthur macht eine Stopp-Geste. Sein Gesicht ist entspannt. Es scheint frei von Angst zu sein. Sein Geist ist erfrischt, seine Augen leuchten wieder.

„Du musst nicht weiter aufzählen“, sagt er: „Sie sind umgezogen. Sehr wahrscheinlich wegen ihrer Familie in Tai Chong. Irgendetwas ist ganz plötzlich passiert. Ich glaube, du musst dich nicht beunruhigen. Vermutlich bekommst du schon übermorgen einen Brief von ihr oder eine Nachricht ...“

„Ich glaube, du hast nicht verstanden, was ich von Anfang an meinte!“ Robert brüllt wieder, sein Gesicht ist rot und weiß und seine Atmung angespannt und schnell. „Sie ist weg! Verstehst du?“ Schreit er: „Sie will mich nicht sehen, verstehst du? Sie will mich nie wieder sehen, verstehst du?“

„Das verstehe ich nicht“, sagt Arthur verwirrt: „Wie, sehen?“

„Guck dir dies an!“ Er zieht einen Zettel aus der Tasche und gibt ihn Arthur. „Das habe ich heute Morgen in meinem Briefkasten gefunden!“

Arthur nimmt den Zettel, faltet ihn auf. Es ist ein ganz normales weißes Briefpapier. Sobald Arthurs Augen auf die elegante Schrift auf dem Briefkopf treffen, hüpft sein Herz und der ganze Mensch scheint in einen Eiskeller zu versinken. Schnell, gierig und eifrig verschluckt er sich fast und kann es kaum erwarten den Inhalt zu lesen.

„Robert,

ich verlasse dich. Du wirst mich nie mehr wiedersehen, weil ich von diesem Planeten verschwinden werde, um mich auf einem anderen Planeten zu regenerieren. Wenn ich mich überhaupt regenerieren kann.

Du hast mir persönlich geschworen, dass du mich nicht hassen wirst. Also, verzeih mir bitte. Verzeih mir, dass ich mir einen großen Scherz erlaubt habe. Robert, hör mir zu, ich bin nicht das einfache kleine glückliche Mädchen, das du dir vorgestellt hast. Ich bin eine Konoha, eine Holzblattschnecke, deren Körper seit langem mit Schutzfarbe bedeckt ist. Nein, ich bin mehr als nur eine Konoha, ich bin auch ein Stück Filzmoos. Weißt du was Filzmoos ist? Das ist eine bunte Pflanze, die schöne Nadel-Tentakel hat. Wenn sie in voller Blüte steht, ist sie eine Blumentraube wie ein Feuerwerk. Aber ihre Tentakel sind giftig. Solange Insekten versucht sind sie zu besiedeln, fängt sie diese sofort und frisst sie.

Robert, verstehst du? Ich bin so eine Pflanze. Gefährlich, böse und schrecklich. Lass dich nicht von meinem Aussehen verführen. Mein Aussehen ist gefälscht. Es ist heuchlerisch. Es hat nur ein bisschen gefehlt und du wärst zu einem Filzfänger geworden.

Von Anfang an habe ich dir gesagt, du sollst es nicht ernst mit mir meinen. Ich glaube, dass es meinen Gott nicht gibt. Du bist ein weiterer junger Mann, freundlich und außergewöhnlich. Hundertmal besser als ich erwartet hatte. Jung wie du bist, solltest du deine ideale Partnerin finden. Das bin auf keinen Fall ich. Weil, Robert, du hast mich niemals wirklich kennen gelernt! In was du dich verliebt hast, ist nur der Schatten von Nichts. Ein Charakter in einem Schloss am Himmel, ein Konoha Schmetterling mit Schutzfarbe!

Robert, du bist so jung, in deinem Alter vergisst man alle Sorgen mit der Zeit leicht. Wenn ich dir Sorgen hinterlassen habe, hoffe ich, dass sie wie eine Wolke davonschweben. Ich gehe, Robert, bitte glaube wenigstens eines, mein Weggehen ist, dich zu retten, nicht um dir weh zu tun. Ich bemitleide dich, statt dich zu hassen!

Zum Schluss bitte ich dich um eins: tu so, als hättest du Flora nie gekannt, betrachte dies wie einen Traum, einen absurden Traum. Die Welt ist wie zuvor, nur ohne Flora! Man muss nicht traurig sein über Dinge, die es nicht gibt, oder?

Ich gehe so weit, so weit, du wirst mich in diesem Leben nicht wiedersehen. Danke, dass du mir geholfen hast die Freude einzufangen. Danke, dass du mich an die Jugend erinnert hast. Ich werde dich niemals vergessen und dein hübsches „Schneckenhaus“. Ich hoffe, es wird nicht lange dauern, dann wird ein anderes Mädchen mit dir dein Schneckenhaus und die Cola unter deinem Bet teilen.

Ich gehe. Ich segne dich, segne dich tief! Mein junger kleiner Freund.

Viel Glück
wünscht dir die niemals existiert habende Flora“

Arthur hat diese Notiz in einem Rutsch gelesen. Sein Gesicht ist blasser als dieses Stück Papier. Sein Herz hört fast auf zu schlagen. Für einen Moment verliert er sogar seine Fähigkeit zu denken. Dann erfasst ihn eine Wut, die ihn fast erschreckt. Hinter seiner Wut steckt noch so viel Hoffnung. Nein, diese Sache ist falsch, diese Sache ist zu unmöglich. Das ist lächerlich! Zu lächerlich! Zu lächerlich! Er drückt den Zettel und seine Hand zittert. Sein Haar hängt schlaff vor seinen Augen. Die Venus scheint zu explodieren. Aber diese Handschrift, diese Worte, dieses‚Vokabular..... alles ist so vertraut. Erschreckend vertraut! Ist sie es? Ist sie es? Wie kann das sein? Warum sollte sie so etwas machen? Wie kann sie gleichzeitig an zwei Orten sein? Nein, denkt er vage. Nein, sie ist nie an zwei Orten gleichzeitig gewesen! Sie verschwindet oft, ihr Aufenthaltsort ist geheim. Jetzt verstehe ich! Jetzt verstehe ich! Warum ist sie hier? Warum? Jawohl! Rache! Dieses Wort blitzt in seinem Kopf auf. Sein Blut gefriert sofort zu Eis. Er beißt sich auf die Lippe und keucht. Plötzlich springt er auf und stürzt zur Tür des Schrankes und findet im Manuskriptschrank die Kopie des Manuskriptes vom „Schwarzen Engel“. Er überprüft die Handschrift immer wieder. Dann stöhnt er und setzt sich wie gelähmt auf den Teppich und umfasst seinen Kopf fest mit beiden Händen. Es besteht kein Zweifel, alles ist so offensichtlich! So grauenhaft! Was für eine Flora Xiao Shuang, eine Flora Xiao Shuang, die gar nicht existiert, eine Flora Xiao Shuang, die vier Jahre in England Schauspiel studiert hat!

Robert stürzt hinüber, seine Augen brennen vor Aufregung, sein ganzes Gesicht glüht.

„Großer Bruder! Du hast Flora schon getroffen? Du kennst Flora?“ Er greift nach dem Buch „Der schwarze Engel“. Hat sie dir geholfen das Manuskript zu schreiben? Ist sie eine Schriftstellerin? Kann sie tatsächlich schreiben? Das ist einfach --- ein Wunder! Sie ...“

Arthur schnappt sich die Kopie vom „Schwarzen Engel“ und sperrt es in den Manuskriptschrank. Er blickt zu Robert. Sein Gesicht ist bleich, seine Augen böse. Die Muskeln im ganzen Gesicht sind verdreht und verformt. Ja, gewalttätig! Grob, heiser und zitternd stellt er die Frage:

„Viertgeborener, bist du in Flora verliebt?“

„Großer Bruder“, Robert hat Angst vor Arthurs Blick. „Sollte ich sie nicht lieben? Was ist mit dir passiert?“

„Ich frage dich: hast du sie geliebt oder nicht geliebt?“ fragt er laut.

„Natürlich geliebt!“ platzt es aus ihm heraus.

„Wenn du sie verlieren wirst, was wirst du tun?“

„Sie verlieren“, Robert ist ratlos, er packt Arthurs Handgelenk, begierig sagt er:

„Nein, ich werde sie nicht verlieren, oder? Großer Bruder, du bist allmächtig. Hilfst du mir sie zu finden, ja?“

„Und wenn es auf der Welt gar nicht diesen Menschen Flora gibt?“ fragt Arthur scharf. „Was ist, wenn das nur deine Illusion ist?“

Robert bricht plötzlich zusammen, springt auf, umschlingt den Kopf mit seinen Händen, gibt Fußtritte im ganzen Zimmer, gegen den Tisch, tritt den Stuhl, tritt gegen den Schrank, gegen die Stehlampe, gegen das Sofa --- tritt gegen jedes Ding, das ihm in die Quere kommt. Er tritt und knurrt und schreit wütend:

„Warum sagt ihr alle, dass es solche eine Person nicht gibt? Könnte es sein, dass ich in den letzten Monaten wahnsinnig war? Sie und ich, wir haben zusammen gelacht, uns geärgert, gespielt, getanzt, gefischt und gesungen. Ich habe sie umarmt, geküsst --- Soll das alles nicht gewesen sein? Soll das alles Illusion gewesen sein?“

„Du hast sie umarmt? Du hast sie geküsst?“ Arthurs Stimme ist streng und jammernd wie die eines Tieres.

„Jawohl!“ Wie verrückt hat er das geschrien. „Ich habe mit ihr am Bug des Schiffes gesessen und das Fischfeuer beobachtet. Das war erst vor zwei Tagen. Sie hat in meinen Armen
gelegen und geschlafen. Ich habe sie in meine Jacke gewickelt. Bis jetzt spüre ich noch die Temperatur ihres Körpers in meinen Armen. Und du sagst tatsächlich, dass es einen solchen Menschen nicht gibt!“ Er hält seinen Kopf und schreit: „Wenn es diesen Menschen nicht gibt, wenn es Flora nicht gibt, sollte ich sofort in einer Irrenanstalt leben!“

Arthur steht auf und lehnt sich an die Wand, seine Kopf in Richtung Decke gerichtet, seine Augen sind rot und feucht. Er murmelt:

„Diese Heldin! Da kommt sie mit einem Schwarzen Engel. Sie hat das Kriegsbuch hinterlassen und ich habe mich nicht davor gehütet! Ich bin ein Narr! Narr Nummer Eins am Himmel! Sie hat eine Falle gestellt und wir sind - einer nach dem anderen – hineingesprungen! Ja, sie ist Filzmoos und wir sind die Insekten, die sie gefangen hat! Sie wird uns einspinnen, zerquetschen und verschlingen --- Oh, mein Gott!“ Er beißt die Zähne zusammen, er beißt die Zähne so zusammen, dass es knirscht.

„Wie konnte das im Leben passieren? Warum geschieht mir das?“

Robert hat bereits gegen alles im Haus getreten. Die Lampe hat er umgestoßen, den Couchtisch hat er an allen Ecken getreten und auch die Stühle --- dann steht er plötzlich vor Arthur und dann verlässt er das Zimmer mit großen Schritten.

 

 

14. Episode

 

Sybil packt den Koffer.
Sie hat die Kiste auf das Bett gestellt und alle Schränke geöffnet. Langsam faltet sie ihre Kleider nacheinander zusammen und legt sie in den Koffer. Sie macht es aufmerksam und sorgfältig, als wäre die wichtigste Sache der Welt ihre Kleidung sorgfältig zusammenzulegen. Sie hat ein trauriges Gesicht. Sie ist deprimiert. Sie hat das Gefühl, dass sie alle Emotionen verpackt, die zur Freude, zu schöner Erinnerungen und Zärtlichkeit gehören. Aber diese Kiste kann gegen Wasser versiegelt werden. Sie denkt, dass sie ihre Hände nicht frei nutzen kann. Jedes Kleidungsstück ist so schwer wie tausend Katzen, sie kann sie nicht hochheben und dann ablegen. Dann nimmt sie ein Kleidungsstück und setzt sich auf die Bettkante. Wie besessen und kläglich beginnt sie benommen auf die Kleidung zu starren. Da ist der schwarze Samtmantel, darin hat sie Arthur zum ersten Mal besucht und diesen Umhang getragen. Es ist noch Winter, das Wetter ist düster und regnerisch. Jetzt ist ihr Herz düster und regnerisch.
So sitzt sie da. Wie in Trance denkt sie an alles. Von der Vergangenheit in die Zukunft, von England nach Taiwan. Oh, sie hat die schlimmsten Szenen gespielt! Sie hat viele Rollen gespielt!
Sie denkt, dass sie das gekonnt geschafft hat, sie denkt, dass sie Entschlossenheit hat, sie denkt, dass sie schlau ist. Aber sie hat jede Rolle schlecht gespielt. Es ist nicht gut, wenn sie scheitert. Hat sie sich in den Rollen verloren, die sie gespielt hat? Sie drückt das Kleid, der Samt ist so glatt, so weich, so weich... Sie senkt den Kopf und vergräbt ihre Wangen in den Kleidern.

Ist es so gegangen? kann sie diesen Ort einfach so verlassen? Was soll sie tun? Die Wildgans fragen, woher sie kommt? Die Wildgans fragen, warum sie fliegt? Die Wildgans fragen, ob sie bleiben möchte. Die Wildgans fragen, ob sie ein Paar sein möchte? Ihr klarer Verstand ist plötzlich durcheinander. Sorge und Schmerz fliegen auf sie zu, ihre Augen werden plötzlich heiß. Ja, die wandernde Wildgans hat keine Heimatstadt, los geht’s! Zögere nicht zu gehen! Ich kann so nicht mehr weitermachen. Ich kann nicht mehr bleiben, alle Rollen sind ausgespielt und zerschlagen, sie kann nur noch wegfliegen, weit, weit wegfliegen, zu einem anderen Planeten!

Ein schrilles Klingeln an der Tür unterbricht ihre Gedanken, ihr trauriges Abwägen. Sie steht auf, wirft die Kleidung aufs Bett und geht zur Tür. Sie öffnet, unvorbereitet auf das was da kommt.

Arthur fegt wie ein Wirbelsturm herein. In der Hand hält er eine Tasche. Er hat ein grimmiges Gesicht, wilde Augen und er atmet hörbar. Er knallt die Tür hinter sich zu und stürzt direkt ins Wohnzimmer. Er sieht sich im Zimmer um. Seine Augenbrauen sind wild gerunzelt, seine Brust hebt und senkt sich vom schweren Atmen. Er atmet wie ein Blasebalg. Sybil sieht ihn schüchtern an. So grausam hat sie ihn noch nie gesehen.

„Arthur ---“, flüstert sie. „Du --- du, was machst du hier?“ fragt sie unsicher. Eine traurige Zärtlichkeit bewegt sich immer noch in ihrem Herzen, auch hoffnungsvolle Erwartung.

„Was ich mache?“ sagt er laut. Plötzlich steckt er die Hand in die Tasche, die Tasche fällt zu Boden. Es entsteht eine Pause. Fünf dicke Tagebücher fallen aus der Tasche auf den Boden. Seine Augen sind rot wie Flammen, spöttisch brüllt er:

„Es ist alles hier, Sybil! Hier sind alle Tagebücher der letzten fünf Jahre von Amanda und mir! Alles, was ich so hart versucht habe vor dir zu verbergen! Das sind alles Amandas Tagebücher, du kannst sie langsam und gründlich lesen und würdigen! Ich hoffe, dass du
nicht bereuen wirst, dass du sie gelesen hast! Herzlichen Glückwunsch, Sybil, zu deinem Sieg! Du hast gewonnen! Du hast mich gezwungen alles aufzugeben! Jetzt ---“

Er packt ihr Handgelenk und zerrt sie ins Schlafzimmer. „Zieh dich um und folge mir!“

„Wohin gehe ich mit dir?“ ruft sie: „Du tust mir weh?“

„Es ist mir egal, ob es dir wehtut!“ brüllt Arthur und zieht sie plötzlich hart an den Haaren. Schockiert schreit sie vor Schmerzen auf. Ihr ist Kopf die ganze Zeit nach hinten gezogen. Dann lässt er ihre Haare los und sagt kalt:

„Es ist komisch, dass deine langen Haare echt sind und deine kurzen gefälscht!“ Er schlägt sie und sie fällt vor das Bett. Sie lehnt sich an die Bettkante und keucht.

„Steh auf!“ wie einen wilden Befehl schreit er es.

