Kapitel 18

 

Versuch, nicht zu urteilen

 

 

Alle sitzen schweigend über ihren Kaffeebechern und man merkt deutlich, dass alle nachdenken, durchdenken, einordnen, abschätzen. Isabels Wunsch, nicht mehr zu urteilen, hat ein größeres Echo in den anderen gefunden als allen klar ist. Aber um welche Ecke sollen sie denken? Ihre inneren Ordnungssysteme sind eindeutig auf Gemeinschaft förderndes Verhalten ausgerichtet. Seit dem Kindergarten haben sie in sich aufgesogen, dass man abgibt und mithilft, dass man Einsatz tatkräftig oder finanziell so ausgleicht, dass eine Balance entsteht. Ja, allen ist einleuchtend, dass alle Menschen gleich sind, wenn sich alle gleich viel Mühe geben, aber wenn einer nur alle Viere von sich streckt und ohne Ende von den anderen profitiert? Das haben alle in sich bekämpft und nun steht das so provokativ vor ihnen. Wie soll man da nicht urteilen? Steht man selbst nicht da wie ein Depp, der sich am Nasenring hat über die Weide treiben lässt, während die Yvonnes dieser Welt gegrast und geruht haben, wo es ihnen gefiel? Humbertus ist besonders betroffen und sagt leise zu Isabel gewandt:

 

> Und jetzt? Wie geht es jetzt weiter? Wir haben kein Urteil ausgesprochen, aber ist unser Lamentieren darüber, dass sie anders ist als wir, anders, als wir sie uns wünschen, anders, als wir sie auf Dauer akzeptieren können unsere ganze Reaktion? Ich sitze hier, als hätte ich keine Hände mehr. Hinnehmen, das ist das Letzte, was in meiner Agenda unter lebenswert vermerkt ist. <

 

Isabel überlegt noch, will zu einer Antwort ansetzen und da sagt Joseph plötzlich lebhaft:

 

> Und was wäre, wenn der Kontext, in dem wir denken, einfach falsch ist? Oder nein, ich nehme das Urteil falsch zurück und ersetze es mit 'überholt ist?' Bisher musste jeder Einzelne, sollte jeder Einzelne alle Anforderungen erfüllen. <

 

> Und was ist die Alternative zu jedem Einzelnen? < Mercedes lässt nach der Frage den Mund offen. Sie will eine Antwort. Josef nickt:

 

> Vielleicht kommt nun, nach dem Ich, nach dem Individualismus das Wir. <

 

> Das Wir? < ruft Mercedes kämpferisch in den Raum.

 

> Ja, < Isabel scheint aufzuwachen. > Ja, beispielsweise könnte man unsere Gemeinschaft doch als einen Körper begreifen. Wir könnten uns als Gemeinschaft so lieb haben, wie jeder Einzelne sich auch, nämlich: bedingungslos. <

 

> Und was verstehst du unter bedingungsloser Liebe? < Anna sieht Isabel fragend an.

 

> Für diese Liebe muss man keine Bedingungen erfüllen. Auch wenn ich etwas Blödes gemacht habe, bleibt meine tiefe Zuneigung und Liebe zu mir erhalten. Ich verzeihe mir alles und das heißt nicht, dass ich nicht an mir arbeite und versuche, nicht so angenehme Verhaltensweisen zu verändern. <

 

Mercedes lacht gutmütig, streckt ihre Hand aus und klopft liebevoll bestätigend auf Isabels Unterarm

 

> Stimmt, das habe ich auch schon gemerkt. Good for you! <

 

Isabel fährt fort: > Wenn das nun auch für Gemeinschaften, soziale Körper stimmt, dann könnten wir doch sicher ein Mitglied wie Yvonne verkraften. Es sei denn, die Gefahr ist zu groß, dass wir uns alle demnächst wie sie verhalten. <

 

> Das könnte ich gar nicht. <

 

> Ich habe Ihre Unangestrengtheit auch manchmal bewundert. <

 

> Wie kann denn das angehen, dass sie so unangefochten von unseren Selbstanforderungen ist. <

 

Alle reden durcheinander, hören aber gleich auf, als Isabel fragt:

 

> Also, Yvonne ist anders, wollen wir ihr dieses Anderssein nicht nur ermöglichen, sondern uns darüber freuen, dass sie anders ist. Sie also nicht nur aushalten, sondern aktiv akzeptieren? Das nennt man in der spirituellen Literatur übrigens die Christusliebe, die liebt ohne zu urteilen und zwar Alles-was-ist. Die Grundhaltung ist Respekt vor jedem Lebensentwurf, ganz gleich wie unterschiedlich er zum eigenen ist. Das soll ganz viel Liebe ins eigene Herz zurück transportieren, weil man immer weiter und annehmender wird - auch sich selbst gegenüber. <

 

> Amen! < sagt Mercedes laut und rau und sehr freundlich. > Ich finde das Konzept interessant. Ich sage: lasst es uns versuchen. <

 

Allgemeines Zustimmungsgemurmel. Nur Humbertus sagt leise:

 

> Mir fehlen immer noch Hände. Ich weiß nicht, wie ich das finde. <

 

Joseph steht auf und sagt mit unverbrauchtem Enthusiasmus:

 

> Ich schlage vor, dass Anna Yvonnes Zimmer bekommt und Jacques und Yvonne mir gegenüber in Annas Zimmer ziehen. Wie findet ihr das? <

 

Humbertus sieht schlagartig erleichtert aus:

 

> Das ist eine gute Idee. Ich finde, dass doch irgendetwas folgen musste, sonst kann sie ja mit uns spielen, wie sie will. <

 

Isabel lacht und sagt:

 

> Eigentlich soll ja das Ziel dieses neuen liebevollen Wir-Gefühls sein, dass man vor allem möchte, dass der andere glücklich und froh ist. Aber da muss man wohl erst einmal üben. <

 

Joseph geht beherzt in Richtung der Tür, durch die Yvonne mit Jacques verschwunden ist.

 

Richard fragt vorsichtig nach weiteren Kaffeewünschen, schildert dann aber Suppe und Gemüseplatte, die für den Abend geplant sind. Nein, keiner möchte noch Kaffee und länger dort sitzen. Und als Joseph mit Yvonne und Jacques quer durch die Tenne auf die andere Seite läuft, ist der große Raum leer.