„ Du denkst, ich habe Amanda getötet? Lies diese Tagebücher! Lies diese Tagebücher aufmerksam! Du willst Rache, du denkst, du bist ein Racheengel! Nimm Rache! Du tötest mich, du rächst, zerstörst mich wie es dir gefällt! Aber wie kannst du es ertragen, mit einem Kind zu spielen?“ Seine Stimme wird immer lauter, immer bitterer, immer wütender: „Er ist erst zwanzig Jahre alt, weißt du? Er ist jünger als du, weißt du? Er hat nichts mit unserem Groll zu tun, weißt du? Er ist unschuldig und rein wie weißes Papier, weißt du? Warum provozierst du ihn? Warum tust du ihm weh? Wenn es mir für dich Leid tut, kannst du mich die Rechnung bezahlen lassen! Was ist falsch an ihm, wo er doch so jung ist?“

Sie hat sich ins Bett zurückgezogen, rollt sich unwillkürlich zusammen, hebt den Kopf und begegnet seinem Blick. Plötzlich kehrt ihr Mut zurück. Sie schüttelt den Kopf, ihre Haare fallen wieder auf ihre Wangen und sie sagt: „Seine Schuld ist es dein Bruder zu sein!“

„Mein Bruder!“ schreit er: „Was hat er mit meinen Angelegenheiten zu tun? Er hat Amanda nie gesehen! Er hat Amanda nie kennengelernt! Ist er verantwortlich für ihren Tod?“

„Du hast meine Schwester verletzt“, sie beginnt sich zu beruhigen, fordert ihn instinktiv heraus, fängt an, sich und ihre Realität zu verteidigen. Sie zieht ihre dünnen Schultern hoch und sagt klar und deutlich:

„Der einzige Weg, wie ich mich an dir rächen kann, ist nicht nur dich zu verletzen, sondern auch deinen Bruder!“

„Was für eine Teufelsphilosophie ist das denn?“ er schreit nah an ihrem Kopf und die Lautstärke lässt fast ihr Trommelfell taub werden.

„Es ist die Philosophie des Teufels!“ In ihrer Stimme liegt eine Woge. Sie hebt stolz den Kopf. Sie hat Tränen in den Augen, aber auf ihren Lippen liegt ein triumphierendes schwaches Lächeln.

„Dein Herz ist gebrochen? Du hast Schmerzen? Der Schmerz deines Bruders ist schmerzhafter, als wenn du selbst verletzt worden wärst, oder? Dann solltest du wissen, wie viel Schmerz ich ertragen habe! Dein Bruder lebt immerhin noch, meine Schwester aber ist tot.“

„Ich habe deine Schwester nicht getötet!“ brüllt er außer sich. „Du Närrin! Du Verrückte! Du unglaublicher Bastard! Du hast deine Schwester getötet! Deine verdammte aristokratische Schule! Deine verdammten Lebenshaltungskosten! Zweitausend Pfund pro Semester! Deine Schwester konnte sich nicht einmal selbst ernähren, wie kann sie sich zweitausend Pfund für ein Semester leisten! Sich rächen! Du willst dich rächen! Du selbst hast sie ins Feuer gestoßen! Du warst es selber, die sie in die Hölle des Unwiederbringlichen gestoßen hat! Du hast sie ins Verderben getrieben! Nimm Rache! Nimm du nur Rache! Räche dich ...“

Sie macht Schritte zurück, bis das Bett sie blockiert. Sie kann sich nicht mehr bewegen. Ihre Augen weiten sich. Sie sieht ihn entsetzt an und öffnete den Mund, aber kein Laut kommt heraus. Horror und Schock! Sie beginnt zu zittern, sodass das ganze Bett bebt. Sie schüttelte den Kopf schmerzerfüllt. Flehentlich schüttelte sie den Kopf und es dauert lange bevor sie mit sterbender Stimme in schüchternem Tone haucht:

„Nein. Arthur, nicht ich! Sag das nicht, du darfst nicht eine so schwere Anklage gegen mich erheben, nur weil ich deinen Bruder verletzt habe. Nein, nein, so ist es nicht! Ich habe Amanda nicht umgebracht, das habe ich nicht!“

„Also, wie kannst du dann sagen, dass ich Amanda getötet habe?“ Er schreit weiter und ihr direkt ins Gesicht:

„Du weißt so wenig vom Leben! Du weißt nur ein wenig über Gefühle und die menschliche Natur und du willst für den Himmel handeln? Er hebt sie hoch, wie es ein Adler macht, der ein Huhn fängt. Dann lässt er sie schwer fallen. Sie fällt aufs Bett und rollt sich unwillkürlich zusammen wie eine Garnele. Er schreit nah an ihrem Kopf:

„Ich werde mit dir nicht über Amandas Tod streiten. Ich habe jedenfalls ein Tagebuch geführt. Dann kannst du selbst urteilen. Jetzt gehen wir! Steh auf! Sofort!“

„Du --- Du---:“ Sie gerät in Panik. Ihre Zähne schlagen aufeinander. In diesem Moment hat sie Angst vor ihm. Sie hat große Angst vor ihm. Sie fürchtet ihn aus tiefstem Herzen, aber sie ist auch beeindruckt.

„Was soll ich tun“, fragt sie zitternd.

„Du sollst dich in Flora verwandeln!“ Er brüllt wieder so, dass ihr Ohr taub ist. Er stöbert in der offenen Kiste herum, zieht jedes Kleidungsstück heraus und wirft es auf den Boden. Dann wählt er ein T-Shirt, eine halblange Jeans und wirft beides über sie.

„Los! Zieh das an! Zieh dich um! Und wo ist deine Perücke?“ Er beißt die Zähne zusammen und rennt nach nebenan um sie zu suchen: „Wo ist deine verdammte Perücke?“ fragt er wütend, genau wie Robert, wenn er vor Wut gegen das Fußende des Bettes tritt.

„Was ist mit deinen kurzen unordentlichen Haaren?“ Er nimmt ihren Arm und zieht sie hoch: „Lieg da nicht und spiel tot zu sein! Ich gebe dir zehn Minuten um dich in Flora zu verwandeln!“

„Du...“ Sie ist kraftlos. Er schleift ihren kraftlosen Körper herum. „Was willst du, das ich als Flora machen soll?“

„Geh und rette meinen Bruder!“ brüllt er wieder. Von seiner Stirn rollen Schweißperlen.

„Ich habe Robert versprochen zu Flora Kontakt aufzunehmen. Du musst sofort zu Flora werden! Du kommst hier nicht anders raus! Für dich muss das Schminken doch ganz einfach sein! Die neunzehnjährige Flora, die freche, freche Flora! Verändere dich in diese Vergangenheit! Und zwar sofort! Und dann gehst du mit mir mit!“

„Nein, nein!“ Sie schüttelt verzweifelt den Kopf und versteckt sich im Bett. „Nein, nein, das tu ich nicht! Das kann ich nicht! Nein, nein! Das mache ich nicht!“

„Das machst du nicht?“ Seine Augen sind blutrot. Wut verzerrt sein ganzes Gesicht. „Ich erlaube dir nicht aufzuhören! Steh auf!“

„Nein, nein!“ ruft sie weiter und verkriecht sich tiefer im Bett. „Ich gehe nicht! Ich werde auf keinen Fall gehen!“

„Du ----“ Er kann es nicht ertragen und hebt eine Hand, und seine Handfläche weist in die Richtung ihres Gesichtes. Sie dreht instinktiv den Kopf zur Seite und sein Schlag trifft ihre Schulter. Die Kraft des Schlages war so heftig, dass sie sich nicht im Bett halten kann und auf den Boden fällt. Er stürmt zu ihr, packt sie vom Boden und will wieder zuschlagen, aber da sieht er, dass an ihrem Mundwinkel Blut ist. Sein Griff wird schwächer und er wirft sie wieder aufs Bett und sagt: „Ich gebe dir zehn Minuten für deine Verwandlung!“

„Ich gehe nicht.“ flüstert sie. Tränen fallen aus ihren Augenwinkeln. „Du kannst mich totschlagen und trotzdem gehe ich nicht. Ich habe ihm gesagt, dass ich ein Konoha- Schmetterling bin, meine gefühlte Antwort. Ich ziehe mich mit ruhigem Gewissen zurück und lasse ihm einen Ausweg. Ich habe es nicht übertrieben. Ich habe ihm immer gesagt, dass er mich nicht ernst nehmen soll. Ich habe ihm gesagt, dass ich ein böses Mädchen bin. Ich bin nicht zu weit gegangen...“

„Du bist nicht zu weit gegangen? Du betörst ihn, du machst ihn kopflos, du machst, dass er nicht mehr weiß, wer er ist, du machst, dass er total durchdreht bis zur völligen Schlaflosigkeit! Du bist nicht zu weit gegangen? Er ist für dich fast vom Gebäude gesprungen, aber du bist nicht zu weit gegangen?“

Sie stöhnt auf und versteckt ihr Gesicht im Bett. „Ich wusste nicht, dass er so begeistert sein würde.“

„Das wusstest du nicht?“ schreit er und heiser schreit er weiter: „Wie kannst du das nicht wissen? Er ist jung und heißblütig! Wie könnte er deiner Versuchung widerstehen? Wie kann er all deinen Tricks standhalten? Du hast ihn geblendet, getäuscht! Wo ist dein verdammter Kleiner Schneeball? Wo hast du den versteckt? ...“

„Er ist bei meiner Großmutter?“

„Großmutter!“ Er brüllt wieder. „Seit wann hast du keine Großmutter mehr! Was bist du für eine? Kannst du zaubern? Wo hast du die Oma hergekriegt?“

„Sie ist eine halbblinde alte Dame...“ Sie stöhnt wieder. „Ich habe ihr Geld gegeben. Ich habe sie eingestellt, um mich glaubwürdig zu machen. Sie konnte sowieso nicht hören oder sehen. Kleinen Schneeball habe ich im Hundeladen gekauft. Den habe ich „Großmutter“ geschenkt.“

Er ist so wütend, seine Stimme zittert vor Wut. „Du bist unglaublich großartig: du hast alle Fallen nacheinander aufgestellt, nur um zuzusehen, wie wir beiden Brüder hineingesprungen sind! Du bist einfach toll! Einem Menschen mit deinem Charakter bin ich noch nie im Leben begegnet! Die melancholische und edle Sybil, die schelmische kleine Flora ----- Hahaha!“

Plötzlich sieht er zum Himmel und lächelt verzweifelt, bitter und trostlos.

„Amanda und ich haben dich auf die berühmteste Schauspielschule der Welt geschickt, um dich zu einer Schauspielerin von Weltklasse zu mache! Hahaha! Mit wie viel Mühe haben wir das Geld für deine Studiengebühren Münze für Münze zusammen gekratzt! Du hast am Ende etwas erreicht. Ich weiß nicht, ob Amanda das heute als deinen Erfolg ansähe.“ Er schreit und lacht und Tränen rinnen aus seinen Augen. Er dreht ihr den Rücken zu, legt seine Stirn gegen die Wand und keucht schwer.

„Ich habe dir viele Hinweise gegeben“, sagt sie noch schüchterner und verlegener: „du hast alles ignoriert. Ich habe dir den schwarzen Engel geschickt. Ich habe dir gesagt, dass ich Rache will. Du hast doch regelmäßig chinesische Literatur gelesen. Dieser Satz „Xiao Lai, die sich in Shuang Lin verfärbte“- Der frostige Wald morgens getrunken wird zum roten Ahornblatt.“

„Ach!“ schreit er wie verrückt: „Ich soll denken, dass Flora anders ausgesprochen Amanda bedeutet! Oh! Ich bin ein Narr! Ich bin ein großer Narr und Robert ist ein kleiner Narr und du bist schlau! Du kannst was! Du spielst uns Brüder gegeneinander aus ...“

„Aber ich habe aufgegeben und mich zurückgezogen.“ Sie spricht traurig und hilflos: „Ich habe meinen Kampf noch nicht beendet, oder? Morgen fliege ich nach England zurück. Das schenkt euch Brüdern wieder Frieden. Ich gehe und ihr werdet mich vergessen. Sag Robert einfach, dass Flora gestorben ist. Meine Schwester ist tot, er lebt noch, nicht wahr? Zwanzig Jahre alt ist ein sehr vergessliches Alter. Er wird Flora sehr schnell vergessen haben!“

„Unsinn!“ schreit er:„Bilde dir bloß nicht ein, dass du dich davonstehlen kannst! Bilde dir bloß nicht ein, dass du nach England zurückkehren kannst. Bilde dir bloß nicht ein, nach so vielen Unglücken einfach so gehen zu können! Ich werde dir nicht verzeihen! Ich werde dich nicht gehen lassen! Steh auf! Schmink dich! Dann gehst du mit mir zu Robert!“

„Das tue ich nicht!“ Sie versteckt sich wieder im Bett.
„Gehst du nun oder nicht?“ schreit er.
„Ich gehe nicht. Niemals werde ich gehen!“ Sie versteckt sich stur im Bett.
„Du musst gehen, auch wenn du nicht gehen willst. Nicht zu gehen ist keine Option!“ Er springt zu ihr rüber, zerrt sie vom Bett auf den Boden und schreit:

„Wenn du dich nicht umziehst, werde ich dich nackt ausziehen! Heute zwinge ich dich. Ich werde dich zwingen und zu ihm schleifen! Wenn du dich nicht anziehst, werde ich dich anziehen!“

Sie kämpft, versucht seinem Griff zu entkommen, verdreht ihren Körper und schreit:
„Ich will nicht! Arthur! Lass mich los! Zwing mich nicht zu gehen! Bitte zwing mich nicht zu gehen! Ich gehe heute, was soll ich morgen machen? Soll ich für den Rest meines Lebens so tun als sei ich Flora?“

„Ein ganzes Leben sollst du so tun als seist du Flora!“ brüllt er und hält sie verzweifelt fest, zerrt sie und mit einem Knall zerreißt die Kleidung über ihrer Brust. Sie schreit schockiert auf und bedeckt ihre Brust mit ihren Händen. Tränen rollen herunter, explodieren geradezu auf ihrem Gesicht. Weinend schreit sie:

„Ja, ich ziehe mich an und komme mit dir!“

Er springt vom Bett hoch. Bei dem Ausdruck von “Ich komme mit“ ist ihr Gesicht voller Tränen, Schweiß und Blutflecken, tränendurchtränkt und alles klebt an ihren Wangen. In ihren Augen flackert eine Flamme Verrücktheit, ihre Zähne beißen die Lippen zusammen. Blut fließt auf die untere Hälfte ihres Gesichtes. Um jeden Verdacht auszuräumen zieht sie sofort ihr T-Shirt aus und ein Hemd an, dann zieht sie ihren Rock aus, eine Jeans an und zieht den Reißverschluss hoch. Sie hebt den Kopf. Ihr Gesicht ist gewalttätig und grausam. Sie schreit mit einer Art finsterer, trauriger, hemmungsloser Wut:

„ OK! Ich komme mit dir! Von jetzt an bin ich Flora, die Freundin deines Bruders! Rühr mich nicht an! Mit der Frau eines Freundes spielt man nicht rum und mit der Freundin des Bruders etwa? Ich muss dir ein paar Worte sagen bevor ich mit dir den Raum verlasse! Weißt du, warum ich nach England zurückkehren will? Weißt du, warum ich fliehe? Weißt du warum Flora verschwinden muss? Weißt du, warum ich darauf bestehe nicht mit dir zusammen Robert zu sehen?

Weißt du, warum ich die Todesursache meiner Schwester nicht weiter verfolge? Weißt du, warum ich meine langfristige Rache aufgegeben habe? Weil, weil - - - ich mich in dich verliebt habe!“ brüllt sie unter Tränen. „Ich bin in dich verliebt! Ich bin unverbesserlich in dich verliebt! Du bist der Mann, der Amanda getötet hat und ich liebe dich! Du bist mein Feind und ich liebe dich dennoch! Ich fürchte, ich kann ohne dich nicht mehr leben, du fehlst mir, ich liebe dich! Liebe dich! Liebe dich! Ich liebe dich so sehr, dass ich Angst vor mir selbst habe, so sehr, dass ich es nicht ertragen kann - - - dich zu verletzen. Ich bin die schlechteste Schauspielerin der Welt, denn ich habe meine Rollen nicht durchgehalten! Wie

kann ein Schauspieler echte Emotionen empfinden? Aber ich wurde machtlos, weil ich mich
in dich verliebt habe! Ich habe verloren, ich kann mich nur zurückziehen, ich kann nur fliehen! Du Dummer! Du Narr1 Kannst du nicht erkennen was wahre Liebe ist? Ich habe verloren, verstehst du das nicht? Ich bin von weit her, von England geflogen gekommen, um gegen
dich zu kämpfen! Aber ich habe mich in meinen Feind verliebt! Ok!“ Sie schüttelt den Kopf, hebt das Kinn und lässt Tränen, Schweiß und Blut auf ihre Kleidung fallen. „Ich habe alles gesagt! Jetzt komme ich mit dir!“

Er ist fassungslos und stumm. Plötzlich ist er wie durch einen Zauberstab in einen steinernen Mann verwandelt, der sich nicht bewegen kann. Lange starrt er sie an, ohne einen Gedanken fassen zu können. In seinem Hinterkopf klingen immer wieder die Worte, die sie wie verrückt geschrien hat: „Ich liebe dich! Ich liebe dich“ Ich liebe dich!“ Dieser Satz ist, als hätten zehn Leute zehn Glocken geläutet und alle Glocken liefen zusammen zu einem lauten Knall: „Ich liebe dich! Ich liebe dich! Ich liebe dich!“ Aber plötzlich ist ihm, als würde eine Schüssel mit kaltem Wasser über seinen Kopf gegossen

Und eine kleine Stimme in seinem Herzen ruft rechtzeitig: „Kannst du ihr vertrauen? Bist du immer noch von ihr verzaubert? Wirst du wieder getäuscht?“ Er strahlt, er ist aufgewacht. Aufgewacht aus dem Traum, der beinahe eine Ekstase wieder eingefangen hätte. Er hebt den Kopf, kalt, eiskalt, misstrauisch sagt er: „Gibst du deinen auswendig gelernten Text zum besten? Was für bewegende Zeilen! Wenn du mich nicht so an der Nase herum geführt hättest, würde ich dir fast glauben! Du hast dich in mich verliebt? Wenn das wahr ist, hast du Pech gehabt. Denn ich werde nicht wieder von dir getäuscht, nie wieder werde ich von dir getäuscht. Du kannst deinen auswendig gelernten Text für dich behalten! Du bleibst hier und redest mit Robert!“

Ihr Körper zittert, sie scheint in Ohnmacht zu fallen, ihre marmorierten Wangen sind so durchsichtig. Sie hält sich an der Wand fest, um nicht ihr Gleichgewicht zu verlieren. Sie hebt ihr Kinn hoch, bemüht sich, den Rest ihres Stolzes aufrechtzuhalten. Sie nickt und sagt in einem fort:

„Ok, ok, ok, das war ein Bühnenauftritt. Jetzt bin ich mit meinem Text fertig. Das Spiel wird fortgesetzt. Ich bin deine Gefangene, ich gehe mit dir!“ Sie erhebt plötzlich ihre Stimme und sagt scharf: „Auf geht’s!“ Sie läuft ins Wohnzimmer voraus. Sie stößt gegen etwas, das sie ins Straucheln bringt, sie schwankt und fällt nach vorn. Instinktiv streckt er die Hände aus, um ihr zu helfen. Sie springt sofort weg und schreit: „Fass mich nicht an! Wie kannst du die Freundin deines Bruders anfassen? Ich bin Flora, du bist nicht berechtigt Flora anzufassen!“

Er starrt sie an. Sie beißt sich verzweifelt auf die Lippen. Die Mundwinkel sind voller Blut. Plötzlich ist er kurzatmig. Ihr Versuch, ihren Stolz zu bewahren, rührt ihn. Ihre wie verrückt gerufenen Sätze klingen wieder in seinen Ohren: „Ich liebe dich! Ich liebe dich! Ich liebe dich!“ Und wenn sie es ehrlich meint? Was ist, wenn sie es ernst meint? Sein Rücken ist kalt und auf seiner Stirn steht Schweiß. Er streckt ihr die Hand entgegen und schreit in Not und voller Widersprüche:

„Sybil!“

„Ich bin nicht Sybil!“ sagt sie kalt, der Ton klingt wie Eis und wie noch kälteres Eis voller Eissplitter und Frost. „Ich bin Flora!“

Er zittert von ihrem kalten Ton, er zittert vor ihren verletzten Augen. Was ist, wenn sie die Wahrheit gesagt hat? Was ist, wenn es die Wahrheit ist? Was ist, wenn es die Wahrheit ist? Dieses “wenn“ drückt sein Herz zusammen bis zum Krampf und macht ihm schreckliche Schmerzen unter denen er sich windet. Er kann nicht anders als seinen Ton zu mildern:

„Sybil, sagst du die Wahrheit?“ sagt er: „Du spielst mir kein Theater vor? Du sprichst wirklich die Wahrheit? Du musst verstehen, dass ich ein verängstigter Vogel bin. “ Ich kann nicht glauben ...“

„Du musst es nicht glauben!“ sagt sie laut und stampft mit dem Fuß auf. Tränen kommen aus ihren Augen:

„Ich rezitiere einen Text! Das mache ich! Das mache ich! Das mache ich! Das mache ich! Das mache ich! ...“ Sie wiederholt mehrere Dutzend Mal „Das mache ich!“,

„Das habe ich schon seit Hunderten von Jahren gemacht! Ich habe es hundert Mal geprobt, damit es flüssig kommt! Meine schauspielerischen Fähigkeiten sind nicht schlecht, oder!“ Sie hebt den Kopf: „Gehen wir! Lass mich schnell in Roberts Arme fallen! Gehen wir!“ Sie stürzt vorwärts, stolpert wieder und hebt etwas vom Boden auf: Amandas Tagebücher! Sie hält ein Tagebuch in der Hand. Der ganze Körper ist wie betäubt, ihre Augen sind heiß und verwirrt. Sie hebt den Kopf und die Wut in ihrem Gesicht verändert sich in Angst und Panik. Sie starrt ihn ausdruckslos an und flüstert:

„Du sagst, ich war es, die meine Schwester umgebracht hat? Ich habe sie in die Hölle gestoßen? Ich war es, die sie ruiniert hat? Ich habe sie in das Feuer gestoßen?...“

Er hat Angst und ist bestürzt. Er will ihr das Tagebuch wegnehmen. Sein Herzschlag wird schneller, genau so wie ihrer, er hat Angst und wird panisch. Er sagt hastig:

„Gib es mir zurück, Sybil! Ich glaube, als ich entdeckt habe, dass du Flora bist, da hat mich das verrückt gemacht. Wir müssen uns beruhigen. Lass uns vernünftig miteinander reden! Du ruhst dich aus und legst dich hin. Ich werde dich nicht zu Robert bringen. Du hast Recht, er ist noch jung, er wird Flora vergessen! Ich werde dich zu nichts zwingen! Und die Tagebücher gib mir wieder. Lass uns beide ganz ruhig werden ...“

„Nein!“ Sie hält das Tagebuch fest im Arm und kämpft, um nicht umzufallen und sich zu konzentrieren und ihre Gedanken zu ordnen:„Du hast diese Tagebücher hergebracht und im Austausch für die Wahrheit zollst du mir Tribut und willst, dass ich dir Flora schenke! Ich habe deine Bedingung akzeptiert, also darfst du die Tagebücher nicht wieder mitnehmen. Ich werde mit dir zu Robert gehen! Los, gehen wir!“

„Nein!“ Er ist verzweifelt, getrieben, voller Widersprüche. Gereizt schreit er:„Nein, nein, nein! Ich habe meine Meinung geändert. Du musst Robert nicht sehen. Ich will nicht, dass du
Robert siehst! Was Robert betrifft, werden wir eine andere Lösung finden. Du musst Robert nicht treffen!“

„Warum bist du inkonsequent“, sagt sie: „du hast mich gezwungen ihn zu sehen. Du hast mich entführt um ihn zu sehen! Aber jetzt erlaubst du mir nicht ihn zu sehen? Warum?“ Sie schlägt die Wimpern hoch, ihre Augen sind kalt, aber immer noch hell. „Weil ich meine Karten alle offen gelegt habe? Weil ich mein Selbstwertgefühl ausgelöscht habe? Weil ich dir gesagt habe, dass ich dich liebe? Du willst mich also wieder? Du weiß nicht, ob ich dich belogen habe, oder? Du weißt nicht, ob ich auswendig gelernte Zeilen rezitiert habe. Du weißt nicht, ob ich wieder geschauspielert habe?“ Sie geht zur Tür.

„Zu spät! Arthur. Ich bin schon nicht mehr Sybil. Du hasst mich gezwungen Flora zu werden! Du hast mich sogar gezwungen für immer Flora zu werden. Damit ist Sybil gestorben, genau wie Amanda. Ich bin Flora!“ Sie legt ihre Hand auf die Türklinke um sie zu öffnen.

„Sybil!“ schreit er. Seine Hand drückt schnell auf ihre Hand, seine Augen flehen und starren sie schmerzhaft an, seine Stimme ist voller unkontrollierbarer Leidenschaft und Sorge.

„Du lieber Himmel! Was soll ich tun? Was sollte ich tun?“ Er kann es nicht mehr kontrollieren und schreit voller Kummer: „Sybil! Haben wir Tag und Nacht nicht genug Tragödie gespielt?“

„Ich kehre morgen nach England zurück.“ Flüstert sie plötzlich bedauernd.

„Nein! Du kannst morgen nicht nach England zurückkehren! Unsere Probleme sind noch nicht gelöst. Du darfst nicht gehen!“

„OK, Ich werde das Problem lösen, ich werde Robert treffen. Ich habe Schwierigkeiten bereitet, also entferne ich sie jetzt!“

Sie öffnet die Tür wieder. Plötzlich sind sie und Arthur am Ende ihrer Weisheit. Stumm und fassungslos stehen beide da wie die Holzhühner. Von außen lehnt sich Robert gegen die Tür. Sein Gesicht ist blass und seltsam, die Augen sind traurig und schockiert. Er lehnt da wie eine Steinsäule, offensichtlich schon sehr, sehr lange stand er da. Die drei schauen sich eine Weile an. Drinnen und draußen ist es totenstill. Keiner weiß, wie viel Zeit vergeht, aber Robert ist der erste, der die Stille bricht. Er sieht Arthur an und sagt leise:

„Entschuldigung, Bruder, ich bin dir gefolgt. Ich dachte, dir zu folgen würde mir helfen Flora zu finden.“

„Also“, sagt Arthur vorsichtig und befeuchtet die trockene Zungenspitze mit den Lippen, „Du hast die ganze Zeit vor der Tür gestanden? Hast du alles gehört?“

„Ja, ich habe alles gehört.“ Sagt Robert bitter und aggressiv mit Blick auf Sybil. Sybil hat lange Haare und auf ihrem blassen Gesicht haben sich Blut und Tränen vermischt. Ihre Augen sind weit geöffnet und voller Panik, Angst, Trauer und unsäglicher Schuld und Verärgerung. Sie streckt ihm die Hand entgegen, voller Mitleid, wie in Trance und konfus sagt sie: „Robert, ich ... ich bin ...Flora!“

Robert macht einen Schritt zurück. Er kennt diese elende Frau nicht. Wie kann das Flora sein? Er ruft: „Großer Bruder, umarme sie, sie wird ohnmächtig!“ Er streckt noch rechtzeitig die Hand aus, packt sie um die Taille, sie klappt zusammen und fällt in seine Arme und er legt sie flach auf den Teppich. Sie macht die Augen weit auf, bleibt wach und wird nicht ohnmächtig. Sie sieht auf die beiden Köpfe, die sich gleichzeitig vor ihr verneigen, schaut auf die beiden fürsorglichen und ängstlichen Augenpaare. Sie blinzelt mit den Augenlidern, Tränen rollen runter und sie schluchzt: „Verzeiht mir! Ich habe alles vermasselt, alles!“ Die beiden Brüder sehen sich an und knien wie auf Verabredung neben ihr. Sei strecken gleichzeitig ihre Hände aus, um die Blutflecken von ihren Lippen zu wischen. Die Hände der beiden berühren ihre Lippen und beide ziehen die Hände zurück als hätten sie einen Stromschlag bekommen. Dann stocken beide und sehen sich verblüfft an. Schließlich springt Arthur hoch, blockiert die Tür, fasst sie an, lehnt sich dann an sie und starrt Robert an.

„Viert-Geborener“, murmelt er: „du musst bleiben. Lass uns drei friedlich reden.“

„Du überschätzt mich“, Robert flüstert auch: „meine Welt steht auf dem Kopf und du sagst tatsächlich, ich soll mich beruhigen!“ Seine Augen sind rot umrandet, seine Stimme ist blockiert: „Geh weg! Lass mich raus!“

Sybil steht vom Boden auf. Sie steht langsam auf, lehnt sich auf das Sofa. Sie sieht Arthur an, dann sieht sie auch Robert an. Ihr Gesicht ist melancholisch und traurig, trostlos und einsam. Ihr Körper schwankt. Beide Brüder wollen ihr im gleichen Augenblick die Hand reichen, ihr helfen, aber beide ziehen die Hand zurück, als sie ihre Hand ausstreckt.

Robert schaut sie aufmerksam, lange, leidvoll, entsetzt an und fragt schlie0lich schmerzverzerrt: „Wer bist du wirklich? Es kommt mir so vor als kennte ich dich, aber gleichzeitig kommt es mir so vor, als kennte ich dich nicht.“

„Hast du schon einmal Gänse in Lin Shao gesehen? Wenn sie fliegen möchten, können sie nicht fliegen, aber wenn sie bleiben und dort leben wollen, können sie nicht
bleiben.“ Antwortet sie ihm und fällt erschöpft aufs Sofa.

„Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Morgen ist alles vorbei. Morgen fliegt die Wildgans. Du Fu hat zwei unübertreffliche Zeilen geschrieben: Morgen ist durch Berge getrennt. Und: Die Welt ist grenzenlos.“

 

 

15. Episode

 

Dreißig Minuten später schon sitzen alle drei, Arthur, Robert und Sybil, auf Sybils kleinem Sofa. Ruhig schauen sie sich an. Sybil hat sich schon im Bad frisch gemacht. Sie hat die Tränen und den Schweiß vom Gesicht gewaschen. Die Lippe war aufgrund der Zähne eingerissen und blutete die ganze Zeit und ist jetzt geschwollen. Sie hat Hose und Jeans gewechselt und trägt ein weißes Hauskleid aus Leinen, um das sie einen dünnen Gürtel gebunden hat. Mit langen Haaren – wie Wasser und Wolken – lehnt sie sich gegen das Sofa. Sie sieht beispiellos schwach, klein, elegant und unwirklich aus.

Sie sitzt still da und hält die Tagebücher von Amanda in ihren Armen fest. Sie gibt keinen Ton von sich. Ihre Augäpfel sind schwarz und so tief, wie zwei bodenlose Brunnen. Ihr Gesicht ist immer noch bleich, so weiß wie ihr Kleid. Die Wangen sind blutleer. Das Rouge auf ihren Lippen ist besonders hervorstechend. Ihre Hände liegen auf den Tagebüchern in ihren Armen. Still sitzt sie da, wie eine Marmorstatue. Ihre Ärmel sind halb aufgerollt und lassen ihre weißen Arme frei, auf denen die Spuren der Kratzer und Schläge von Arthur, alle Prellungen und Schrammen deutlich zu sehen sind. Ihre Wimpern sind halb gesenkt, ihre Sternaugen sind halb verborgen, ihr Blick fällt auf einen unsichtbaren Ort. Ihre Gedanken scheinen auf einen anderen Planeten abgewandert zu sein. Sie hat das Gefühl von der Welt unabhängig zu sein, ein Gefühl der Gleichgültigkeit, das Gefühl, dass der Himmel fällt und es nichts mit ihr zu tun hat. Sie sitzt einfach da, bewegt sich nicht und sagt keinen Ton.

Arthur ist schließlich der erste der drei, der seine Sinne wiedererlangt. Er hat gerade allen ein Glas Wein eingeschenkt, aber Sybil hat es nicht angerührt. Robert hat nur widerwillig einen Schluck genommen. Er schaut Sybil unschuldig an. Arthur setzt sich auch auf das Sofa und zündet sich eine Zigarette an. Seine Hände zittern und gehorchen nicht seinem Kommando. Kühl sieht er Sybil und Robert an. Sybil ist immer noch untergetaucht in ihre unbekannte Wirklichkeit. Robert hat einen verblüfften Gesichtsausdruck, er ist verwirrt und verlegen und hat einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht.

Es ist sehr still, drei Menschen denken aneinander, keiner scheint mit dem Reden den Anfang machen zu wollen. Diese Stille scheint endlos, sie ist beunruhigend und bedrückend. Arthur hat bereits eine Zigarette geraucht und zündet sich eine zweite an. Rauch hat sich im ganzen Zimmer verteilt. Robert sieht besorgt aus.

Robert sieht schließlich nicht mehr zu Sybil, sondern zu Arthur und flüstert: „Großer Bruder, ...“

Gerade in demselben Moment ist auch Arthur wieder munter geworden. Er wendet sich gerade Robert zu und sagt: „Viert-Geborener...“ Die beiden haben gleichzeitig gesprochen und schlucken die Fortsetzung ihrer Rede runter. Arthur nimmt einen Zug aus der Zigarette und sagt: „Was willst du sagen?“

„Ich weiß es nicht“, sagt Robert freimütig. Die Verwirrung breitet sich noch tiefer auf seinem Gesicht aus und er fragt zurück: „Was wolltest du denn sagen?“
„Ich?“, Arthur ist auch ratlos: „Ich weiß es auch nicht.“

Im Zimmer herrscht wieder Stille. Eine Weile sehen sich die beiden Brüder an. Beide zögern. Ärgerliche Situationen haben sie schon häufiger erlebt. Sybil sitzt immer noch da wie aus Holz und ignoriert beide. Hören, doch nicht verstehen, sie ist gefangen in ihren eigenen Gedanken. Schließlich hält es Arthur nicht länger aus. Er sieht entschlossen zu Robert und schreit überdeutlich: „Viert-Geborener!“

„Häh?“ Robert starrt Arthur erschrocken an.

„Lass uns jetzt klar reden, Viert-Geborener. Du hast ja unsere gesamte Unterhaltung gehört, dann weißt du auch, dass ich dich nicht angelogen habe. Auf der ganzen Welt existiert keine Flora!“

„Ich weiß.“ Robert zeigt auf einen Finger, beißt fest hinein und schüttelt sofort die Hand vor Schmerzen. Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck sagt er: „Das tut weh! Und ist kein Traum, wie könnte ich das denken. Diese Situation hier ist für mich wie in einem Traum.“

„Viert-Geborener, glaubst du mir?“ Arthur sagt aufrichtig ehrlich: „Der Schock und die Überraschung, die ich heute erlitten habe, waren für mich nicht geringer als für dich.“

„Ich weiß“, Robert nickt ausdruckslos: „du bist ein guter großer Bruder. Du hast sie sogar gezwungen zu Flora zu werden.“

„Aber“, Arthur tut sich schwer es zu sagen: „der Mensch Flora existiert gar nicht.“

„Ich weiß“, wiederholt er und sieht Sybil an: „Ich habe sie lange beobachtet. Ich habe sie sogar beobachtet, als sie sich in Flora verwandelt hat. Ganz genau! Aber sie ist nicht Flora.“

„Also“, Arthur fährt mit der Zungenspitze über seine Mundwinkel, merkt, dass die Zunge trocken ist und trinkt einen Schluck Wein, zieht tief an seiner Zigarette und schließlich platzt aus ihm heraus: „Kannst du die Suche aufgeben?“

Robert sieht Arthur an.

„Es geht nicht um die Frage von Aufgeben und nicht Aufgeben, oder?“ Sein Gesicht ist verbittert, aber er spricht klar: „Wenn du ein Ding verloren hast, kannst du dieses Ding finden, weil es existiert. Wenn du einen Traum verloren hast, kannst du ihn nicht wiederfinden, weil Träume abstrakt sind, sie sind nicht wirklich. Ich dachte, ich hätte ein Mädchen verloren. Jetzt weiß ich, dass ich nie ein Mädchen hatte. Was du nicht bekommen hast, kannst du nicht verlieren. Außerdem gibt es keine Flora auf der Welt.“

Arthur starrt seinen jüngeren Bruder vorsichtig an.

„Viert-Geborener, du bist kein kleines Kind mehr“, ruft er aus: „Du weißt viel und du erlebst auch viel...“

„Nein.“ Robert unterbricht ihn. „Ich verstehe es nicht. Ich kann es überhaupt nicht verstehen! Da sie nicht Flora ist, warum tut sie so? Gutes Karma ergibt das nicht. Warum will sie zu einem Stck Filz werden? Ihr redet immer von Rache. Wer rächt wen? Und warum? Wie viele Jahre warst du im Tanzlokal ein gehorsamer Sohn und bist ehrerbietig deinen Eltern gegenüber zu Amanda gegangen? Ist das noch nicht genug? Stattdessen will sie sich an dir rächen. Was ist das für eine Philosophie? Das verstehe ich nicht. Das verstehe ich überhaupt nicht!“

Sybil sitzt still da und bewegt sich nicht. Das Gespräch zwischen den beiden Brüdern scheint sie nicht zu hören. Es sieht auch so aus, als ob die beiden Brüder für sie gar nicht existierten. Als Robert jedoch das Wort Amanda fallen lässt, zittert sie stark. Etwas Kaltes scheint sie vereist zu haben, sie zittert und hebt den Kopf. Sie wirft einen Blick auf Robert, als würde sie Robert jetzt erst wahrnehmen. Dann dreht sie den Kopf, sieht Arthur an und drückt das Tagebuch an ihre Brust.

Sie flüstert: „Warum seid ihr hier? Warum seid ihr nicht gegangen? Geht bitte! Ich will nicht, dass ihr hier seid! Ich will allein sein! Ich will Amandas Tagebücher lesen! Geht bitte! Lasst mich hier allein!“

Arthur zittert, er sieht Sybil flüchtig und nervös an. Er blickt auf die Tagebücher in ihren Armen, er versucht sie an sich zu nehmen, Sybil umarmt sie sofort fester. Wie ein verletztes wildes Tier, das sein Junges in seinen Armen beschützt. Dann ist da wieder dieser verrückte wilde Glanz in ihren Augen. Dieser Blick tut ihm weh. Er wagt es nicht, die Bücher anzufassen. Er beißt die Zähne zusammen und ballt die Faust, ... er steht auf, geht einige Schritte und setzt sich dann wieder. Er starrt Sybil an, dann öffnet er schließlich den Mund und sagt flehentlich:

„Sybil, hör mir zu. Hör mir gut zu. Ich bitte dich, mir die Tagebücher zurückzugeben und nicht mehr Flora zu spielen! Robert hat auch die Wahrheit herausgefunden und wird dir keine Vorwürfe machen... „

„Großer Bruder“, unterbricht ihn Robert und sagt kühl „du sagst besser nichts für mich! Ich sage selbst, was ich meine!“

„Viert-Geborener!“ Er dreht sich genervt um und sagt wütend. „Und was meinst du?“

Robert lehnt sich ins Sofa zurück. Er streckt die Beine aus und verschränkt die Arme vor der Brust. Plötzlich sieht er aus wie ein beruhigter, entschlossener Erwachsener. Ein Mann mit Ideen, Einsichten, Überlegungen, kurz, ein geduldiger kluger Mann! Nur einen Moment sieht er Arthur an, dann dreht er sich um und sieht Sybil an. Ein seltsames und unberechenbares Lächeln umspielt seine Lippen. Langsam artikuliert er sehr energisch:

„Ich habe alles ruhig analysiert. In dieser ganzen Geschichte bin ich das unerklärliche Opfer! Ihr beiden habt jeweils ein Konto im Bauch. Über diese Konten weiß ich nichts. Und ist jetzt nicht die Zeit, euch der Wahrheit zu stellen? Ist es nicht an der Zeit die Wahrheit auch zu verkünden? Auch wenn ihr weiter schauspielert, weiterhin eure Geheimnisse hütet, ich bin das unerklärliche Opfer. Ich sollte doch das Recht haben zu erfahren, warum ich das Opfer zwischen euch geworden bin!“

„Viert-Geborener!“, Arthur runzelt die Stirn. „Wenn wir nach Hause gegangen sind, haben wir Zeit darüber zu reden oder auch nicht darüber zu reden!“

Er sieht Sybil an, ihr Gesicht zeigt Unwillen nach einer unliebsamen Störung. Sie seufzt,
senkt den Kopf. Sie öffnet das erste Tagebuch und behandelt die beiden Brüder als nicht existent. Wie jemand, der seine eigene Arbeit machen will. Arthur springt auf drückt mit der Hand auf den Text im Tagebuch. Sybil hebt erstaunt den Kopf. Arthurs verstörte, schmerzhaft leidenschaftliche Augen berühren und treffen sie tief. Seine Augen sehen sie mit solcher Verliebtheit und Trauer an. Eine Ansammlung von warmen und düsteren Flammen lodern aus seinem Inneren. Seine Augen wecken in ihr sofort den Wunsch, im Grund dieses Meeres unterzutauchen. Ihre Nerven spannen sich an und das Eis in ihrem Herzen schmilzt. Sie knurrt, ringt mit sich und sagt: „Was willst du tun? Wieder Gewalt gegen mich anwenden?“

„Nein. Nein.“ Immer wieder sagt er: „Ich werde keine Gewalt gegen dich anwenden. Ich werde nie wieder Gewalt gegen dich anwenden. Bitte, hör mir erst zu, bevor du die Tagebücher liest.“ Er dreht sich um und sieht Robert an.

„Der Viert-Geborene hat Recht. Alle haben das Recht diese Geschichte zu kennen. Jetzt, wo sich alles zu so einer schlimmen Situation entwickelt hat, kann ich es nicht geheim halten. Sybil, ich erzähle dir die ganze Geschichte von mir und Amanda. Nachdem ich es erzählt habe, kannst du es im Tagebuch überprüfen. Aber ...“ Er lässt sich ins Sofa fallen und sieht aus dem Fenster.

„Ich habe geschworen, diese Geschichte nie zu erzählen. Egal wie viele Gerüchte, Spekulationen, Verleumdungen es geben sollte. Ich habe geschworen, diese Geschichte nicht zu erzählen. Aber was habe ich erwartet? Die Menschen sind nicht so gut wie man sie sich wünscht!“

Er seufzt lange und flüstert dann vor sich hin: „Amanda, bitte verzeih mir! Ich muss es sagen!“

Sybil sieht Arthur an. Ein Lichtstrahl blitzt in ihren Augen auf, sie ist mit einem Schlag hellwach, voller Anteilnahme und Energie. Sie ist nicht mehr wie eine Steinskulptur. Sie setzt sich aufrecht, ergreift das Weinglas und nimmt einen kleinen Schluck Wein. Ihre Augen sind lebhaft und weich. Auf Arthurs Gesicht scheint ein Traum zu verharren.

„Eigentlich“, Arthur sieht sie nicht an, er zündet sich eine Zigarette an. Sein Blick bleibt an dem brennenden Ende der Zigarette hängen. „Meine und Amandas Geschichte ist am Anfang überhaupt nicht überraschend sondern völlig normal, eine typische Liebesgeschichte eben: ein Student trifft eine Studentin. Es ist fast Liebe auf den ersten Blick. Innerhalb von drei Monaten sind wir, wie Berge und Meere, nicht mehr zu trennen. Ich und Amanda haben uns im Sommercamp kennengelernt. Sie ist sanft, schlank, gefühlvoll und schreibt gute Gedichte, hat gute Kenntnisse in chinesischer Literatur. Sie ist so vielseitig, dass sie in allem nur schwach sein kann. Es gab viele College Studenten, die damals in sie verliebt waren. Die Jungen, die in sie verliebt waren, sind unzählige. Sie gehörte zu den Verehrten aller Lebewesen. Ich war es, der für diesen unsagbaren unendlichen schönen Platz ausgewählt wurde: das war wie mit Wolken im Nebel fliegen.

Sie hat mit mir über Poesie geredet, über Malerei, über das Leben, über Träume, über die Liebe ... oh, ich war verrückt nach ihr.“

Er zieht an der Zigarette, die Glut am Zigarettenende leuchtet feurig. Robert und Sybil sitzen schweigend da, beider Augen sind auf ihn gerichtet. Er trinkt von der fernen Vergangenheit. Dieses Vergangene ist offensichtlich schmerzhaft, er runzelt leicht die Stirn, kneift die Augen zusammen, und sieht dem Rauch nach, der sich langsam im Raum verteilt.

„Zu der Zeit war Amanda Single und lebte in Taipeh, ohne jede Verpflichtung. Ich war auch Single in Taipeh. Zwei junge unabhängige Menschen, die sich gegenseitig trösten und an einer gemeinsamen Zukunft weben. Wir hatten ein wunderschönes Leben füreinander geplant. Dann ein tiefer Schnitt! Amanda begann über ihre Familie zu reden, über den frühen Tod ihres Vaters, über die erneute Eheschließung ihrer Mutter und dann redete sie über ihre über alles heißgeliebte, kleine Schwester! Sie sagte oft, dass Sybil viel geweint habe und bevor sie ins Flugzeug gestiegen sei sie fest umarmt und geschrien habe:„Große Schwester, lass mich nicht mit ihnen weggehen. Ich will bei dir bleiben! Große Schwester, behalte mich bei dir! Lass mich bei dir bleiben! Ich will bei dir bleiben!“ Sie brach jedes Mal in Tränen aus, wenn sie das erzählte. Sie weinte immer so herzzerreißend, dass mein ganzes Hemd durchnässt war.“

Vor Sybils Augen hat sich ein Schleier gebildet, ihre Sicht ist verschwommen. Sie hat einen Kloß im Hals. Sie hält das Weinglas in der Hand und starrt benommen auf die rote Flüssigkeit im Glas.
„Ich habe noch nie einen Menschen erlebt, der mehr Liebe als Amanda hatte, mehr Hingabe, mehr Geschwisterliebe. Unsere Freude endete, als ich zur militärischen Ausbildung gehen musste. Als ich die militärische Ausbildung abgeschlossen hatte, hätte Amanda die dritte Studienstufe erreicht haben sollen, aber sie ging tagsüber zum Unterricht und abends als Tänzerin in eine Tanzhalle! Ich habe sie gefunden. Es gab einen heftigen Streit zwischen uns. Da hat sie mir einen Brief gezeigt ...“

Er dreht sich zu Sybil und sieht sie an. Bitter und traurig sagt er:

„Liebe Sybil, dein Brief von damals passt auch heute noch! Es war ein Brief mit Tränen nach jedem Wort, jedem Satz, jeder Zeile. Ein Wort, eine Träne, ein Satz, eine Träne, jede Zeile Tränen. Du hast von der Bitterkeit erzählt im Ausland leben zu müssen, von der Gleichgültigkeit des Stiefvaters, der Hilflosigkeit der eigenen Mutter und wie ratlos du deiner Zukunft gegenüber seist. Ich erinnere jetzt noch einige Sätze aus deinem Brief: Ich bin erst siebzehn Jahre alt und bin jetzt schon mit dem Schmerz konfrontiert die Schule verlassen zu müssen. Alle Lehrer sagen, dass ich eine geniale Begabung für Sprache und Schauspiel habe. Ich habe auch davon geträumt Schauspiel zu studieren und Literatur und Kunst. . . . aber ab nächsten Monat muss ich als Häschen-Mädchen in einer Bar arbeiten! Liebe Große Schwester, du kannst dir nicht vorstellen, was ein Häschen-Mädchen ist. Da muss ich meine frühreife Jugend hingeben. Und dabei bin ich doch so östlich in meinen Gefühlen! Ich begrabe alle meine Träume, große Schwester, du wirst mich nicht wiedererkennen, wenn wir uns wiedersehen. Deine unschuldige, von dir Little Jasmin genannte, Kleine Schwester, die dann bereits zu einem gebrochenen Zweig und zu einer gefallenen Weide geworden sein wird. Meine liebe große Schwester, warum bist du nicht bei mir geblieben? Ich würde lieber mit dir betteln gehen. Ich will kein Spielzeug für Ausländer im fremden Land sein!“ Er hört auf,

starrt Sybil an und sagt: „Habe ich das falsch erinnert? Oder hast du so geschrieben?“

Sybil hat die Augen geschlossen. Zwei dicke Tränen fließen aus ihren Augen, rollen die Wangen hinunter und zerbersten an der Knopfleiste ihres Kleides.

„Sybil“, ruft er; „ich habe nie die Beziehung zwischen euch Schwestern verstanden, wie konnten die Gefühle zwischen euch so tief sein? Amanda hat sich aufgrund dieses Briefes sofort voll in Aktivitäten gestürzt, sie hat mir gesagt, dass sie Tanz verkauft und nicht sich selber. Sie hat gesagt, dass sie weiter studieren werde. Sie sagte, dass auch Tänzerinnen große Gefühle haben. Sie hat unterschiedliche Gründe angeführt, um mich zu überzeugen. Sie wollte auch mit mir tanzen, aber ich habe immer wieder den Kopf geschüttelt. Sie hat zu mir gesagt: ’Ich habe Sybil schon geschrieben, dass mein Freund ein reicher Mann ist und dass sie bei den Studiengebühren unterstützt wird. Wenn du mir nicht erlaubst zu tanzen, musst du sie bei ihren Studiengebühren unterstützen!’ Das hat mich verrückt gemacht. Ich arbeite hart, so hart, achtzehn Stunden am Tag! Mein armer kleiner Verlag kann mich nicht einmal selbst ernähren, wie kann ich mir die Studiengebühr von zweitausend Pfund pro Semester leisten!“

Er hält wieder inne und raucht verzweifelt. Das Zimmer ist voller Rauch. Er schaut dem Rauch nach, sein Gesicht ist düster und trostlos, seine Stimme ist sehr ruhig geworden.

„Schließlich gab sich Amanda geschlagen, sie gab einfach das Studium ab, weil sie ihr Lernpensum zu Hause nicht mehr schaffte und das lange Nachtleben machte sie tagsüber depressiv. Sie war nicht mehr Amanda, eine einfache Studentin. In dem Tanzlokal lernte sie sehr schnell zu rauchen, Alkohol zu trinken und Männer anzuschreien. Sie wurde zu Manon. Genau wie Manon in ihrem Lace Song in Puccinis „Manon Lescaut“ gab sie sich für Geld hin. Am Anfang gab es eine Grenze. Sie begleitete Menschen zum Abendessen. Sie bestand

immer noch auf ihre letzte Unschuld. Aber diese Art, nicht bis zum Äußersten zu gehen, begrenzte ihr Einkommen und dann ...“ Er hebt plötzlich den Kopf, drückt die Zigarettenkippe aus und sieht Sybil scharf an. „Sybil, willst du noch mehr hören? Willst du wirklich noch mehr hören?“

Sybil zittert am ganzen Körper. Ihre Augen sind so dunkel wie schwarze Kristalle, aber ihr Gesicht ist wie ein durchsichtiger Glimmerstein. Sie murmelt:

„Ja, ich will mehr hören! Ich will wissen, auf welchen Tatsachen mein Studienabschluss aufgebaut ist!“

„Ok, dann werde ich weitermachen!“ Er beißt die Zähne zusammen und steckt eine Zigarette an. „Damals war mein Leben schon in einer Wolke des Elends. Tagsüber habe ich hart gearbeitet und nachts habe ich im Tanzlokal zusehen müssen wie sie ihre Arme um verschiedene Männer schlang. Diese Art von Leben machte mich total verrückt. Wir haben uns sehr oft gestritten, waren verärgert, waren sehr wütend aufeinander. Ich habe ihr oft vorgeworfen, dass sie nicht wegen der Studiengebühren ihrer kleinen Schwester als Tänzerin arbeite, sondern um ihre eigene Eitelkeit zu befriedigen! So haben wir uns gegenseitig gefoltert, verletzt. Und dann, nachdem wir uns gegenseitig wild angeschrien haben, uns mit Tränen und Küssen versöhnt. Unser Leben war zu einem Teufelskreislauf geworden. Immer Streit, Trennung und Versöhnung. Nach jeder Versöhnung wuchs die Liebe und wurde die Trennung schwerer. Aber meine schamlosen Bemerkungen hatten ihr Herz gebrochen. Sie begann sich minderwertig zu fühlen und wurde mutlos, unsicher und selbstzerstörerisch. Sie hat mir gesagt, ich sollte sie verlassen, ich sollte eine andere Freundin finden. Sie sagte, sie sei so unbedeutend wie Gras, wie Löwenzahn in einer Ecke ... Sie sagte, sie wäre nicht gut genug für mich.“ Seine Stimme wird immer leiser und dann hört er ganz auf zu reden.

Für eine Weile ist es einfach nur still im Zimmer. Sybil hält das Weinglas und hat beide Beine auf das Sofa gelegt. Sie ist ganz zusammengerollt wie ein verängstigtes kleines Insekt. Robert ist ganz benommen. Ein bisschen von dieser Geschichte kennt er schon, aber er hat nie die Hintergründe erfahren. In der Geschichte sind noch mehr Geschichten versteckt.

„Als ich Amanda weniger geliebt habe“, fährt er fort, „und sie mich weniger geliebt hat, da waren wir dennoch sehr glücklich. Unglücklicherweise liebten wir uns so sehr, dass wir mehr für den anderen dachten als an uns selber. Zu der Zeit hatte sich mein Verlag etwas verbessert. Ich hatte den ganzen Tag Kontakt mit berühmten Schriftstellern, Literaten und Prominenten. Das hat kein bisschen meine ökonomische Situation verbessert, aber das hat meinen sozialen Status unsichtbar angehoben. Das nährte in Amanda die Überzeugung meiner nicht wert zu sein und sie begann mich zu zwingen, sie zu verlassen und mein Glück zu suchen. Ich habe mich geweigert und wollte ihr beweisen, dass mir ihre Identität egal ist. Jeden Abend bin ich weiter in das Tanzlokal gegangen und habe sie genau beobachtet. Sie folterte mich jede
Nacht, um meine Verliebtheit zu stoppen. Absichtlich hat sie ausdrücklich Zuneigung zu anderen gezeigt und mich absichtlich in der Öffentlichkeit ausgelacht, mich absichtlich beleidigt und absichtlich verletzt... Ich habe es ertragen, denn nur ich konnte wissen, dass ihr eigner Schmerz viel größer war, wenn sie mich erniedrigte. Deswegen hat mir der Ballsaal einen Namen gegeben. Sie haben mich ’pflichtbewusster Sohn’ genannt. So wurde ich zum Gespött des ganzen Ballsaals.“

Er hält wieder inne und senkt den Kopf. Er zieht Zug für Zug an der Zigarette, atmet aus und sieht dem Zigarettenrauch hinterher. Sein Gesicht sieht man nur noch verschwommen.

„Natürlich haben wir ab und zu Spaß gehabt, beispielsweise immer dann, wenn aus England ein Dankesbrief kam. Immer dann, wenn ein Zeugnis von dieser aristokratischen Schule kam. Mit Beweisen, dass die kleine Schwester in der Tat hervorragend in Charakter und Wissenserwerb ist und dass sie tatsächlich nach der Spitze strebt. Dann war Amanda immer glücklich wie ein Kind. Sie schlang ihre Arme um meinen Hals. Lachte, sprang und schrie. Sie küsste mich, rief mich mit Tausenden von lieben Namen. Da hatte ich dann das Gefühl, dass alle Schmerzen schließlich einen großen Gewinn bringen. Damals hatte ich bereits jeden Cent hergegeben, den ich erübrigen konnte. Aber die kleine Schwester weit weg in Großbritannien brauchte für Proben Kostüme, Requisiten, Kosmetik und alle Rechnungen kamen bei uns an. Amanda schreibt unzählige Briefe, aber bei Sybil ändert sich nichts: ihr zukünftiger Schwager hat sowohl Ruhm als auch Reichtum erlangt... Ruhm und Reichtum?

Ich war immer noch ein Leichtgewicht, ein Kinderspiel mit zwei Ärmeln, ein Nobody. Jeden Cent haben wir gespart, das Leben wurde immer mehr zu einem Kampf. Und Amanda arbeitete weiter in dem Tanzlokal und ohne Kleidung kann man sich nicht verkleiden. Außerdem brauchte Amanda viel Wein, um ihren Kummer zu ertragen, oft mehr als ihr gut tat. Eines Nachts kam sie zu mir, wir haben zusammen getrunken und waren schließlich ziemlich betrunken. Da hat sie zu mir gesagt: „Nimm mich, Arthur, solange ich noch sauber bin! Ich bin bereit ganz dein zu sein. Auch wenn es nur für eine Nacht ist!’ Darauf haben wir angestoßen und die Gläser leer getrunken. Sie wurde mein. Sie wurde vollkommen mein.“

Er löscht die Zigarettenkippe, hebt das Glas und trinkt alles mit einem Zug. Sein Augenausdruck ist trüber, seine Stimme leiser. Er sieht noch trostloser aus.

„Woher sollte ich wissen, dass sie von dieser Nacht an nicht nur mir gehörte. Um des Geldes willen konnte sie nun sich selbst verkaufen. Sie hat sich nicht vor mir versteckt. Sie hat gesagt: „Ich bin Manon, der Lace Song, „Du darfst Manon nicht bitten treu zu sein!“ Aber es machte mich wirklich verrückt, ich hätte fast nach London telegrafiert, um alles niederzureißen und

zu beenden. Amanda kannte meine Absichten. Sie konnte immer die zartesten Gedanken in meinem Herzen erraten. Sie sagte: wenn ich das machte, wäre es, als würde ich sie ermorden, weil alles, alles ruiniert, aber ihre kleine Schwester immer noch wundervoll sei! Obwohl sie selbst eine verblühte Blume und Weide sei, ist diese kleine Schwester immer noch der weiße und makelloser Kleine Jasmin!“ Was konnte ich tun? Was sollte ich machen? Wenn ich eine Bank hätte ausrauben können, ich glaube, ich würde das getan haben! Ich habe keine Bank ausgeraubt, ich habe kein Juweliergeschäft überfallen, ich habe keinen Tresorraum ausgeraubt, sondern verzweifelt meinen kleinen Verlag geleitet.“ Er hustet, seufzt lange, seine Stimme klingt erstickt: „Wie nutzlos ein Gelehrter ist!“

Sybil hat die Augen geschlossen. Sie lehnt ihren Kopf auf die Sofalehne. Tränen fließen aus ihren Augen über ihre Wangen. Erst nach langer Zeit öffnet sie wieder die Augen. Ihre Augen sind so klar wie kalte Sterne im Nebel. Sie sieht ihn ruhig an.

„Dieser Zeitpunkt ist der Beginn unserer wahren Tragödie. Ich kann nicht mehr über eine Ehe reden und die Ansichten meiner Familie ignorieren. Amanda würde mich gar nicht heiraten. Meine beiden jüngeren Schwestern kennen zu der Zeit bereits Amandas Identität. Unzählige peinlichste Informationen können sie nach Tainan zu meiner Familie weitergeben. Ich wurde zum Sünder der Familie, zum unverzeihlichen Verschwender, zum Gefallenen Jüngling, zur Schande der Familie. Amanda wiederholte die alte Diskussion: sie möchte, dass ich gehe, sie verlasse. Alle nur möglichen weichen und harten Methoden wendet sie an. Ich sitze jede Nacht da und beobachte sie. Die Männer betrinken sich wie verrückt und beobachten ihre Posen. Und wie sie alle umarmt. Sie gab den Männern Spitznamen, betrachtete sie als Geldtresore und sie waren ihr dennoch gut und gaben immer soviel sie nur konnten.“ Er hebt den Kopf und sieht Sybil an. „Erinnerst du dich? Eines Abends haben wir zusammen in diesem Restaurant gegessen und ein Gast hat dich mit Amanda verwechselt. - - - Nein, nein falsche Identifikation... mit Manon verwechselt. Ich habe mich mit ihm geschlagen. Er war auch einer von Amandas Gästen.“

Sybil atmet tief ein und sagt nichts.

„Zu der Zeit habe ich bei Amanda die Tendenz entdeckt, dass sie schon ganz verkommen war und nur noch, ohne Rücksicht auf Verluste, einfach Geld für ihre kleine Schwester machen wollte. Dabei war das Einkommen, das ich vor ihrem Tod hatte, kombiniert mit ihrem Einkommen, genug, um die Studiengebühren in London zu bezahlen. Sie hätte sich nicht immer wieder selbst aufgeben müssen. Erst später habe ich analysiert, dass sie total selbstzerstörerisch war und dass sie durch ihre fortgesetzte Selbstzerstörung hoffte, dass ich sie aufgeben und mich zurückziehen werde. Aber ich bin grausam, ich ziehe mich nicht zurück. Ich habe ihr klar gemacht, dass ich mich auch in Zukunft nicht zurückziehen werde. Die kleine Schwester wird eines Tages ausgelernt haben. Welche Ausreden wird sie dann noch haben können? Ich habe gewartet, dann...“ Seine Stimme wird leiser und er schluckt.

Er hebt das Weinglas hoch. Es ist schon leer. Robert reicht ihm sein Glas, er nimmt einen großen Schluck und schaut zum Fenster. Dämmerung türmt sich vor dem Fenster auf und schleicht sich lautlos in den Raum, durchdringt jede Ecke des Zimmers.

„Dann...“, sagt er leise weiter. „Eines Tages hat mir Amanda erzählt, dass sie schwanger ist. Ich habe sie ernsthaft erschreckt, als ich gefragt habe: und wer ist der Vater? Sie hat offen gestanden, dass es vielleicht ein anderer Mann ist, vielleicht aber ich es bin! Oh! Ich bin kein Heiliger. Ich erinnere mich, dass meine Antwort damals war, dass man es am besten weg macht! Da hat Amanda geweint. Ich schwöre, ich hab nicht gewusst, dass sie das Kind wollte. Am nächsten Tag bin ich mit Amanda zum Arzt gegangen. Der Arzt hat uns gesagt, dass Amandas Herz nicht in Ordnung ist. Dass es für sie gefährlich ist, dieses Kind zu bekommen, es wegzumachen aber genauso gefährlich ist! Wir saßen noch da und in dem Moment wurde Amanda plötzlich aufgeregt und sagte: Das Kind ist vielleicht von dir, lass es uns behalten!
Oh Gott, ich war da so egoistisch! Ich hatte ihr alle Untreue vergeben, warum hatte ich nicht die Kraft dieses Kind zu akzeptieren? Ich habe nichts weiter gesagt, damit sie aufhörte zu reden. Die Abtreibung wurde auf Eis gelegt ... und Amanda war von da an jede Nacht betrunken. Jede Nacht musste sie Schlaftabletten nehmen um schlafen zu können. Auf diese Weise hatte sie eines Abends bereits Alkohol getrunken und hat dann Schlaftabletten mit
Wein eingenommen, ungefähr fünf oder sechs Pillen. Nachdem sie die Pillen geschluckt hatte, hat sie wieder Alkohol getrunken. Dann, eines Tages, sagte sie plötzlich, sie wolle mich sehen. Sie war von ihrer Wohnung gekommen und hatte sogar ein Taxi genommen.“

Er hält wieder inne, bedeckt seine Stirn mit den Händen, sein ganzes Gesicht ist halb im dunklen Zwielicht verborgen.

„Sie wurde ins Krankenhaus gebracht“, er holt tief Luft und redet dann weiter: „Als ich im Krankenhaus ankam war ihr Zustand gar nicht schlecht. Sie hatte kein Trauma erlitten, der Arzt sagte nur, sie müssten das Kind aus ihrem Bauch entfernen, weil das Kind bereits tot sei. Amanda lag in der Notaufnahme. Da hat sie mir auch noch einen Scherz gemacht: ’Siehst du? Da du dieses Kind nicht willst, wagt es nicht zu kommen! So ist es am besten und ich kann ein Kind zur Welt bringen das hundert prozentig deins ist!’ Dann haben sie sie in den Operationssaal geschoben. Nach einer Weile kam der Arzt wieder heraus und sagte, dass sie es nicht machen könnten, weil ihr Herz nicht so stark belastet werden dürfe. Ich durfte zu ihr in den Operationssaal. Sie ist noch wach, ihr Gesicht ist weißer als das Laken. Sie sagt zu mir: „Ich schulde dir zu viel in meinem Leben, aber Arthur, du schwörst heute an meinem Bett. Versprich mir zwei Dinge, sonst werde ich sterben.“ Ich habe das versprochen. Sie fährt fort: „Erstens: begrabe mich nicht unter deinem Namen. Ich möchte deinen Namen nicht beschmutzen. Zweitens: egal wie die Situation ist, lass Sybil niemals wissen, was ich getan habe, auch nicht meine Todesursache, sag ihr, dass ihre große Schwester gut und ein Studentin an der Universität war. Erzähl ihr, dass ihre große Schwester rein und unschuldig war und in ihrem Leben nie etwas falsch gemacht hat!“ Ich habe es versprochen. Ich habe vor ihrem Bett gekniet und habe es geschworen. Schließlich sagte sie noch: ‚Du musst sie ihr Studium beenden lassen!’ Dann hat sie nichts mehr gesagt. Sie ging am Morgen aus dieser Welt und die Todesursache war ’Herzversagen’.“

Er hat den Wein ins Glas geschüttet und trinkt davon. Er dreht den Kopf zu Sybil und sieht sie an, leichenblass sagt er in einem Atemzug:

„Genau so habe ich sie begraben. Dann hörte ich nacheinander Gerüchte. Ihre Klassenkameraden begannen zu erzählen, sie habe Selbstmord begangen. Früher war sie Tänzerin unter dem Pseudonym Manon, die Mitschüler wussten das nicht. Sie starb plötzlich. Das verursachte alle möglichen Gerüchte in der Schule. Sie und ich waren als Paar bekannt. Alle sagten, weil ich ein Gefühlsmensch sei, hätte ich sie nicht mehr geliebt, sondern mich in eine Tänzerin verliebt und deswegen hätte sie sich umgebracht. Dieses Gerücht habe ich unterstützt. Aber es sind auch einige Wahrheiten durchgesickert. Über die Todesursachen habe ich vier Legenden gehört: Selbstmord, Autounfall, Herzkrankheit und Abtreibung.“

Er stellt das leere Weinglas auf den Tisch. Er starrt Sybil an. Seine Augen leuchten in der Dämmerung. Diese lange und schmerzhafte Erinnerung hat ihn erschüttert. Sein Ton ist nicht mehr ruhig, sondern wie ein Erdbeben, das unter dem Meer donnert, wie die Düsternis und angehaltene Aufregung vor einem Tsunami:

„OK, Sybil, du hast mich gezwungen alles zu sagen. Du hast mich gezwungen, mein Gelübde, das ich vor Amandas Bett abgegeben habe, zu brechen! Du hast mich gezwungen, diese grausame Geschichte zu erzählen. Dann kommst du! Du bist gekommen, um dich zu rächen! Du denkst, ich bin der Mörder von Amanda! Du hast die Gerüchte geglaubt. Diese Gerüchte habe ich selbst verbreitet! Weißt du? Wenn du ganz in Schwarz gekleidet vor mir auftauchst, leicht stirnrunzelnd, halb melancholisch halb traurig, scheinst du die Wiedergeburt von Amanda zu sein. Ich kann dich in keinster Weise als Feind sehen. Die Erinnerung an Amanda ist noch frisch. Deine eigenen Stärken überraschen mich immer wieder. Ich bewundere sie und sie schenken mir neue Freude und Fröhlichkeit, wenn ich sie bei dir und mit dir erlebe. Ich hätte nie gedacht, dass du dich rächen wolltest! Amanda fehlt mir mehr als dass ich mich schuldig fühle. Wenn ich Amanda getötet haben sollte, dann nur, weil ich Amanda zu sehr geliebt habe! Danach habe ich oft gedacht, wenn ich gleich auf sie gehört hätte und mir wirklich eine andere gesucht hätte, würde sie das gerettet haben? Aber wie kann man über seine Gefühle herrschen? Kannst du ‚ich liebe dich sagen’ und dann liebst du und ‚ich liebe dich nicht’ und schon liebst du nicht mehr? Liebe hat doch keinen Schalter, den du einfach ein- und ausschalten kannst, ganz wie du willst! Ja, falls ich sie getötet habe, habe ich sie mit meiner Liebe getötet. Aber, Sybil,“ er sieht sie direkt an, seine Stimme ist heiser, „dein ganzer Körper ist Poesie und leichte Traurigkeit. Als ich in voller Traurigkeit des Winters auf dich gewartet habe und du mein Büro betreten hast, da hattest du mich schon erobert! Ich habe keinen Moment gedacht: da kommt die kleine Schwester, für die wir so hart gearbeitet haben, um sie zu pflegen und sie aufwachsen zu lassen, sie wird mit einem Schwert kommen! Ich war für dich eine Stadt ohne Verteidigung. Du bist sofort in mein Herz eingedrungen und hast mich unfähig gemacht, mich zu befreien! Ich erinnere mich noch genau daran, was du mir in der ersten Nacht in diesem Zimmer gesagt hast: „Ich will nicht mehr fliegen. Ich bin so müde, so müde. Schwiegerbruder, bitte pass auf mich auf!“ Weißt du noch? Damit hast du mich zu Boden gerungen, ich war hilflos, ich war augenblicklich bereit, mich für dich auf den Kopf zu stellen. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, merke ich, wie dumm ich war! Du hast von Anfang an Theater gespielt, nicht wahr?“ Er hebt plötzlich die Stimme, seine hageren Wangen sind aufgeblasen, seine Augen sind rot, er atmet schwer, seine Stimme ist laut und kraftvoll: „Sag’ es schon! Stimmt doch, oder? Du spielst die ganze Zeit mit mir. Du hast zugesehen, wie ich in deine Falle tappe, wie ich für dich gelitten habe, wie ich nach dir verrückt bin. Und du reibst dir die Hände und jubelst. So ist es doch! Los, sag es! Spielst du mit mir Theater? Wie du es vom ersten Tag an getan hast, alles ist nur auswendig gelernter Text, stimmt’s?“ Je mehr er schreit, desto höher wird seine Stimme. Die Aufregung lässt die blauen Adern an seiner Stirn zucken.

Sybil ist immer tiefer ins Sofa gekrochen. In der Dämmerung ist sie zu einer rauchigen Nebelwolke geschrumpft. Aber trotz Rauch und Nebel ist ihre Haut hell, sind ihre Augen klar. Sie nimmt seinen Blick an, weicht ihm nicht aus und sagt eingestehend und deutlich:

„Ja, am ersten Tag habe ich Theater gespielt! Ich habe lange geprobt, bevor ich dich besucht habe. Ich hatte über alle möglichen Rückschläge nachgedacht, aber alles lief unerwartet glatt!“

„Hahaha!“ Lacht er plötzlich. Seine aufrecht erhaltene Ruhe verschwindet im Nu. Er lacht traurig und unglücklich. „Unerwartet glatt! Ich Idiot! Gerade hatte ich mich nach zwei Jahren der Trauer über Leben und Tod erholt, da gehe ich sofort in deine Falle! Haha! Viert- Geborener, du hast recht, ich bin vom Teufel besessen!“

Robert steht auf. Ausdruckslos sieht er Arthur an. Dann sieht er zu Sybil. Schließlich öffnet er genervt den Mund: „Ich verstehe, in dieser Szene hier bin ich nur eine unerklärliche Nebenrolle!“

„Da liegst du falsch, Viert-Geborener, „sagt Arthur laut: „Du bist der Protagonist, die Hauptrolle! Sie glaubt, dass ich Amanda getötet habe und deswegen will sie dich töten! Dich töten heißt mich unglücklich machen. Dich töten lässt mich in eine ewige Hölle fallen. Darum wurde sie zu Flora. Sie hat deinen Charakter und die freie Zeit, in der du dich um sie kümmern kannst, bereits herausgefunden. Deinen Alltag, deine Hobbys, deine ganze Persönlichkeit ... Sie will mit dir spielen, sie möchte, dass du machst was sie will, sie macht dich mutig, anmaßend, die trickreiche, exzentrische Flora! Sie lässt dich unendlich vernarrt in sie sein. Dann lässt sie dich den Schmerz zerbrochener Liebe schmecken ... und ganz nach ihrem Belieben tötet sie dich! Am besten, du begehst Selbstmord, so wie es Amanda meinetwegen gemacht hat! Also, dann ist ihr ihre Rache Hundert prozentig gelungen!“ Er fragt ihr direkt ins Gesicht: „Habe ich recht?“

Sie nickt passiv und antwortet mit einem Wort: „Ja!“

Robert starrt sie an. Ihr Gesicht ist in der Nachtdämmerung wunderschön und weich, verschwommen, wie im Traum. Er kann nicht anders, er kämpft mit sich. Das ist nicht Flora. Das ist keine Frau, die er wiedererkennt. Sie ist weit weg, wie eine einsame verlorene Wildgans.

„Also, warum hast du dann plötzlich aufgegeben?“ fragt er. „Welcher Moment hat dein Herz erweicht? Kennst du die Wahrheit? Kannst du das eindeutig sagen?“

„Vor heute Abend“, sagt sie leise, „kannte ich die Wahrheit nicht. „Jeder hat mir eine andere Geschichte erzählt, ich konnte sie nicht zusammenkriegen. Jetzt verstehe ich das, jetzt weiß ich warum.“

„Du verstehst es!“ ruft Arthur laut. Flammen brennen in seinen Augen. „Du hast mich gezwungen meinen Eid zu brechen, du hast mich gezwungen die Wahrheit zu sagen. Du bist schlau! Du bist großartig! Du machst uns beiden Brüder unglücklich! Du hast gewonnen! Ich habe verloren! Ich habe komplett verloren! Jetzt kannst du Amandas Tagebücher lesen. Es zeichnet all ihre Verderbtheit auf. Ich wollte diese Tagebücher vor ihrem Grab verbrennen.

Zum Glück habe ich das nicht gemacht! Ich will nicht, dass du diese Tagebücher liest, weil es keineswegs ein schönes Gedicht ist, sondern ein grausames Leben! Ich möchte nicht, dass es dein Bild von Amanda zerstört! Ich habe noch größere Angst, dass es dir wehtut! Mir wäre es lieber, wenn du mich als den Sünder siehst! Haha, ich bin zu naiv, ja? Jetzt hoffe ich, dass du es liest ...“ Er ringt nach Atem, seine Augen sind blutrot. Ein Hauch von Rache, verletztes Grinsen, seine Mundwinkel zittern wild: „Lies es doch! Lies es ganz, ganz langsam! Lern es beim langsamen Lesen zu schätzen! Ich hoffe, es wird dich erfrischen! Ich werde dich nicht mehr stören!“ Er steht auf und winkt Robert aufzustehen: „Viert-Geborener, wir gehen!“

Sybil sitzt weiter da. Sie ist wieder zu einer Statue geworden. Sie bewegt sich kein bisschen. Ihre Augen starren ins Leere. Robert starrt sie ausdruckslos an, zögert und bleibt stehen, er will gehen, bleibt wieder stehen. Arthur schreit:

„Viert Geborener! Worauf wartest du noch? Diese Frau ist ein Engel der Rache! Eine Expertin für Schauspiel, ein Henker! Sie ist nicht deine Flora. Ist dir das nicht klar? Willst du nicht gehen? Worauf wartest du noch?“

„Großer Bruder“, Robert zögert und öffnet dann den Mund. Sein Blick ruht eine Weile auf Arthurs Gesicht. „Du liebst sie, stimmt’s? Du willst nur nicht, dass sie diese Tagebücher liest, dass sie diese Geschichte weiter verfolgt! Du liebst sie! Nicht wahr? Du hast mich gebeten sie nicht zu hassen und nun hasst du sie!“

„Sie lieben?“ Arthur lächelt traurig. „Ich soll sie lieben? Warum sollte ich sie lieben? Lieben – eine Frau, die mir etwas vorgespielt hat? Ja, ich habe sie geliebt. Gerade heute Nacht war ich eine paar Mal verliebt und ich habe sie gehasst, ich kämpfe! Nein! Jetzt hasse ich sie! Ich hasse sie dafür, dass sie mich gezwungen hat, diese Geschichte zu erzählen! Ich hasse sie, weil sie mich betrogen hat, mit mir gespielt hat, mir auswendig gelernte Texte aufgesagt und mir Streiche gespielt hat. Ich hasse sie, weil sie meinen Bruder an der Nase herumgeführt hat. Ich hasse sie, weil sie denkt sie sei schlau! Nein, Viert Geborener, ich liebe sie nicht, ich hasse sie!“ Sybil zittert innerlich, bleibt aber immer noch regungslos wie ein sanftes Feuer im leichten Nebel.

„Lass uns gehen!“ schreit Arthur.

Sie gehen aus dem Zimmer und schlagen die Tür hinter sich zu. Das Geräusch der ins Schloss fallenden Tür erschüttert ihren Verstand und ihre Gedanken. Sie senkt langsam den Kopf und vergräbt ihre Wangen in dem Tagebuchstapel. In Windeseile sind die Tagebücher durchnässt von Tränen. Sie ist vollkommen in sich zusammengesunken. So zusammen gekauert kommt die Nacht und die Dunkelheit umgibt sie.

 

 

16. Episode

 

Die Morgendämmerung naht und macht langsam die Fenster hell.

Ein erster Sonnenstrahl scheint von außen durch das Glasfenster herein. Nach und nach läuft er über den Tisch, über das Sofa und schließlich auf Sybils gesenkte langen Wimpern. Sybil wirkt als wache sie aus einem tiefen, einsamen, jämmerlichen, kalten Traum auf. Sie schaut hoch und kann kaum glauben, dass sie die ganze Nacht so gesessen hat. Eine ganze Nacht? Wie wäre es mit Hundert Jahren? Alles, was gestern passiert ist, ist so weit weg, dass sie sich kaum erinnern kann. Nur das immer stärker werdende Kribbeln im Inneren, das ihr Herz mehr und mehr zusammendrückt und ihre Nerven immer mehr anspannt. Das übermäßige Kribbeln betäubt sie. Sie fühlt sich wie eine Gestalt ohne innere Organe, ---- wie eine hohle Holzskulptur.

Schließlich bewegt sie ihre Beine vom Sofa auf den Boden. Sie versucht aufzustehen, aber ihr ganzer Körper ist schwach und weich, fast wäre sie mit den Knien auf den Teppich gelandet. Beim Aufstehen fallen Tagebücher aus ihren Armen auf den Teppich. Sie schaut auf diese Tagebücher. Seltsam, als sie nach Taiwan zurückgekommen ist, hat sie diese Tagebücher gesucht und jetzt sitzt sie die ganze Nacht hier, hat diese Tagebücher und dennoch nicht eins aufgeschlagen! Sie schaut auf die Bücher, schaut, schaut, schaut, ist verwundert und scheint wieder Arthurs Stimme zu hören:

„Lies diese Tagebücher! Lies diese Tagebücher! Ich hoffe, wenn du sie zu Ende gelesen hast, wirst du es nicht bereuen!“

„Sie enthalten keine schönen Gedichte, sondern ein grausames Leben!“

Sie lehnt sich im Sofa zurück. Fünf Minuten lang hat sie die Tagebücher angeschaut. Dann bückt sie sich und hebt sie nacheinander auf. Die Tasche, in der Arthur sie mitgebracht hat, liegt noch da. Sie geht zur Tasche hinüber, hebt sie auf und beginnt die Tagebücher Stück für Stück, eins nach dem anderen mechanisch wieder in die Tasche zu stecken. Dann hält sie die Tasche fest, dreht den Kopf nachdenklich zur Seite und denkt, dass es heute doch etwas sehr Wichtiges zu tun gibt. Was ist das? Warum herrscht Chaos in ihrem Kopf? - Warum schmerzt mein Kopf? Ach ja! - Plötzlich fällt es ihr wieder ein: ihr Flugticket Das ist es, ihr Flug, der sie nach England zurückbringen wird! „Die Wildgans, die Wildgans, wohin fliegt sie? Über Tausende von Bergen und winzige Flüsse!“ Sie stöhnt unhörbar, ihre Kehle ist so trocken, dass kein Ton herauskommt.

Sie trägt die Tasche wie schlafwandelnd ins Schlafzimmer. Das Schlafzimmer sieht chaotisch aus. Halb gepackte Kisten liegen auf dem Bett ausgebreitet und überall zerstreut liegen die Kleider herum, die Artur herausgezogen hat. Inklusiv die von ihm zerrissenen. Inklusiv das blutverschmierte T-Shirt. Dieses Schlafzimmer scheint ein Tatort zu sein, in dem soeben ein Mord geschehen ist. Ein Mordfall? Der Schwarze Engel fliegt, um zu rächen, der Schwarze Engel wird getötet. Sie starrt auf die verstreuten Kleider. Ihr ist so, als wäre sie in siebzig oder achtzig Stückchen zerschnitten worden. Wie für Fleischsoße zerhackt ... ja ... und tot! Amanda ist tot und Flora ist tot! Und Sybil? Sie lächelt bitter. Sybil ist auch tot. Ihr Herz ist gebrochen, ihr Geist ist gebrochen, ihre Welt ist zerbrochen! Könnte sie nicht tot sein? Ja, Sybil ist auch tot.

Sie legt die Tasche auf das Bett, geht zum Schminktisch, öffnet die Schublade und holt ihren Pass heraus, das gelbe Buch und das Flugticket. Sie schaut auf das Ticket. Das Flugzeug fliegt um 16 Uhr über Hongkong nach London! Um vier Uhr am Nachmittag. Sie hat noch Zeit! Sie geht zurück zum Bett und betrachtet die verstreuten Sachen und den offenen Koffer. Sie sollte packen. Sollte sie packen? Sie schüttelt den Kopf. Den Koffer packen, was soll das? Alles was sie mitnehmen kann, sind ein paar Klamotten! Sie hat verloren. Hat sie nicht mehr verloren als nur ein paar Klamotten? Ich habe schon so viel verloren und da interessiert mich noch eine Kiste voll Kleidung?

Sie öffnet ihre Handtasche und steckt ihren Pass, das Flugticket, ihr gelbes Gesundheitsheft und etwas Geld hinein. Sie geht zum Schminktisch und begutachtet sich selbst. Ihre blassen Wangen, ihre verletzten Mundwinkel, ihren verlorenen Augenausdruck, ihr müdes Aussehen, ihren dünnen Unterkiefer . . . Sie seufzt, öffnet die Puderdose und pudert ihr Gesicht leicht. In ihrem Herzen meldet sich eine kleine Stimme, die sagt:

„Der Gelehrte stirbt für das ihm Vertraute, die Frau muss sich selbst Vergnügen sein. Wen willst du beeindrucken? Für wen kleidest du dich?“

Sie stößt einen Seufzer aus, wirft die Puderquaste hin und nimmt ihre Tasche. Sie trägt die schwere Tasche aus dem Schlafzimmer, aus dem Wohnzimmer und dann aus der Wohnung.

Dreißig Minuten später steht sie bereits vor Amandas Grab. Sie schaut auf die einfachen Worte auf dem Grabstein „Grab von Fräulein Amanda “. Lange Zeit hat sie jedes Mal wenn sie hier stand Amanda zugerufen: „Die Grabsteine anderer Leute sind voller Trauer, nur der von dir ist so einsam und verlassen! Heute versteht sie zum ersten Mal den Geist dieses Grabsteines. Er ist zum Beschriften nicht geeignet. Solange ein Mensch noch lebt, macht man sich keine Gedanken. Wie viele können eine Schlussfolgerung ziehen, nachdem der Sarg verschlossen ist? Idiotisch steht sie da, idiotisch starrt sie auf den Grabstein. Die Morgensonne geht über dem Tal auf, ihre Strahlen fallen schräg auf den Grabstein. Arthurs Gebrüll hallt in ihren Ohren:

„Du Witzfigur! Du Wahnsinnige! Du unglaubliche Missgeburt! Du bist diejenige, die deine Schwester getötet hat! Die Lebenshaltungskosten deiner verdammten aristokratischen Schule! . . . Dich rächen! Nimm nur Rache! Du hast sie ins Feuer gestoßen! Du hast sie in eine Hölle gestürzt, die nie wieder hergestellt werden konnte! Du hast sie ins Verderben getrieben! Räche dich! Räche dich nur! . . .“

Sie geht in die Knie, kniet vor dem Grabstein nieder, legt ihre Stirn an den kalten Grabstein, wirft sich ganz hin, schüttelt vor Schmerzen den Kopf und flüstert voller Trauer:

„Amanda, warum hast du das alles getan? Warum das alles? Warum das alles?“

Das Grab ist kalt, eiskalt. Der Friedhof ist weitläufig und leer. Man hört nur das Flüstern des Windes durch die Lücken in den Bäumen ringsum. Sie hebt den Kopf, kniet dort, öffnet die schwere Tasche und schüttet die fünf Tagebücher aus. Von Anfang bis Ende hat sie nicht eine einzige Seite gelesen. Sie holt ein Feuerzeug aus der Handtasche und fängt, an die Tagebücher anzuzünden, aber diese dicken Hefte sind schwer entflammbar. Der Friedhof ist voller Rauch, aber die Bücher brennen immer noch nicht. Also beginnt sie Seite für Seite herauszureißen. Seite für Seite brennt vor dem Grab. Während sie zusieht, wie die Flammen jede beschriebene Seite verschlingen, flüstert sie:

„ Nun geh, große Schwester! Ich habe deine Vergangenheit verbrannt. Niemand wird dir auf dem Weg folgen, so wie du gestorben bist. Geh ruhig, große Schwester! Dein Grab ist grün, deine Knochen sind kalt, aber deine Seele wird immer bei mir sein und auch deine Liebe wird immer bei mir sein! Ich habe nichts, nur dich, Große Schwester!“ Sie verbrennt eine weitere Seite Papier. Der Schein der Flamme errötet ihr Gesicht. Sie flüstert wieder: „Amanda, wie kann deine kleine Schwester dein Leben und deine Liebe als Investition wert sein? Große Schwester, schick mir ein bisschen Inspiration, wo soll ich von jetzt ab hin?“

Der Grabstein ist so kalt wie Eis. Der Friedhof ist leer und weitläufig. Man hört nur das Flüstern des Windes durch die Lücken in den Bäumen ringsum. Keine Antwort. Keine Offenbarung. Sie seufzt und seufzt. Sie senkt den Kopf. Sie hat die Papiere mit religiöser Hingabe verbrannt.

Der alte Friedhofswärter ist vom Feuerschein aufgeschreckt. Er kommt von seiner kleinen Hütte herbei. Humpelnd kommt er wackelig näher, sieht auf die wahnsinnige, verzweifelte Sybil hinab, die Papier verbrennt. Erstaunt sagt er:

„Fräulein Sybil, was verbrennen Sie? Das ist doch wohl kein Papiergeld?“

„Papiergeld?“ Sybil sieht zu ihm hoch, ihre Augen sind ganz nass. Sie sieht den Friedhofswärter, den alten Lao, an:

„Sie war schon zu Lebzeiten eine Sklavin des Geldes. Nach ihrem Tod wird sie das nicht mehr brauchen. Gott sei Dank, sie wird sich um Geld keine Sorgen mehr machen müssen.“

Der Friedhofswächter runzelt die Stirn und sieht konfus und fassungslos wie sie immer weiter diese Papierseiten verbrennt. Nachdem er lange zugesehen hat, sagt er bestürzt:

„Fräulein Sybil, haben Sie heute gar keine Blumen mitgebracht?“

Ein Satz, der Sybil wieder erinnert. Sie sieht zum Friedhofswärter.

„Sie haben doch neulich gesagt, dass es am Fuße des Berges viel Löwenzahn gibt?“

„Ja!“

Sybil nimmt einige Geldscheine aus der Tasche, legt sie in seine Hand und sagt:

„Alter Lao, kannst du mir helfen welche herbeizuschaffen? Je mehr Löwenzahn, desto besser! Nimm so viele du nur bekommen kannst! Nimm einen großen Korb mit!“

Der Friedhofswärter steckt das Geld wie aus Versehen ein und denkt, dass alle Mädchen komisch sind. Er sagt kein Wort, dreht sich um, nimmt den großen Korb zum Jäten und humpelt den Berg hinunter.
Sybil verbrennt die Seiten der Tagebücher weiter. Nachdem der erste Band verbrannt ist, verbrennt sie den zweiten, nach dem zweiten verbrennt sie den dritten Band. Es ist eine langwierige und mühsame Arbeit. Sie kniet und ihre Knie tun weh, darum setzt sie sich mit übereinander geschlagenen Beinen auf den Boden und verbrennt weiter Tagebücher. Der Friedhofwärter kommt mit einem ganzen Korb voller Löwenzahn zurück. Sybil bittet ihn, den Korb beiseite zu stellen. Sie ist immer noch in ihre Arbeit versunken. Der Alte Lao schaut eine Weile zu. Je länger er da steht, desto langweiliger wird ihm. Er murmelt etwas und geht weg.

Sybil hat morgens begonnen und mittags hat sie endlich alle fünf Tagebücher verbrannt. Ganz zum Schluss hält sie die letzte Seite in der Hand und will sie gerade in die Flammen legen. Da hält sie plötzlich inne, weil ihr ein Gedanke durch den Kopf geschossen ist. Sie hat Amandas Niederschriften von fünf Jahren verbrannt, aber diese Seite war weder im ersten Buch noch im letzten Buch. Es ist weder die erste Seite dieses Buches, noch die letzte Seite irgendeines anderen Buches. Dies ist nur eine zufällig übrig gebliebene Seite unter Tausenden von Seiten.

Sie hält das Stück Papier in der Hand und denkt lange nach. Dann breitet sie das Papier flach auf ihrem Schoß aus. Respektvoll, mit einer Art frommer Aufmerksamkeit, sitzt sie da und beginnt zu lesen:

’Heute habe ich wieder mit Arthur wegen diesem alten Problem gestritten. Ich habe mein Bestes versucht ihn die ganze Nacht zu quälen. Ich habe den „Gesichtstanz“ mit dem dicken Mann getanzt, den dünnen Mann aus Shun Chi habe ich geküsst und mit Ah Jin bin ich Essen gegangen. Jin hatte mich für die ganze Nacht gebucht.

Als ich bei Morgendämmerung in die Wohnung zurückkomme, sitzt Arthur, und woher soll ich das wissen, in meiner Wohnung und wartet auf mich. Er sagt kein Wort zu mir, sein Gesicht ist leichenblass. Mit diesen hageren Augen sieht er mich so regungslos an, dass mein Herz bricht. Also bin ich vor ihm niedergekniet und habe ihm weinend gesagt:

’Vergib mir! Es gibt so viele Frauen auf der Welt. Tausende und Abertausende von Frauen die besser sind als ich, Warum machst du dir die Mühe, mich immer besser kennen zu lernen? Weißt du nicht, dass ich nicht mehr die bin, die ich einmal war? Ich bin eine verblühte Blume. Was für eine Bedeutung habe ich noch für dich?’

Er hat meinen Kopf in seine Arme gelegt, aber immer noch nichts gesagt. Danach kniete er auch nieder und hat meine Augen, meine Nase, meine Lippen geküsst. Er hat mich so verwirrt, so ratlos, so traurig gemacht. Da habe ich ihm Tausende von Küssen gegeben. Danach hat er gesagt: Du kannst alle haben und wählst mich!“ Ich habe ihn angeschaut und mein Herz ist wieder gebrochen. Mein Wille ist wie fliegender Staub, er fliegt in alle Richtungen, ich kann ihn nicht zusammenhalten. Ich habe gebrüllt:
„Gott hat Mitleid mit mir. Ich bitte ihn für dich, mich neu und rein zu machen! Mich in tausend Mal sauberer Art, rein, rot und unverdorben noch einmal zu erschaffen! Lass mich dir lebenslang dienen, lass mich deine Sklavin sein! Wenn es dann ein zweites Ich! auf der Welt gibt, dann, Arthur, Arthur“, ich war plötzlich aufgeregt und habe weiter geschrien; „Vielleicht gibt es mich noch einmal auf der Welt! Hübscher als ich, talentierter als ich, jünger als ich, süßer und liebevoller als ich... Ich nenne sie Kleiner Jasmin! Arthur, bist du bereit nach England zu gehen?“

Er hat mich grob weggestoßen und ist beim Morgentau des Sonnenaufgangs allein fortgegangen. Ich habe vom Fenster aus seinem dünnen langen einsamen Schatten nachgeschaut. Ich bin am Fenster niedergekniet und dabei war ich nie fromm. Ich habe meine Hände gefaltet, zum Himmel gesehen und aufrichtig gefleht: Gott, erbarme dich seiner und schenke ihm eine neue Liebe, mein zweites Ich. Dann werde ich sterben und zufrieden hinunterschauen.’ “

Die Seite endet hier. Irgendwie spürt Sybil plötzlich die Mittagssonne und hält nachdenklich inne. Ein Schauder läuft über ihren Rücken. Sie hat Tausende von Papierseiten verbrannt, sollte sie diese hier liegen lassen? Sie hat das Gefühl, dass ihr Rücken kalt ist, die Zungenspitze kalt ist, die Kehle eng ist, das Herz wund ist ... Sie hält das Papier in der Hand und kann nicht anders und muss heftig zittern. Sie hat beschlossen alle Tagebücher zu verbrennen, warum nur hat sie diese Seite gelesen? Ihr Kopf ist schwindelig und auch ihre Augen scheinen schwindelig zu sein. Sie schaut auf den Grabstein von Amanda, diesen einfachen, so sauberen Grabstein. Sie starrt den Grabstein an, als könnte sie nicht bis vier zählen, so starrt sie diesen Grabstein an. Ihr ist, als hörte sie einen schwachen Gesang, verschwommen, von weit her singt es wie der Schlag eines Herzens:

„Alle Lichter ein Lied
Der Mond nur schmal im Dunst Die kalte Nacht rechnet alles ab

Träume zurück in kleine Gebilde, sie flüstern zart Sich treffen und feiern, keiner allein, das kann Liebe!“

Sie ist schockiert! Der Gesang ist ihr so vertraut! Wo hat sie den denn früher schon einmal gehört! Ja, in einer Nacht hat sie von Amanda geträumt und Amanda hat genau dieses Lied gesungen. Und jetzt, ist das wieder Amanda, die da singt? Nein, nein! Sie sieht den Grabstein an, der steht da in tiefer Ruhe. Dieses Lied kommt von ihr selbst. Das kommt tief aus ihrem Herzen, das singt ihr Herz lautlos. Unbewusst wiederholt sie Amandas Gesang.

Aber ---- Sie springt hoch. Sie erinnert sich an die letzten beiden Zeilen, die im Originaltext so lauten:

Träume zurück in kleine Gebäude, Verstreutes hastig sammeln, Hass treffen, Hass zerstreuen, Hassliebe!“

Und jetzt habe ich es selber geändert in:

Träumen zurück in kleine Gebilde, sie flüstern zart Sich treffen und feiern, keiner allein, das kann Liebe!“

Was bedeutet das? Was ist das für eine seelische Befindlichkeit? Ratlos und erschrocken versucht sie ihre Gefühle zu analysieren. Schließlich hört sie in ihrem Herzen eine kleine Stimme, die schreit: „Geh nicht zurück nach England! Geh nicht zurück nach England! Geh nicht zurück nach England!“ Gefolgt von einer lauten Stimme, die schreit: „Ich will ihn nicht verlassen! Ich will ihn nicht verlassen! Ich will ihn nicht verlassen!“ Dann verschmelzen diese leisen und lauten Stimmen zu einer riesigen Welle, die wie ein überwältigender Berg über sie hinwegspült bis alles schließlich zu einem einzigen Wort wird:

„Arthur! Arthur! Arthur!“

Sie springt auf! Erst jetzt merkt sie, dass sie immer noch dieses Blatt Papier in der Hand hält und dass alles verbrannte Papier vor dem Grab zu Asche geworden ist. Das kurze Nachdenken hat eine helle Fackel entzündet und alles Vorhergehende verbrannt. Dann bückt sie sich, hebt den Löwenzahn auf. Sie fängt langsam an und bedeckt nach und nach das ganze Grab mit den gelben Blumen. Schließlich hat sie die letzte Blume gepflanzt. Eine Weile steht sie still vor dem Grab. Ihre Gedanken kreisen unbestimmt um das Flugticket, England und Arthur.

Arthur! Der Name pocht in ihrem Herzen und in ihrem Willen. Sie kann nicht anders, deutlich erinnert sie sich an Arthurs Worte gestern Nacht bevor er gegangen ist.

„... Jetzt hasse ich sie! Ich hasse sie, weil sie mich gezwungen hat diese Geschichte zu erzählen. Ich hasse sie, weil sie mich betrogen hat, mit mir gespielt hat, mir auswendig gelernte Texte aufgesagt hat, und mich ausgetrickst hat. Ich hasse sie, weil sie meinen Kleinen Bruder an der Nase herumgeführt hat. Ich hasse sie, weil sie so schlau ist. Nein Viert- Geborener, ich liebe sie nicht, ich hasse sie!“

Ihr ist kalt, sie ist geschockt bis auf die Haut. Sie ist traurig, senkt den Kopf in Not und spricht mit sich selbst:

„Nein, Große Schwester, ich habe alles vermasselt. Es ist nicht so, dass ich mich weigere hier zu bleiben, aber er will mich nicht mehr! Ich hätte ihn beinahe bekommen, aber ich habe ihn wieder verloren.“

Sie schüttelt den Kopf. Sie kann nicht bleiben. Sie muss zum Flughafen und die Formalitäten erledigen. Ihr Blick ruht noch einmal und lange auf dem Grab. Dann dreht sie sich entschlossen um und entfernt sich mit großen Schritten.

Danach trinkt sie eine Tasse Kaffee im „Herz-Café“ und isst ein Sandwich. Erst dann merkt sie, dass sie bereits zwei Tage und zwei Nächte nichts mehr gegessen hat und ihr wird klar, dass sie so schwach war, dass sie jederzeit hätte ohnmächtig werden können. Während sie noch im „Herz-Café“ sitzt, erinnert sie sich plötzlich daran, wie Arthur sie einmal hier gefunden hat. Könnte sich diese Geschichte wiederholen? Danach hat sie das vage Gefühl, dass jeder männliche Gast, der hereinkommt, Arthur sein könnte. Aber bei genauerem Hinschauen sieht sie, dass es Arthur nicht ist!

Die Enttäuschung und Magenkrämpfe machen ihr Bauchschmerzen und die Zeit ins Flugzeug zu steigen rückt näher und näher. Sie kann hier nicht sitzen bleiben und auf ein unerklärliches Wunder warten! Warten? Plötzlich schießt ihr eine verrückte Idee durch den Kopf. Warum sollte sie warten? Alles, was sie braucht, ist, ihren Stolz, ihr Selbstwertgefühl, ihre Zurückhaltung zu überwinden ... Sie braucht nur ein Telefon, muss aktiv die Nummer wählen und nur sieben Wörter sagen:

„Bitte mich doch bitte hier zu bleiben!“

Wenn ... wenn ... wenn... Was ist, wenn er sie nicht hier behalten möchte? Gibt sie sich damit selbst auf? Aber ...aber ... aber, einen Versuch ist es doch auf jeden Fall wert! Der Gedanke beginnt sie wie eine Flamme zu verbrennen. Sie kann sich nicht mehr zurückhalten. Stolz, Selbstachtung, Eitelkeit und Zurückhaltung ... all das hat sich aufgelöst. Mit großer Selbstüberwindung geht sie zum Telefon. Während sie wählt, zittern ihre Finger. Sie lauscht auf das Klingeln am anderen Ende der Leitung. Sie hält den Hörer und am ganzen Körper bricht kalter Schweiß aus. Arthur! Arthur! Arthur! Wenn du mitfühlend bist, wenn du nicht mehr wütend bist, wenn du...

Am anderen Ende wird abgenommen. Eine junge weibliche Stimme antwortet:

„Hallo! Julia Holt spricht. Wen möchten sie sprechen?“
„Ist Arthur da?“ Ihre Stimme zittert so sehr, dass Julia Holt sie kaum verstehen kann.
„Oh, Herr Wang ist heute nicht zur Arbeit gekommen. Er wird vermutlich zu Hause sein. Um was geht es denn? Möchten sie eine Nachricht hinterlassen?“

„Oh!“ Vor Enttäuschung wird ihr ganz schwindelig. „Nein, das ist nicht nötig!“

Sie hält das Telefon in der Hand. Ihr fällt seine andere Nummer ein. Seine Nummer zu Hause! Diese Nummer wählt sie jetzt. Sie hält den Hörer und hört das Klingeln am anderen Ende. „Ding Ling Ling...Ding Ling Ling...“. In ihrem Herzen beginnt es wild zu schreien: „Arthur, nimm den Hörer ab! Arthur, nimm den Hörer ab! Arthur, Arthur, bitte geh ans Telefon!“ Es hat mehr als ein Dutzend Mal geläutet, aber niemand nimmt ab.

Ihr Herz wird kalt und Verzweiflung überwältigt sie vollständig. Sie hält den Hörer in der Hand und denkt plötzlich nach. Sie will Arthur anrufen, aber was soll sie zu ihm sagen? Nur „Es tut mir leid?“ Durch sie hat er viel Leid erfahren, aber können diese vier Worte den Schmerz lösen? Vergiss es! Das bringt nichts! Sie denkt wieder an ihre chaotische Wohnung für die sie schon im Voraus eine Jahr Miete gezahlt hat. Sie sollte den Vermieter anrufen und ihm sagen, dass ihre Kleidung dem Hospiz gespendet werden kann. Aber das kann sie auch lassen. Sie kann ihm aus London einen Brief schreiben und ihm alles erklären! Es ist nicht mehr früh, sie hat jetzt keine Zeit mehr für irgendwelche Sorgen.

Endlich ist sie am Flughafen angekommen. Sie hätte nie gedacht, dass am Flughafen so viele Menschen sein würden. Leute, die abholen und Leute, die andere nur zum Flughafen begleiten. Wohin man sieht, Menschen, Menschen, Menschen. Überall Lichter und Schlangen. Im Abflugbereich wird geweint und im Bereich der Ankunft wird gelacht. Vor mehr als

einem halben Jahr ist sie hier mutterseelenallein angekommen. Jetzt, nach einem halben Jahr, fliegt sie genauso allein wieder ab. Bei der Ankunft hat sie keiner freudig begrüßt, bei ihrer Abfahrt begleitet sie niemand traurig. Sie ist so unglücklich, so unglücklich, dass sie fast gar nichts mehr fühlt. Tag für Tag zu viele Unfälle, alles das macht sie wirr im Kopf. Ganz zu schweigen von diesen vielen Menschen hier im Flughafen und der schlechten Luft. Sie hat das Gefühl, dass sie keine Luft mehr kriegt.

Schließlich hat sie sich durch das Meer von Menschen gedrängt und ist am Eincheck-Schalter angekommen. Sie öffnet die Handtasche und holt den Pass, das Ticket und das gelbe Buch heraus, um den Eincheck-Vorgang zu starten. Sie legt einfach alles auf die Theke. Plötzlich legt sich ein Arm über den Tresen und stoppt den Vorgang. Sie erschrickt, hebt den Kopf und ihr Blick fällt auf den jugendlichen, vor Lebenskraft strotzenden Robert! Ihr Herz schlägt wild. Der kleine Bruder ist gekommen und was ist mit dem großen Bruder? Sie lässt ihren Blick in alle Richtungen schweifen. Menschen, so weit das Auge reicht, aber kein Arthur. Robert starrt sie an, seine Augen strahlen.“

„Willst du einfach so gehen?“ fragt Robert. „Ohne einen Ton zu sagen? Ist das nicht ein bisschen zu unpersönlich?“

„Das tut mir leid“, sie denkt immer noch an diese vier Wörter. Bei aller Hast hat sie immer wieder an diese vier Wörter gedacht. „Dir gegenüber tut mir alles sehr. sehr leid“, sagt sie.

Robert zieht die Augenbrauen hoch und zuckt mir den Achseln und bekommt plötzlich einen sehr merkwürdigen Ausdruck. Er nimmt die Papiere vom Tresen und fragt:„Wann geht dein Flug?“

„Um vier Uhr.“

„Jetzt ist es erst Viertel nach Zwei, du hast noch Zeit“, sagt er: „Wir können noch zehn Minuten im Café sitzen. Ich lade dich zu einer Tasse Kaffee ein. Zumindest können wir noch eine Weile entspannt zusammen sein. Bevor du fährst, würde ich gern noch einige Worte mit dir wechseln!“

Sie kann nicht anders, als mit ihm in den zweiten Stock zu gehen. Wenn sie im Restaurant angekommen sind, nimmt sie sich vor zu fragen: „Geht es deinem Großen Bruder gut?“ Aber sie fragt das nicht. Da er nicht gekommen ist, ist doch alles offensichtlich: er hasst sie! Sie ist erfüllt von ihrem Selbsthass. Die Geschichte der Menschheit ist so kompliziert. So unvorhersehbar!

Sie setzen sich in eine Ecke, in der sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Geistesabwesend spielt sie mit ihrem Pass und ihrem Ticket. Sie hat die vage Vorstellung, dass Robert vielleicht alles falsch verstanden haben könnte. Ein Kind, das von ihr gehänselt worden ist, hat das Recht sie zu beleidigen, bevor sie geht. Sie ist so deprimiert, so entmutigt, so verzweifelt ... Sie ist bereit, alle Schläge zu akzeptieren, sich nicht zu wehren.

Zwei Tassen Kaffee werden bestellt und endlich, endlich öffnet Robert den Mund: „Wie soll ich dich anreden? Fräulein Sybil oder Flora?“

Schon geht es los, denkt sie. Sie schweigt und sieht mit verhangenem Blick auf die Kaffeetasse. Geduld im Blick und bereit, unterwürfig weitere Schläge hinzunehmen.

„Gut!“ Robert atmet tief ein: „OK! Ich nenne dich gar nichts. Ich hoffe, dass es in Zukunft für mich eine vernünftige Anrede geben wird, um dich anzusprechen!“ Er trinkt einen Schluck Kaffee. „Dein Flugzeug fliegt bald. Wir haben nicht mehr viel Zeit, um miteinander zu reden. Wir haben nur noch wenig Zeit. Lass mich dir sagen, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie so böse an der Nase herumgeführt worden bin. Ich hoffe wirklich, dass du nicht weggehst, damit ich eine Chance habe, mich an dir zu rächen. Ich habe mir schon einige Hundert Möglichkeiten mich zu rächen ausgedacht, aber alle sind noch unzureichend. Also habe ich darüber nachgedacht, dass du mir etwas schuldest. Ich kann dich also nicht einfach so gehen lassen!“

Einsam, hilflos und verwirrt sieht sie ihn ergeben an.
„Dann sag mir, wie kann ich diese Schuld wieder gut machen?“

„Du hast dich einmal für mich zu Flora verwandelt. Woher wusstest du, dass ich diesen Typ mag? Da du meine Bedürfnisse und Wünsche so gut kennst, bist du verpflichtet, mir zu helfen eine echte Flora im wirklichen Leben zu finden.“

„Das verstehe ich nicht“, sagt sie schläfrig. „Das verstehst du nicht?“ Er zieht die Augenbrauen hoch und schreit unhöflich:

„Jede Schwiegerschwester ist verpflichtet den Brüdern des Ehemannes bei der Suche nach einer Freundin zu helfen! Und besonders du!“

Ihre Augen weiten sich, ihr Gesicht wird blass, ihr Atem geht schnell und kurz, sie ist fassungslos und sagt stotternd: „Was ... was...was hast du gesagt?“

Robert holt plötzlich unter dem Tisch einen Gegenstand hervor, schiebt ihn vor sich und sagt:

„Wir haben einen Schlüsseldienst gefunden, der deine Wohnung aufgebrochen hat. Du scheinst vergessen zu haben einen Gegenstand mitzunehmen. Ich habe ihn dir mitgebracht.“

Es ist das Paar Wildgänse aus Kristall. Die Gänsefrau liegt gemütlich im Nest. Der Gänserich hilft ihr liebevoll beim Bürsten ihrer Federn. Das Gänsepaar kuschelt liebevoll in seinem Nest. Sybils Augen werden plötzlich feucht, Tränen lassen ihre Sicht verschwimmen. Sie betrachtetdas Wildgänsepaar nur einen Moment durch den Nebel der Tränen und fühlt, wie sich ihr sofort die Kehle zusammenschnürt. Sie kann nicht atmen, sie kann nicht denken und auch nichts sagen. Sie streichelt die Gänse mit beiden Händen. Tränen kullern über ihr Gesicht, sie kann kein Taschentuch finden und wischt sich die Tränen mit den Ärmeln ab. Da reicht ihr ihr Gegenüber ein großes sauberes Taschentuch und sagt leise: „Wisch deine Tränen weg und weine nicht mehr! Du hast in den letzten Tagen zu viel Tränen vergossen! Ab jetzt sollst du lachen anstatt weinen!“

Wer spricht da? Robert? Das ist doch nicht Roberts Stimme! Sie hebt schnell den Kopf. Der ihr gegenüber sitzt, wer hat gesagt, dass das Robert ist? Das ist Arthur! Keine Ahnung, wann Robert gegangen ist, hier ist Arthur! Unzählige Male hat sie es gedacht, gelesen, gehofft -- sich diesen Moment mit Arthur vorgestellt. Wunder geschehen doch! Sie blinzelt mit den Wimpern, öffnet den Mund, will sprechen, aber kein Wort kommt heraus, sie fühlt nur, wie aus ihren Augen wie verrückt Tränen schießen, wie wahnsinnig über ihre Wangen laufen. Sie hält das Taschentuch in der Hand, aber ihre Hand zittert so stark, dass sie vergisst sich ihre Tränen auch abzuwischen. Sie sieht ihn nur durch ihre Tränen an, misstrauisch, ekstatisch, lachend und weinend zur gleichen Zeit. Er sieht sie lange an. Seine Ruhe an der Oberfläche kann die Aufregung in der Stimme aber nicht verbergen:

„Ich habe den ganzen Morgen versucht dich zu finden. Heute früh morgens sind Robert und ich vor deiner Wohnung gewesen, aber keiner hat aufgemacht. Da haben wir einen Schlosser geholt. Er hat die Tür geöffnet. Wir sind hinein gegangen und haben festgestellt, dass du nichts mitgenommen hattest, nur dein Flugticket und deinen Reisepass konnten wir nicht finden. Mir erstarrte das Blut in den Adern. Wir sind zum Flughafen gerast und haben die Listen aller Flüge nach England überprüft. Dein Name war nicht darauf. Am Mittag bin ich dann am Grab von Amanda gewesen und habe die Überreste von Amandas Tagbüchern und das Grab voller Löwenzahnblüten gesehen. Da bin ich ins Herz-Café gestürzt. Die Chefin hat mir gesagt, dass du gerade gegangen seist. Da bin ich gleich zum Flughafen gefahren. Glücklicherweise hatte ich dafür gesorgt, dass Robert am Flughafen geblieben ist, um zu verhindern, dass du uns entwischst. Seine Augen sehen direkt in ihre Augen, seine Stimme wird weich und sanft, voll tiefer Zärtlichkeit: „Willst du wirklich gehen? Widerstrebt es dir nicht zu gehen? Bist du wirklich entschlossen zu gehen? Kann es sein, dass es hier nichts gibt, das dich hier hält?“

Sie kann nicht antworten. Tränen blockieren alles, blenden alles aus. Sie wischt sich mit dem großen Taschentuch die Augen, putzt die Nase und hat das Gefühl, sie würde sich gleich in Tränen auflösen. Dann überreicht er ihr plötzlich eine Karte, die so gefaltet ist, wie eine Speisekarte auf dem Esstisch. Sie denkt, er will, dass sie etwas isst und schüttelt den Kopf und muss schon wieder weinen. Er schiebt die Karte näher zu ihr und plötzlich realisiert sie, dass das eine weiße Karte ist auf der etwas mit einem Unterschriftenstift kursiv gemalt ist. Eine Wildgans, die am Himmel fliegt. Von dieser Gans kommt eine Leine herunter. Eine andere Gans steht unten im Nest und zieht diese Leine mit ihrem Mund herunter. Neben dieses Bild hat er in Drachenschrift geschrieben:

„Frag die Wildgans, warum wanderst du? Frag die Wildgans, warum fliegst du? Frag die Wildgans, möchtest du bleiben? Frag die Wildgans, möchtest du ein Paar sein?

Ich will Zärtlichkeit verwenden,
um dir eine Palastmauer der Liebe zu bauen,

 

aber ich habe Angst vor diesem kleinen Nest, weil es nicht dein Paradies sein könnte!

Ich will an deiner Seite sein,
um dich zu beschützen vor Regen und Wind,
ich fürchte, du wirst wegfliegen
und die Einsamkeit wird mich wie verrückt auslachen!“

Sie nimmt die Karte hoch, überschäumende Fröhlichkeit erfüllt sie, aber doch noch mehr Tränen. Immer wieder liest sie die Zeile, immer wieder schaut sie auf die Skizze. Irgendwie will sie nur noch weinen. Tränen fließen wie aus einer Quelle. Er streckt die Hand aus und nimmt ihre Hand.

„Wie?“ sagt er, „seine Stimme ist heiser und er hat einen Kloß im Hals.
„Sagst du nichts? Gibt es nichts, was du mir sagen möchtest?“
„Ich ...Ich...“ Sie schluckt: „ Ich möchte etwas sagen, aber ich wage es nicht zu sagen,“ „Warum?“
„Ich ... Ich ... habe Angst, weil du denken könntest ... es ist ein Bühnentext!
„Sag’ es!“ ermutigt er sie. „Ich bin bereit das Risiko einzugehen!“
„Ich ... Ich ...“ flüstert sie, „ Ich liebe dich!“

Er drückt ihre Hand, dass es ihr weh tut. Der Lautsprecher wiederholt und wiederholt immer wieder denselben Text: China Airlines Flug Nummer xyz steht kurz vor dem Start. Reisende, die die Ausreiseformalitäten noch nicht erledigt haben, begeben sich bitte umgehend zum Abflugschalter!“

Sie sieht ihn an und zieht einen verspäteten Schluchzer die Nase hoch. Dann sagt sie: „Das ist mein Flug.“

Er hebt das Flugticket vom Tisch auf. Sein Blick bleibt ununterbrochen auf ihr Gesicht geheftet, während er ganz langsam das Flugticket in kleine Stücke zerreißt. Er nimmt sein Feuerzeug, zündet die Papierfetzen an und legt sie in den Aschenbecher.

Die Wildgänse aus Kristallglas auf dem Tisch reflektieren den Schein des Feuers. Unzählige wunderschöne glitzernde Lichter funkeln im Feuer der Flammen.

 

 

 

 

ISBN 7 -5354 – 2838 –X
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www.cjlap.com
E-mail: cjlap@public.wh.hb.en

Ende eines ganzen Buches Mai 1977